Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IB 269



104 Ib 269

43. Urteil des Kassationshofes vom 4. September 1978 i.S. G. gegen
Jugendamt des Kantons Zürich Regeste

    Jugendstrafrecht. Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1 StGB lässt die Rückversetzung
in eine Anstalt zu, wenn der bedingt Entlassene während der Probezeit
strafbare Taten begeht.

Sachverhalt

    A.- G. war am 27. April 1977 bedingt aus dem Erziehungsheim entlassen
worden, in welches ihn das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom
21. Juni 1976 in Anwendung von Art. 91 Ziff. 2 StGB eingewiesen hatte.
Wegen Ende Juni/ anfangs Juli 1977 verübter Delikte verurteilte ihn das
Bezirksgericht Bülach am 1. November 1977 zu zwölf Monaten Gefängnis.

    B.- Die Jugendanwaltschaft des Bezirkes Zürich ordnete mit Verfügung
vom 29. Dezember 1977 die Rückversetzung des G. in das Erziehungsheim
gemäss Art. 94 Ziff. 2 StGB an.

    Den gegen diese Verfügung geführten Rekurs des G. wies die
Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich am 23. Mai 1978 ab.

    C.- G. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
die Verfügungen der Jugendanwaltschaft des Bezirkes Zürich und der
Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich seien aufzuheben. Er ersucht
ferner um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.

    Die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und das Eidgenössische
Justiz- und Polizeidepartement schliessen in ihren Vernehmlassungen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist gemäss Art. 98 lit.  g OG nur
gegen Verfügungen letzter Instanzen der Kantone zulässig. Letzte kantonale
Instanz ist die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Soweit der
Beschwerdeführer die Aufhebung auch der Verfügung der Jugendanwaltschaft
des Bezirkes Zürich verlangt, ist auf sein Begehren nicht einzutreten.

    Da zur Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf Eingaben an
die Vorinstanz verwiesen werden darf (BGE 101 Ib 15 E. 1), schadet dem
Beschwerdeführer der Hinweis auf die in der Rekursschrift umfassender
als in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgetragene Argumentation nicht.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, die Rückversetzung in die
Erziehungsmassnahme gemäss Art. 94 Ziff. 2 StGB sei ausgeschlossen,
wenn der bedingt Entlassene während der ihm bestimmten Probezeit
erneut strafbare Handlungen begehe. Alle übrigen, die Rechtsfolgen bei
Nichtbewährung innerhalb der Probezeit normierenden Bestimmungen des StGB
erwähnten neben jener, dass der bedingt Entlassene oder Verurteilte trotz
förmlicher Mahnung einer ihm erteilten Weisung zuwiderhandle oder das auf
ihn gesetzte Vertrauen in anderer Weise täusche, ausdrücklich auch die
erneute Delinquenz als alternative Voraussetzung zur Rückversetzung
oder zum Widerruf. Wenn Art. 94 Ziff. 2 StGB demgegenüber als
Rückversetzungsgründe einzig die Widerhandlung gegen eine Weisung oder den
Missbrauch der Freiheit in anderer Weise nenne, so sei ein qualifiziertes
Schweigen des Gesetzes anzunehmen. Während die sich beim Zusammentreffen
mit Strafen oder Massnahmen unter sich ergebenden Vollzugsfragen bei
allen andern freiheitsentziehenden Massnahmen geordnet seien, fehle eine
solche Regelung bei der Einweisung in ein Erziehungsheim. Das zwinge
zum Schluss, dass eine Massnahme nach Art. 91 ff. StGB mit einer anderen
Massnahme oder einer Strafe von Gesetzes wegen nicht in Konkurrenz treten
könne. Die Rückversetzung des aus dem Erziehungsheim bedingt Entlassenen
wegen erneuter Straffälligkeit erscheine zudem regelmässig als sinnlos,
da der Richter, der über die neuen Straftaten zu urteilen habe, selber
die angemessene Sanktion anordne; sei der Jugendliche oder nunmehr bereits
junge Erwachsene nicht mehr massnahmebedürftig, so strafe er diesen; ordne
er eine Erziehungsmassnahme gemäss Art. 91 ff. StGB oder die Einweisung in
eine Arbeitserziehungsanstalt an, so sei dadurch der Massnahmebedürftigkeit
Genüge getan. Eine Rückversetzung in die Erziehungsmassnahme widerspreche
bei erneuter Delinquenz schliesslich dem streng monistischen System wie
auch der Zielsetzung des Jugendstrafrechtes, das ganz auf Spezialprävention
ausgerichtet sei; denn sie habe regelmässig Sühnecharakter oder verfolge
generalpräventive Ziele, zumal für die neuen Straftaten die angemessene
Rechtsfolge bereits als Strafe oder Massnahme angeordnet worden sei.

