Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 79



104 Ia 79

18. Urteil vom 8. Februar 1978 i.S. S. gegen Kirchgemeinde Johannes Bern
und Regierungsrat des Kantons Bern Regeste

    Art. 49 BV; Austritt aus der Landeskirche.

    1. Sind die kantonalen Verwaltungsbehörden von Bundesrechts
wegen verpflichtet, die von ihnen zu vollziehenden kantonalen Erlasse
akzessorisch auf ihre Bundesverfassungsmässigkeit zu prüfen? Frage offen
gelassen (E. 2).

    2. Formelle Erfordernisse, die an die Erklärung des Kirchenaustrittes
gestellt werden dürfen: Eine kantonale Regelung, wonach der Austrittswille
nach Ablauf einer gewissen Zeit (mindestens 30 Tage) seit Abgabe der ersten
Erklärung durch eine zweite, beglaubigte Erklärung bestätigt werden muss,
verstösst nicht gegen Art. 49 BV. Doch muss der Austritt rückwirkend auf
den Zeitpunkt der ersten Erklärung wirksam werden (E. 3).

    3. Eine kantonale Regelung, wonach der Austretende die Kirchensteuer
noch für das ganze laufende Jahr zu bezahlen hat, verstösst gegen Art. 49
Abs. 6 BV. Die Kirchensteuer darf nur noch pro rata temporis bis zum
Kirchenaustritt erhoben werden (E. 4).

    4. Ausnahme vom Grundsatz der kassatorischen Natur der
staatsrechtlichen Beschwerde (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Im Dekret des Grossen Rates des Kantons Bern vom 13.  November
1967 über die Kirchensteuern ist der Austritt aus der Landeskirche
einlässlich geregelt. In Art. 30 wird festgestellt, dass der Angehörige
einer Landeskirche sich der Kirchensteuerpflicht nur dadurch entziehen
kann, dass er seinen Austritt aus der Landeskirche erklärt. Art. 31 des
Dekretes ordnet das Austrittsverfahren:

    "Der Austritt aus der Landeskirche ist durch schriftliche, vom

    Austretenden persönlich unterzeichnete Eingabe beim Kirchgemeinderat
   der Wohnsitzgemeinde anzukündigen.

    Die gemeinsame Austrittserklärung mehrerer Personen (Kollektivaustritt)
   ist unwirksam.

    Der Kirchgemeinderat prüft seine Zuständigkeit zur Entgegennahme
   der Austrittserklärung sowie das Vorhandensein der notwendigen

    Voraussetzungen.

    Sind die Voraussetzungen für den Austritt erfüllt, so lädt er den

    Austretenden nach Ablauf einer Frist von mindestens dreissig Tagen,
aber
   spätestens innerhalb sechs Wochen, ein, seinen Austrittswillen
   durch persönliche Unterzeichnung eines entsprechenden, gleichzeitig
   zuzustellenden amtlichen Formulars vor dem Kirchgemeinderatsschreiber
   zu bestätigen.

    Die persönliche Unterzeichnung des Formulars vor dem

    Kirchgemeinderatsschreiber kann durch notarielle Beglaubigung ersetzt
   werden.

    Der Kirchgemeinderat hat innert dreissig Tagen nach erfolgtem Austritt
   sowohl dem Austretenden wie auch der Einwohnerkontrolle der

    Wohnsitzgemeinde eine Austrittsbescheinigung zuzustellen.

    Lehnt der Kirchgemeinderat die Bestätigung einer Austrittserklärung
   ab, so hat er die zur Ablehnung führenden Gründe dem Austretenden
   binnen dreissig Tagen schriftlich mitzuteilen.

    ... (Hinweis auf Beschwerdemöglichkeit nach Gemeindegesetz)."

    Gemäss Art. 32 Abs. 1 gilt der Austritt aus der Landeskirche vom Tage
der Unterzeichnung der endgültigen Austrittserklärung an. Die Kirchensteuer
wird jedoch noch für das volle Austrittsjahr geschuldet (Art. 32 Abs. 2).

