Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IB 1



104 Ib 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 17. März 1978 i.S. Flückiger gegen
Schweizerische Eidgenossenschaft Regeste

    Haftung des Bundesbeamten für Schaden, den er dem Bund unmittelbar
zufügt (Art. 8 VG).

    1. Kann der Bund den Beamten in die Klägerrolle verweisen? Negative
Feststellungsklage des Beamten im vorliegenden Fall zulässig erklärt
(Erw. 2).

    2. Begriff der grobfahrlässigen Verletzung einer Dienstpflicht
(Erw. 3a). Verkehrsordnung auf dem Areal eines Armeemotorfahrzeugparks;
Haftung des Klägers mangels grober Fahrlässigkeit verneint (Erw. 3c).

Sachverhalt

    A.- Rudolf Flückiger ist Handwerker im Armeemotorfahrzeugpark
(AMP) Hinwil. Am 28. Dezember 1974 wollte er den Lastwagen M + 64175
auf dem Waschplatz des AMP parkieren. Zu diesem Zweck fuhr er von
hinten neben einen Block bereits parkierter Fahrzeuge. Um sein Fahrzeug
parallel auszurichten, holte er nach vorne aus, bis sein Wagen etwa 2,5
m über die Frontlinie der vorderen Reihe der bereits parkierten Fahrzeuge
hinausragte. Rudolf Flückiger hatte bereits den Rückwärtsgang eingelegt und
schickte sich gerade an, sein Fahrzeug endgültig rückwärts einzureihen,
als Kaspar Habegger, mit dem Lastwagen M + 61365 von links kommend,
das parkierende Fahrzeug streifte.

    Kaspar Habegger befand sich im Augenblick der Kollision mit seinem
soeben reparierten Lastwagen auf dem Weg zu einer Probefahrt. Wegen
Schneegestöbers wollte er die Lichter einschalten, obschon es um diese Zeit
(14.30 Uhr nachmittags) noch hell war. Da sich der Schlüsselring verklemmt
hatte, schaute er einen Moment lang auf den Lichtschalter, weshalb ihm
das in seine Fahrbahn hineinragende Fahrzeug Flückigers entging. Als er
seinen Blick wieder hob, konnte er die Kollision nicht mehr verhindern.

    Am 18. Dezember 1975 ordnete das Eidgenössische Militärdepartement
(EMD) an, beide Lenker seien an dem von ihnen grobfahrlässig
verursachten Gesamtschaden von Fr. 3626.- zu beteiligen, indem je der
Betrag von Fr. 200.- mit ihrer Besoldung zu verrechnen sei. Während
Kaspar Habegger seine Schadenersatzpflicht anerkannte, reichte Rudolf
Flückiger am 17. Dezember 1976 verwaltungsrechtliche Klage gegen die
Eidgenossenschaft ein und beantragte, es sei festzustellen, dass dem
Bund aus dem Schadenereignis gegen ihn kein Regressanspruch zustehe;
die in Aussicht gestellte Verrechnung des Betrages von Fr. 200.- sei
zu widerrufen.

    Das EMD beantragt, die Klage sei abzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Klage gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Da der Anspruch aus Art. 8 VG der Eidgenossenschaft zusteht,
ist er auch von ihr geltend zu machen. Es erscheint deshalb als
folgerichtig, dass der Bund selber Klage beim Bundesgericht erhebt, wenn
sein Anspruch streitig geblieben ist (BGE 102 Ib 106 E. 2). Indes hat
das Bundesgericht früher angenommen, der Bund könne durch Verrechnung des
Schadenersatzanspruches mit einem Lohnguthaben des belangten Beamten diesen
in die Rolle des Klägers verweisen (BGE 86 I 179 E. 2, 89 I 417 f. E.
1). Im jüngsten Entscheid (BGE 102 Ib 107 E. 2) hat das Bundesgericht
sich allerdings vorbehalten, diese Rechtsprechung zu überprüfen.