Erwägung 3

    3.- Es steht einzig in Frage, ob Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1 StGB die
Rückversetzung in eine Anstalt zulasse, wenn der bedingt Entlassene während
der Probezeit strafbare Taten begeht, oder ob dies nach dem Willen des
Gesetzes ausgeschlossen sei.

    Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1 StGB bestimmt, die vollziehende Behörde
könne den Entlassenen in eine Anstalt zurückversetzen, wenn er während
der Probezeit trotz förmlicher Mahnung der zuständigen Behörde einer
ihm erteilten Weisung zuwiderhandle oder in anderer Weise die Freiheit
missbrauche. Ob ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vorliegt,
die Begehung strafbarer Handlungen während der Probezeit demnach keinen
Missbrauch der Freiheit darstellen kann, wie der Beschwerdeführer meint,
hängt davon ab, was vernünftigerweise als Wille des Gesetzgebers angesehen
werden muss (BGE 68 IV 111).

    Die vergleichbaren Bestimmungen des Erwachsenenstrafrechtes
(Art. 38 Ziff. 4, 41 Ziff. 3, 45 Ziff. 3, 100ter Ziff. 1 StGB) nennen
im Unterschied zu Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1, aber auch Art. 95 Ziff. 5
Abs. 1 und 96 Ziff. 3 Abs. 1 StGB die Verübung einer vom Gesetz mit
Strafe bedrohten Tat ausdrücklich als Fall der Nichtbewährung und
damit als Rückversetzungs- oder Widerrufsgrund. Es fällt indessen auf,
dass der Gesetzgeber in diesen Bestimmungen die erneute Delinquenz
während der Probezeit ohne Ausnahme als einen Fall der Täuschung des
richterlichen Vertrauens betrachtet; aus der Wendung, "oder täuscht er
in anderer Weise das auf ihn gesetzte Vertrauen", als Rückversetzungs-
oder Widerrufsgrund der Verübung von Verbrechen oder Vergehen während
der Probezeit und weiteren Sachverhalten unmittelbar nachgestellt,
ergibt sich dies unmissverständlich. Weil im Erwachsenenstrafrecht die
neue Tatbegehung je nach der Schwere der Tat differenziert behandelt ist,
musste dieser Fall der Nichtbewährung besonders hervorgehoben werden. Da
nun der Missbrauch der Freiheit in anderer Weise (Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1
StGB) eine der Täuschung des richterlichen Vertrauens in anderer Weise
gleichwertige Generalklausel darstellt und gleichartige Gesetzesbegriffe
grundsätzlich nach einheitlicher Auslegung rufen, lässt sich Art. 94
Ziff. 2 Abs. 1 StGB zwanglos unterstellen, der Missbrauch der Freiheit
in anderer Weise als durch die Nichtbefolgung erteilter Weisungen trotz
förmlicher Mahnung umfasse auch die neuerliche Delinquenz während der
Probezeit. Das erscheint deshalb als geradezu angezeigt, weil Art. 94
Ziff. 1 StGB neben der Minimaldauer des Aufenthaltes in der Anstalt als
Voraussetzung für die bedingte Entlassung zudem die Annahme verlangt,
der Zweck der Massnahme sei erreicht. Wo der Massnahmezweck vor allem
dahin geht, die Verübung weiterer Straftaten zu verhindern (REHBERG,
ZStR 87, S. 230), kann sich diese Annahme nicht augenfälliger wie
dadurch als falsch erweisen, dass der bedingt Entlassene während der
Probezeit weitere strafbare Handlungen begeht. Die erneute Delinquenz
erscheint daher als der geradezu klassische Fall einer Nichtbewährung,
als unverkennbarer Nachweis dafür, dass der Zweck der Massnahme nicht
oder noch nicht erreicht, von der gebotenen Freiheit nicht der erwartete,
sondern ein verpönter Gebrauch gemacht, die Freiheit also missbraucht
worden ist. Dass gerade hiefür die Rückversetzung in die Anstalt von
Gesetzes wegen ausgeschlossen sein sollte, wo sie bereits bei blosser
Nichtbefolgung einer erteilten Weisung trotz förmlicher Mahnung oder
bei einem Missbrauch der Freiheit in jeder anderen Weise als durch die
Nichtbefolgung solcher Weisungen oder die erneute Delinquenz möglich
ist, erscheint als eine derart widersinnige Rechtsfolge, dass sie der
Gesetzgeber vernünftigerweise nicht hat wollen können. Im Zuge der zweiten
Revision des StGB wurde anlässlich der Beratung des Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1
analogen Art. 95 Ziff. 5 Abs. 1 StGB in der nationalrätlichen Kommission
denn auch bemerkt, der wichtigste Fall der Rückversetzung, nämlich
die Begehung einer neuen strafbaren Handlung, sei gar nicht erwähnt,
und der Vertreter des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes
wies darauf hin, die Deliktsverübung während der Probezeit stelle nichts
anderes als eine Täuschung des auf den Entlassenen gesetzten Vertrauens
dar, die zuständige Behörde verfüge neben der vom Richter verhängten
Strafe oder Massnahme die Rückversetzung in die Einschliessung, und
zwischen Strafen oder Massnahmen auftretende Kollisionen seien nach der
Kollisionspraxis des Bundesrates zu lösen. Dieser Auffassung wurde nicht
widersprochen, auch nicht von dem als Experte anwesenden Prof. Germann
(Protokoll der Nationalratskommission betreffend StGB-Revision,
5. Sitzung vom 15./16. Januar 1968, S. 182/183). Der Bundesrat als frühere
Aufsichtsbehörde in Straf- und Massnahmevollzugssachen hatte die Verübung
von Verbrechen oder Vergehen durch einen bedingt aus der Erziehungsanstalt
Entlassenen während der Probezeit stets als einen Missbrauch der Freiheit
betrachtet (BRE vom 7. Januar 1964 in Sachen Koller). Auch Art. 17
Ziff. 2 sowie Art. 44 Ziff. 4 StGB in seiner ursprünglichen Fassung
hatten die Begehung weiterer strafbarer Handlungen während der Probezeit
als Rückversetzungsgrund in die Anstalt nicht ausdrücklich erwähnt; der
Bundesrat nahm jedoch stets an, sie stelle einen solchen dar (VEB 31,
Nr. 86).