    Fräulein S. erklärte mit Schreiben vom 28. Dezember 1974 gegenüber dem
Kirchgemeinderat Johannes den Austritt aus der evangelisch-reformierten
Landeskirche auf den 31. Dezember 1974. Der Kirchgemeinderat nahm in seiner
Sitzung vom 13. Januar 1975 von dieser Austrittserklärung Kenntnis. Eine
Aussprache zwischen dem zuständigen Pfarrer und Fräulein S. verlief
erfolglos. Am 12. April 1975 schickte der Sekretär des Kirchgemeinderates
an Fräulein S. das amtliche Austrittsformular mit dem Hinweis, dass dieses
nach den geltenden Vorschriften vor dem Sekretär des Kirchgemeinderates
oder vor einem Notar zu unterzeichnen sei. Mit Schreiben vom 18. April 1975
stellte Fräulein S. fest, sie habe ihren Austritt aus der Landeskirche
schriftlich erklärt und gegenüber dem Pfarrer bestätigt; sie halte die
weiteren Formalitäten, insbesondere die Beglaubigung der Unterschrift,
für unzulässig und verfassungswidrig; falls der Austritt nicht in der
erfolgten Form auf den 31. Dezember 1974 akzeptiert werde, ersuche
sie um eine entsprechende Feststellungsverfügung. Es folgten weitere
Briefwechsel zwischen S. und den kirchlichen Behörden. Schliesslich teilte
der Kirchgemeinderat der Johannesgemeinde Fräulein S. am 5. September 1975
mit, dass ihr Austrittsbegehren am 10. März 1975 vom Rate genehmigt worden
sei, dass aber der Kirchenaustritt nicht in der im Kirchensteuerdekret
vorgeschriebenen Weise habe vollzogen werden können, da sie sich weigere,
die erforderlichen Formalitäten zu erfüllen. Fräulein S. führte gegen
die Nichtanerkennung ihres Austritts beim Regierungsstatthalter und
hernach beim Regierungsrat des Kantons Bern erfolglos Beschwerde. Beide
kantonalen Instanzen traten auf die Rüge, die streitigen Vorschriften des
Kirchensteuerdekretes seien bundesverfassungswidrig, nicht ein. Während
der Hängigkeit des kantonalen Verfahrens unterzeichnete Fräulein
S. am 8. Dezember 1975 "ohne Anerkennung des Rechtsstandpunktes der
Kirchgemeinde" das amtliche Formular in der vorgeschriebenen Weise,
so dass ihr Austritt auch nach den angefochtenen Vorschriften des
Kirchensteuerdekretes inzwischen auf jeden Fall rechtswirksam geworden ist.

    Fräulein S. erhebt im Anschluss an den Entscheid des Regierungsrates
vom 17. Mai 1977 wegen Verletzung von Art. 4 und 49 BV sowie Art. 2
ÜbBest. BV staatsrechtliche Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Regierungsstatthalter und Regierungsrat sind auf die von der
Beschwerdeführerin erhobene Rüge, gewisse Bestimmungen des grossrätlichen
Kirchensteuerdekretes stünden zu Art. 49 BV in Widerspruch, nicht
eingetreten mit der Begründung, es sei den Verwaltungsbehörden durch
die bernische Staatsverfassung verwehrt, kantonale Gesetze und Dekrete
auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu überprüfen; hiezu seien nur die
Gerichte befugt.

    a) Das Bundesgericht vertrat in BGE 91 I 314 die Auffassung, es
seien nicht nur die kantonalen Gerichte, sondern auch die kantonalen
Verwaltungsbehörden auf entsprechende Rüge hin befugt und verpflichtet,
das von ihnen anzuwendende kantonale Recht akzessorisch auf seine
Übereinstimmung mit der Bundesverfassung zu prüfen. Es stellte anderseits
in BGE 92 I 481 f. fest, dass eine Kantonsregierung ohne eine dahingehende
kantonale Vorschrift nicht gehalten sei, kantonale Gesetze und Dekrete des
Grossen Rates auf ihre Übereinstimmung mit der Kantonsverfassung zu prüfen.

    Dass die kantonalen Gerichte das kantonale Recht akzessorisch auf
seine Bundesrechtmässigkeit zu prüfen haben, entspricht der herrschenden
Auffassung in Doktrin und Rechtsprechung (BGE 82 I 219 mit Hinweisen
auf Literatur und frühere Bundesgerichtsurteile; IMBODEN/RHINOW,
Verwaltungsrechtsprechung, Bd. II, Nr. 143, B I S. 1059 mit Hinweisen
auf kantonale Entscheide). Hingegen hat sich darüber, wieweit auch
die kantonalen Verwaltungsbehörden verpflichtet sind, das von ihnen
zu vollziehende kantonale Recht auf seine Übereinstimmung mit der
Bundesverfassung und der Bundesgesetzgebung zu prüfen, noch keine
einheitliche Auffassung gebildet. Das Bundesgericht hat sich, von BGE
91 I 314 abgesehen, mit der Frage nie näher befasst (vgl. auch BGE 68
I 29). W. BURCKHARDT und MAX IMBODEN haben den Standpunkt vertreten,
dass zwar nicht jede untere kantonale Verwaltungsstelle, aber doch
die Kantonsregierung als oberste, unabhängige Verwaltungsbehörde von
Bundesrechts wegen verpflichtet sei, das kantonale Recht akzessorisch
auf seine Bundesrechtmässigkeit zu prüfen und ihm gegebenenfalls die
Anwendung zu versagen (W. BURCKHARDT, Eidgenössisches Recht bricht
kantonales Recht, in: Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag,
1927, S. 64 f.; MAX IMBODEN, Bundesrecht bricht kantonales Recht,
Diss. Zürich 1940, S. 141-144; im gleichen Sinne IMBODEN/RHINOW, aaO,
Nr. 143, B I/b S. 1060). Andere Autoren nehmen an, dass eine solche
akzessorische Prüfungsbefugnis sämtlichen rechtsanwendenden kantonalen
Behörden, d.h. auch allen Verwaltungsorganen, zukomme (so HANS NEF, Das
akzessorische Prüfungsrecht, in Mélanges Marcel Bridel, 1968, S. 316 ff.;
FLEINER/GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 97).