    Eine solche Überprüfung kann jedoch im vorliegenden Fall noch
unterbleiben, da das EMD hier die Verrechnung noch vor der Publikation
des eben erwähnten Bundesgerichtsentscheides angeordnet hat. Auf die
Klage Flückigers ist deshalb einzutreten.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beamte kann nur dann nach Art. 8 VG haftbar gemacht werden,
wenn er den Schaden durch vorsätzliche oder grobfahrlässige Verletzung
seiner Dienstpflicht verursacht hat. Dabei kann aus dem Erfordernis der
"Verletzung der Dienstpflicht" keine Einschränkung der Verantwortlichkeit
des Beamten herausgelesen werden. Jedes den Bund schädigende Verhalten
eines Beamten stellt eine Dienstpflichtverletzung dar; denn in der dem
Beamten durch Art. 22 BtG auferlegten Pflicht, die Interessen des Bundes zu
wahren und alles zu unterlassen, was sie beeinträchtigt, ist das Verbot,
den Bund zu schädigen, mitenthalten (HOTZ, Die Haftpflicht des Beamten
gegenüber dem Staat, Diss. Zürich 1973, S. 103 f.).

    Im vorliegenden Fall kommt nur Fahrlässigkeit in Betracht. Damit sie
als grob bewertet werden kann, muss sie von einer gewissen Schwere sein,
was zutrifft, wenn der Beamte elementarste Vorsichtsgebote missachtet
hat. Bei der Beurteilung ihres Grades sind die gesamten Umstände
des einzelnen Falles zu berücksichtigen (BGE 102 Ib 107 f. E. 4 mit
Hinweis). Damit auf grobe Fahrlässigkeit geschlossen werden kann, ist
jedoch keineswegs erforderlich, dass sich die Verwaltung veranlasst sieht,
disziplinarische Strafmassnahmen gemäss Art. 30 ff. BtG zu verfügen. In
diesem Sinne ist die in BGE 102 Ib 108, oben, vertretene Auffassung zu
präzisieren, dass grobe Fahrlässigkeit nur vorliegt, wenn die Verwaltung
begründeten Anlass zum Zweifel daran hat, ob der Beamte das Vertrauen,
das sie ihm nach seiner amtlichen Stellung muss entgegenbringen können,
noch uneingeschränkt verdiene.
   b)...

    c) Weil als grobe Fahrlässigkeit eine schwere Verletzung von
Sorgfaltspflichten zu betrachten ist, fragt sich, welche Sorgfalt für
den Kläger beim Parkieren seines Lastwagens geboten war. Ferner ist zu
untersuchen, ob eine Verletzung dieser Sorgfaltspflicht gegebenenfalls so
schwer war, dass sich ein anderes Vorgehen für jeden vernünftigen Beamten
unter denselben Umständen ohne weiteres aufgedrängt hätte (BGE 89 I 423).

    Im vorliegenden Fall müssen zur Konkretisierung der allgemeinen
Sorgfaltspflicht die Bestimmungen des SVG herbeigezogen werden (vgl. HOTZ,
aaO, S. 120), sofern sie sich sinngemäss auf das Unfallgeschehen anwenden
lassen (Art. 6 Abs. 2 V über die Motorfahrzeuge des Bundes und ihre Führer
vom 31. März 1971 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 V
über den militärischen Strassenverkehr vom 24. Februar 1976).