    Die vom Beschwerdeführer angerufenen Kommentatoren vermögen dem nichts
Stichhaltiges und Durchschlagendes entgegenzustellen. Die Tatsache,
dass die neuerliche Begehung einer strafbaren Handlung, wenn der Täter
inzwischen 18jährig geworden ist, eine Bestrafung nach Art. 100 StGB
zur Folge hat (THORMANN/OVERBECK, N. 9 zu Art. 94 StGB), eine neue
Massnahme angeordnet oder eine Strafe ausgesprochen wird (LOGOZ, N. 5
zu Art. 94 StGB), vermag zur Frage der Rückversetzung überhaupt nichts
auszusagen. Woraus abzuleiten wäre, der Vollzug der neuen Massnahme oder
der Strafe trete an die Stelle der Rückversetzung (LOGOZ, aaO), wird
nicht dargelegt und bliebe ohnehin unerfindlich. Die Meinung schliesslich,
eine doppelte Sanktionierung des Entlassenen widerspräche materiell dem
Grundsatz ne bis in idem, soweit nicht bloss Verwarnung oder Weisungen in
Frage stehen (BÖHLEN, N. 10 zu Art. 94 StGB), gründet auf einer Verkennung
des Gehaltes dieses Grundsatzes als blossem Verbot mehrfacher Bestrafung
für ein und dieselbe Tat.