    b) Die aufgeworfene Frage ist jedoch für die Beurteilung der
vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde nicht entscheidend und
braucht daher an dieser Stelle nicht weiter verfolgt zu werden. Wohl
hätte die Beschwerdeführerin bei Zugrundelegung der prozessrechtlichen
Situation, wie sie im Entscheid des Regierungsrates dargestellt
wird, die Rüge der Verfassungswidrigkeit des Kirchensteuerdekretes
mangels eines geeigneten kantonalen Rechtsmittels schon unmittelbar im
Anschluss an den erstinstanzlichen Entscheid des Kirchgemeinderates
mit staatsrechtlicher Beschwerde dem Bundesgericht unterbreiten
können. Doch durfte sie ohne Gefahr eines prozessualen Nachteils
mit der Einreichung einer staatsrechtlichen Beschwerde auch zuwarten
und zuerst von den zur Verfügung stehenden kantonalen Rechtsmitteln
Gebrauch machen. Nach der neuern Rechtsprechung können mit einer im
Anschluss an einen letztinstanzlichen kantonalen Rechtsmittelentscheid
erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde auch noch Rügen erhoben werden,
die der Kognition der kantonalen Rechtsmittelinstanz entzogen waren
(BGE 94 I 462 f.; vgl. auch 102 Ia 267, 100 Ia 123, 97 I 226). Der
Umstand, dass die kantonalen Rechtsmittelinstanzen auf die Frage, ob das
Kirchensteuerdekret vor Art. 49 BV standhalte, nicht eingetreten sind,
hindert die Beschwerdeführerin daher nicht daran, diese Verfassungsrüge zum
Gegenstand der vorliegenden, im Anschluss an den Regierungsratsentscheid
eingereichten staatsrechtlichen Beschwerde zu machen. Voraussetzung
ist allerdings, dass neben dem letztinstanzlichen Rechtsmittelentscheid
auch noch der eigentliche Sachentscheid, auf den sich die Rüge bezieht,
angefochten wird (BGE 94 I 463, 97 I 227 E. 3a). Das ist hier insoweit
der Fall, als die Beschwerdeführerin in ihrem Eventualbegehren beantragt,
es sei vom Bundesgericht festzustellen, dass der Kirchenaustritt auf
den 31. Dezember 1974 wirksam geworden sei. Eine Gutheissung dieses
Eventualbegehrens läuft im Ergebnis auf eine Aufhebung der Verfügung des
Kirchgemeinderates vom 5. September 1975 hinaus. Es kann daher auf die in
der staatsrechtlichen Beschwerde erhobene Rüge der Verfassungswidrigkeit
des Kirchensteuerdekretes eingetreten werden, ohne dass entschieden
werden muss, ob der Regierungsrat zur Prüfung dieser Frage verpflichtet
gewesen wäre.
   c)...

Erwägung 3

    3.- Die Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art.  49 BV
hat unter anderem zur selbstverständlichen Folge, dass der Austritt
aus einer Landeskirche oder irgendeiner Religionsgemeinschaft jederzeit
möglich sein muss und nicht durch schikanöse Vorschriften erschwert oder
unnötig verzögert werden darf.

    a) Nach Art. 31 des Kirchensteuerdekretes ist ein Austritt aus
einer bernischen Landeskirche möglich, doch genügt eine schriftliche
Austrittserklärung nicht, sondern es bedarf der Unterzeichnung eines
amtlichen Formulars. Die Erfüllung dieser Bedingung ist frühestens nach
dreissig Tagen möglich. Durch das Dekret wird also dem Austrittswilligen
eine Bedenkzeit auferlegt. Schliesslich wird durch das formelle
Erfordernis der Unterzeichnung vor dem Gemeinderatsschreiber oder einem
Notar die einwandfreie Willensäusserung gewährleistet und die Bedeutung
des Schrittes hervorgehoben.