    Die Beklagte wirft dem Kläger vor allem eine Verletzung des
Vortrittsrechtes gemäss Art. 36 Abs. 4 SVG vor, wonach der sich in den
Verkehr einfügende Fahrzeugführer andere Strassenbenützer nicht behindern
darf. Sie nimmt an, das Areal des AMP sei in einen Abstellplatz für
Fahrzeuge einerseits und eine Verkehrsstrasse andererseits eingeteilt,
während der Kläger behauptet, es liege eine einheitliche Verkehrsfläche
vor. Sicher trifft es zu, dass einzelne Teile des Areals vorwiegend
dem Abstellen von Fahrzeugen dienen und andere Teile vorwiegend als
Fahrstrecken benutzt werden. Dabei handelt es sich aber offensichtlich
nicht um ausschliessliche Zweckbestimmungen. In den verschiedenen
Phasen der Mobil- oder Demobilmachung kann sich die Grösse und Lage
der Abstellplätze ändern; zudem kann das Areal auch zu Übungs- und
anderen Zwecken verwendet werden. Mangels jeder Markierung ist die
"Strasse" vom "Abstellplatz" deshalb nur grob abgrenzbar. Irgendwo in
diesem Grenzbereich hat die Kollision stattgefunden. Da besonders bei
Parkiermanövern oft Situationen ohne geregeltes Vortrittsrecht entstehen,
ist äusserst fraglich, hier von einem Vortrittsrecht des anderen Fahrzeuges
zu sprechen. Bei dermassen zweideutigen Verhältnissen fällt deshalb die
Verletzung eines elementaren Vorsichtsgebotes überhaupt nicht in Betracht.

    Die von den Parteien ebenfalls zur Diskussion gestellte Verletzung
der Generalklausel von Art. 26 SVG kann gleichzeitig mit der Frage
erwogen werden, ob der Kläger gegen andere, ihm als Beamten obliegende
Sorgfaltspflichten verstossen habe.

    Der Einwand des Klägers, die Kollision sei in erster Linie auf
das fahrlässige Verhalten des Fahrers Habegger zurückzuführen, vermag
seine eigene Verantwortlichkeit nicht auszuschliessen. Allfällige
Verhaltensfehler des Klägers sind losgelöst von der Mitwirkung Habeggers
zu ermitteln.

    Als objektives Merkmal des Verkehrs auf einem AMP-Areal kann
festgehalten werden, dass jederzeit auf dem ganzen Areal Fahrzeugbewegungen
zu den verschiedensten Zwecken stattfinden können. Der Kläger durfte
sich deshalb darauf verlassen, dass dies den anderen Lenkern bewusst
war. Er durfte auch davon ausgehen, dass die anderen Lenker wussten, dass
schwere Lastwagen bereitgestellt wurden und dass solche Fahrzeuge beim
Manöverieren mehr Raum benötigen. Unbestritten ist, dass der Kläger mit
seinem Lastwagen zum präzisen Parkieren nach vorne ausholen musste. Sogar
routinierte Lenker sind auf solche Manöver angewiesen. Die Beklagte will
dem Kläger sinngemäss zum Vorwurf machen, dass er überhaupt riskiert
hat, einem anderen Fahrzeug in den Weg zu geraten. Diese Ansicht ist
dem dauernd wechselnden und vielen Zwecken dienenden Betrieb eines AMP
nicht angemessen. Ein Verstoss gegen eine elementare Sorgfaltspflicht
könnte dem Kläger allenfalls dann zur Last gelegt werden, wenn er neben
der Reihe parkierter Fahrzeuge so schnell nach vorne gefahren wäre, dass
ein von links nahendes Fahrzeug unter normalen Umständen nicht mehr hätte
ausweichen können. Es ist jedoch nicht nachgewiesen, dass er einen solchen
Fehler begangen hat. Auch dass er die Scheinwerfer seines Wagens nicht
eingeschaltet hatte, kann dem Kläger nicht zum Vorwurf gereichen. Der
aus einem rechten Winkel herannahende Habegger hätte das Licht bei der
herrschenden Tageshelle kaum erkennen können.

    In Würdigung aller Umstände kann nicht gesagt werden, der Kläger habe
gegen ein eindeutiges und elementares Vorsichtsgebot verstossen. Sein
Verhalten ist nicht als grobfahrlässig im Sinne des Art. 8 VG zu werten.