    Widerspräche es aber vernünftiger Auslegung von Art. 94 Ziff. 2
Abs. 1 StGB anzunehmen, der Gesetzgeber habe die Rückversetzung in die
Erziehungsanstalt ausschliessen wollen, wenn der bedingt Entlassene
während der Probezeit eine strafbare Tat begeht, und er habe dies durch
Stillschweigen unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht, so kann von einem
qualifizierten Schweigen, wie es der Beschwerdeführer behauptet, nicht
die Rede sein. Missbrauch der Freiheit ist vielmehr als Generalklausel
zu verstehen, die als Rückversetzungsgrund auch die Verübung strafbarer
Handlungen während der Probezeit erfasst. Das liegt auch in der vom
Gesetzgeber anlässlich der zweiten Revision des StGB verfolgten Tendenz,
die Rückversetzung im Jugendrecht den Bestimmungen, wie sie bei den
Erwachsenen aufgestellt wurden, anzupassen (BBl 1965 I 594).

Erwägung 4

    4.- Die Behauptung, die sich beim Zusammentreffen mit Strafen
oder Massnahmen unter sich ergebenden Vollzugsfragen seien bei
allen freiheitsentziehenden Massnahmen ausser der Einweisung in ein
Erziehungsheim geordnet, ist unzutreffend. Eine Regelung fehlt insbesondere
für den Fall, wo ein Jugendlicher, für den schon eine Massnahme angeordnet
ist, eine neue strafbare Tat begeht, die Weiterführung der Massnahme
oder ihre Änderung nicht genügt, und er mit Einschliessung bestraft
wird (Art. 95 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Das Fehlen von Vollzugsregeln
bei Konkurrenz der gleichen, einer anderen Massnahme oder einer
freiheitsentziehenden Strafe mit der Massnahme, in die der bedingt
Entlassene gemäss Art. 94 Ziff. 2 StGB zurückzuversetzen ist, liefert
deshalb keinen schlüssigen oder gar zwingenden Anhaltspunkt zur Annahme,
eine Massnahme nach Art. 91 ff. StGB könne mit einer anderen Massnahme
oder einer Strafe gar nicht in Konkurrenz treten.

    Der Richter, der die neue strafbare Handlung zu beurteilen hat, trifft
die angemessene Sanktion nur für diese Tat und ohne jede Rechtswirkung
für die früher angeordnete Massnahme, aus welcher der Täter bedingt
entlassen worden ist, weil die gesetzlich vorgeschriebene Minimaldauer
des Anstaltsaufenthaltes abgelaufen war und angenommen werden konnte, der
Zweck der Massnahme sei erreicht. Erweist sich diese Annahme wie im Falle
erneuter Delinquenz während der Probezeit als unzutreffend, so ist nicht
die Rückversetzung in die Massnahme sinnwidrig, sondern der Verzicht auf
diese wäre es; die Massnahme erhält ihren eigentlichen Sinn erst dadurch,
dass sie im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen über die Höchstdauer
solange fortgeführt wird, bis sie schliesslich ihren Zweck erreicht hat.
Als überflüssig könnte eine Rückversetzung höchstens da erscheinen, wo
als Rechtsfolge der neuen Tat vom Richter wiederum die gleiche Massnahme
angeordnet worden ist.

    Im Jugendstrafrecht ist das monistische System nicht lückenlos
durchgeführt; es wird in Art. 95 Ziff. 1 Abs. 2 StGB durchbrochen. Eine
Rückversetzung in die Erziehungsanstalt bei erneuter Delinquenz
widerspräche aber dem richterlichen Monismus nicht mehr als die gesetzlich
vorgesehene Möglichkeit der Kumulation von Strafe und Massnahme. Sie
widerspricht auch der Zielsetzung des Jugendstrafrechtes nicht; beide
Sanktionsarten, Massnahme und Strafe, werden als Erziehungsmittel
begriffen: die im Verhältnis zur Massnahme alternative und subsidiäre
Strafe kann im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht hier keinen Sinn
haben, der jener fremd ist (REHBERG, ZStR 87, S. 230). Überdies können
nach Art. 1 Abs. 4 VStGB 1 sogar bei gleichzeitiger Beurteilung vor
und nach dem achtzehnten Altersjahr begangener Taten eine Massnahme des
Jugendstrafrechts und die Strafe des Erwachsenenstrafrechts kumuliert
werden; das muss umso mehr gelten, wenn die jugendrechtliche Massnahme
schon rechtskräftig ausgesprochen und infolge Nichtbewährung weiterhin
vollziehbar ist.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf diese
einzutreten ist.