    Art. 49 BV verbietet den Landeskirchen nicht, den Kirchenaustritt
zu regeln und durch formelle Erfordernisse einen überstürzten Austritt
unter dem momentanen Einfluss von Drittpersonen nach Möglichkeit zu
verhindern. Aus der Verfassungsbestimmung ist nicht abzuleiten, eine
schriftliche Austrittserklärung müsse ohne weitere Formalitäten akzeptiert
werden. Soweit ein kantonales Austrittsverfahren nur der Gewährleistung
einer überlegten, klaren Willensäusserung dient, hält es vor Art. 49
BV stand.

    Die in Art. 31 Abs. 4 des Kirchensteuerdekretes vorgeschriebene
Bedenkfrist wird zwar oft auch dazu benutzt werden, dem Einfluss
Dritter die kirchlichen Argumente entgegenzusetzen. Dass derjenige,
der aus der Landeskirche austreten will, erst dreissig Tage bis sechs
Wochen nach der Ankündigung dieses Entschlusses die eigentliche
Austrittserklärung unterzeichnen darf, ist aber als sachliches
Mittel zur Vermeidung überstürzter Kirchenaustritte vor Art. 49 BV
haltbar. Auch das Erfordernis einer beglaubigten Unterzeichnung ist nicht
schikanös, sondern gewährleistet die Echtheit der Unterschrift und eine
unbeeinflusste Unterzeichnung der entscheidenden Erklärung. Mag auch in
Einzelfällen das formelle Austrittsverfahren gemäss Art. 31 des Dekretes
als eine überflüssige Komplikation erscheinen, weil weder der erklärte
Austrittswille noch die Identität des Erklärenden zu irgendwelchen Zweifeln
Anlass geben, so ist die starre Ordnung in einem formellen Verfahren,
soweit sie sich sachlich begründen lässt, doch nicht verfassungswidrig.

    b) Verlangt das einschlägige Recht, dass der mitgeteilte Entschluss zum
Kirchenaustritt in einem damit eingeleiteten förmlichen Austrittsverfahren
bestätigt werde, so stellt sich die Frage, auf welchen Zeitpunkt der
Austritt wirksam werden soll: Gilt der definitiv bestätigte Austritt
rückwirkend von der ersten Austrittserklärung an oder tritt die Wirkung
des Austrittes erst mit dem Abschluss des Austrittsverfahrens ein?

    Gemäss Art. 32 Abs. 1 des bernischen Dekretes gilt der Austritt
vom Tage der Unterzeichnung der endgültigen Austrittserklärung an,
d.h. also erst die Unterzeichnung des amtlichen Formulars lässt die
Austrittserklärung wirksam werden. Durch das Austrittsverfahren, dessen
Dauer von verschiedenen Umständen abhängt, soll die Kirchenzugehörigkeit
des Austretenden also verlängert werden, auch wenn der geäusserte
Entschluss zum Austritt sich schliesslich als unumstösslich erweist. Der
Ausgetretene wird somit für einen Zeitraum noch als Kirchenangehöriger
behandelt, in dem er bereits zum Ausdruck gebracht und in der Folge auch
nach Ablauf der Bedenkzeit auf amtlichem Formular bestätigt hat, dass er
dieser Kirche nicht mehr angehören wolle.

    Diese Verlängerung der Kirchenzugehörigkeit um die Zeit des formellen
Austrittsverfahrens steht im Widerspruch zu Sinn und Zweck von Art. 49
BV. Eine Landeskirche darf wohl in einem formellen Verfahren den
Austrittswillen verifizieren. Wird dabei aber der Austrittsentschluss
bestätigt, so muss der Austritt rückwirkend auf den Zeitpunkt der
ersten Erklärung (vgl. Art. 31 Abs. 1 des Dekretes) gelten. Es lässt
sich mit sachlichen Gründen nicht rechtfertigen, dass eine Person, die
aus einer Kirche austreten will, während der Dauer des kirchenrechtlich
vorgesehenen Austrittsverfahrens auf jeden Fall noch Kirchenangehörige
bleibt. Wenn auch die Berner Lösung logisch vertretbar sein mag, so
verlangt die Glaubensfreiheit doch, dass von einer solchen konstruierten
Verlängerung der Kirchenzugehörigkeit eines Austretenden abgesehen
wird. Sein bestätigter Austrittswille ist rückwirkend zu beachten.
Auch im Interesse der Landeskirche ist der Anschein zu vermeiden, man
wolle aus irgendwelchen, vor allem finanziellen Gründen den Austritt mit
juristischen Mitteln möglichst hinausschieben.

    Im vorliegenden Fall ist daher festzustellen, dass die
Beschwerdeführerin durch die im Dezember 1975 auf amtlichem Formular
bestätigte Austrittserklärung rückwirkend auf den 31. Dezember 1974 aus
der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Bern ausgetreten ist.

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 32 Abs. 2 des Kirchensteuerdekretes wird die
Kirchensteuer noch für das "volle Austrittsjahr" geschuldet.

    Die Beschwerdeführerin hält diese Vorschrift ebenfalls für
verfassungswidrig. Da im vorliegenden Fall der Austritt aus der
Landeskirche ohnehin erst am Ende des laufenden Jahres erklärt
und rechtswirksam geworden ist, hört mit dem Kirchenaustritt
(d.h. ab 31. Dezember 1974) auch die Kirchensteuerpflicht auf.
Die Beschwerdeführerin wird daher durch die Anwendung der Vorschrift,
wonach die Kirchensteuer noch für das ganze laufende Jahr zu entrichten
sei, insofern nicht weiter belastet. Die gegen Art. 32 Abs. 2 des
Kirchensteuerdekretes erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände sind
jedoch begründet:

    Für die dort statuierte Regel, die Kirchensteuer sei stets für
das ganze Austrittsjahr geschuldet, lassen sich wohl administrative
Gründe anführen. Die Erhebung der Kirchensteuer für einen Zeitraum,
in welchem ein Ausgetretener bereits nicht mehr der Kirche angehörte,
steht aber im Widerspruch zu Art. 49 Abs. 6 BV. Wie beim Aufhören jeder
Steuerpflicht (durch Wegzug, Tod usw.), so ist auch bei der Beendigung
der Kirchensteuerpflicht durch Austritt die letzte Steuer pro rata
temporis zu erheben (vgl. RUDOLF EGGER, Das Subjekt der Kultussteuern
in der Schweiz, Diss. Zürich 1942, S. 90/91; Entscheid der aargauischen
Steuerrekurskommission vom 9. März 1973, publiziert in ZBl 75/1974,
S. 41 ff. mit weitern Hinweisen). Dass damit ein gewisser, allerdings
eher bescheidener, zusätzlicher Verwaltungsaufwand verbunden ist, ändert
nichts. Soweit in der früheren Rechtsprechung (BGE 31 I 87 ff.) eine
gegenteilige Ansicht vertreten wurde, ist daran nicht festzuhalten.

Erwägung 5

    5.- Die Frist, innerhalb derer das Kirchensteuerdekret unmittelbar
mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden konnte (dreissig
Tage seit Publikation des Erlasses, vgl. Art. 89 OG), ist zwar längst
abgelaufen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts kann
jedoch die Verfassungswidrigkeit einer kantonalen Vorschrift auch noch
bei der Anfechtung eines gestützt darauf ergangenen Anwendungsaktes
geltend gemacht werden. Erweist sich der Vorwurf als begründet,
so führt dies freilich nicht zur formellen Aufhebung der Vorschrift;
die vorfrageweise Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit hat nur zur
Folge, dass die Vorschrift auf den Beschwerdeführer nicht angewendet und
der gestützt auf sie ergangene Entscheid aufgehoben wird (BGE 101 Ia 194
E. 1a; 100 Ia 324 E. 1; 98 Ia 164 E. 2; 97 I 334 E. 3). Im vorliegenden
Fall erscheint es angesichts der besonderen prozessualen Situation -
vgl. E. 2 - als gerechtfertigt, vom Grundsatz der kassatorischen Natur der
staatsrechtlichen Beschwerde eine Ausnahme zu machen und im Dispositiv
des bundesgerichtlichen Urteils festzustellen, dass der Kirchenaustritt
der Beschwerdeführerin auf den 31. Dezember 1974 wirksam geworden ist;
nur eine solche positive Feststellung vermag hier den beanstandeten
verfassungswidrigen Zustand wirksam und innert nützlicher Frist zu beheben
(vgl. BGE 100 Ia 395 E. 1d; 97 I 226 E. 1b, 841 E. 1).

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    In Gutheissung der Beschwerde wird festgestellt, dass der Austritt
der Beschwerdeführerin aus der evangelisch-reformierten Landeskirche des
Kantons Bern auf den 31. Dezember 1974 wirksam geworden ist.