Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 465



104 Ia 465

68. Auszug aus dem Urteil vom 22. November 1978 i.S. X. gegen Staat Luzern
und Justizkommission des Kantons Zug Regeste

    Art. 4 BV; Verweigerung des rechtlichen Gehörs im
Rechtsöffnungsverfahren.

    Holt der Betriebene die Vorladung zur Rechtsöffnungsverhandlung zwar
innert der ihm von der Post angesetzten Abholungsfrist von sieben Tagen,
jedoch erst nach dem Verhandlungstermin ab, so ist - abgesehen von Fällen
offensichtlichen Rechtsmissbrauchs - der Rechtsöffnungsentscheid auf
Beschwerde des Betriebenen wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs
aufzuheben (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Kanton Luzern verlangte in zwei Betreibungen gegen X.  beim
Präsidenten des Kantonsgerichts Zug die definitive Rechtsöffnung für die
Beträge von Fr. 92.- bzw. 785.-. Die Vorladungen zu den auf den 24. Januar
bzw. 2. Februar 1978 angesetzten Rechtsöffnungsverhandlungen wurden X. mit
eingeschriebenen Briefen zugestellt. Zu den Rechtsöffnungsverhandlungen
erschien keine der Parteien. Der Präsident des Kantonsgerichts Zug erteilte
dem Kanton Luzern mit Verfügungen vom 27. Januar bzw. 8. Februar 1978 die
definitive Rechtsöffnung für Fr. 77.- bzw. 770.-. X. reichte gegen diese
Verfügungen Beschwerden bei der Justizkommission des Kantons Zug ein. Er
machte im wesentlichen geltend, er habe die Vorladungen am 27. Januar
bzw. 3. Februar 1978, dem letzten bzw. zweitletzten Tag der von der Post
angesetzten Abholungsfristen, in Empfang genommen. Er habe daher keine
Kenntnis von den Verhandlungsterminen gehabt, was bedeute, dass ihm in den
Rechtsöffnungsverfahren das rechtliche Gehör verweigert worden sei. Die
Justizkommission wies die Beschwerden mit zwei Urteilen vom 8. Mai 1978
ab. X. führt gegen diese Entscheide staatsrechtliche Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 100 III 3 ff.) hat
eine eingeschriebene Postsendung grundsätzlich in dem Zeitpunkt als
zugestellt zu gelten, in welchem der Adressat sie tatsächlich in Empfang
nimmt. Wird er beim Zustellungsversuch durch den Postboten angetroffen und
kann ihm dabei die Sendung ausgehändigt werden, so ist dieser Zeitpunkt
für die Zustellung massgebend. Trifft der Postbote dagegen weder den
Adressaten noch eine andere zur Entgegennahme der Sendung berechtigte
Person an, so legt er eine Abholungseinladung mit Fristangabe in den
Briefkasten. Eine solche wird auch dem Postfachinhaber ins Postfach
gelegt. Die von der Post angesetzte Abholungsfrist beträgt gemäss
Art. 169 Abs. 1 lit. d und e der Verordnung (1) zum Postverkehrsgesetz
vom 1. September 1967 sieben Tage. Nach der erwähnten Rechtsprechung
(vgl. auch die in BGE 100 III 5 zitierten früheren Entscheide) ist in
solchen Fällen die Sendung als in jenem Zeitpunkt zugestellt zu betrachten,
in welchem sie am Postschalter abgeholt wird; geschieht dies nicht innert
der Abholungsfrist, so gilt die Zustellung als am letzten Tag dieser Frist
erfolgt. Diese Grundsätze gelten, sofern die Prozessgesetze der Kantone
keine abweichenden Vorschriften enthalten, sowohl für die Zustellungen
nach eidgenössischem wie für jene nach kantonalem Recht. Der Kanton Zug
kennt keine besonderen Vorschriften, und den angefochtenen Entscheiden ist
zu entnehmen, dass die Justizkommission denn auch die bundesgerichtliche
Rechtsprechung als massgebend erachtet.

    Wendet man die dargelegten Grundsätze auf die hier zu beurteilenden
Fälle an und geht man davon aus, die Sachverhaltsdarstellung des
Beschwerdeführers sei zutreffend, so ergibt sich, dass dieser keine
Möglichkeit hatte, an den Rechtsöffnungsverhandlungen teilzunehmen,
da er die Vorladungen zu diesen Verhandlungen zwar innert der ihm von
der Post angesetzten Abholungsfristen, jedoch erst nach dem jeweiligen
Termin der Rechtsöffnungsverhandlungen in Empfang genommen hatte. Stand
dem Beschwerdeführer das Recht zu, die Abholungsfristen von jeweils
sieben Tagen voll auszunützen, was offensichtlich der Sinn der erwähnten
Rechtsprechung ist, so liegt darin, dass dem Beschwerdeführer die Teilnahme
an den Rechtsöffnungsverhandlungen verunmöglicht wurde, eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs.

    Man kann sich lediglich fragen, ob im Rechtsöffnungsverfahren,
in welchem Art. 84 SchKG dem Richter vorschreibt, innert fünf Tagen
seit Anbringung des Rechtsöffnungsbegehrens zu entscheiden, eine andere
Regelung gelte. Die Justizkommission hat diese Frage in den angefochtenen
Entscheiden bejaht. Als Begründung führte sie aus, wer in einer Betreibung
Rechtsvorschlag erhebe, müsse jederzeit damit rechnen, eine kurzfristige
Vorladung zu einer Rechtsöffnungsverhandlung zu erhalten. Hole der
Betriebene eine für ihn bestimmte eingeschriebene Sendung erst am letzten
Tag der 7tägigen Abholungsfrist ab, so habe er die ihm dadurch entstandenen
Nachteile selbst zu vertreten. Wenn die 5tägige Frist des Art. 84 SchKG
nicht illusorisch werden solle, so müsse es im Rechtsöffnungsverfahren
unter dem Gesichtspunkt des Gehörsanspruches genügen, wenn den vorgeladenen
Parteien die Einladung zum Abholen der Vorladung so rechtzeitig in
den Briefkasten bzw. ins Postfach gelegt werde, dass sie die Vorladung
abholen und ihr Folge leisten könnten. Mache eine Partei von dieser
Möglichkeit nicht rechtzeitig Gebrauch, so gelte zwar die Vorladung vor
Ablauf der 7tägigen Abholungsfrist noch nicht als zugestellt, doch bedeute
in diesem Fall die Durchführung der Rechtsöffnungsverhandlung ohne die
Parteien keine Verweigerung des rechtlichen Gehörs. Dieser Auffassung
kann nicht gefolgt werden. Der rechtsunkundige Bürger, der von der Post
die Mitteilung über einen eingeschriebenen Brief mit einer Abholungsfrist
von sieben Tagen erhält, muss sich darauf verlassen dürfen, dass ihm diese
Frist tatsächlich zur Verfügung steht, und es kann ihm nicht zugemutet
werden, vorerst abzuklären, ob die abzuholende Sendung allenfalls ein
besonderes gerichtliches Verfahren mit extrem kurzen Fristen betreffe. Auch
die Rechtssicherheit verlangt eine klare, allgemein verständliche und
einheitliche Regelung der Frage, wann eine eingeschriebene Postsendung als
zugestellt zu gelten hat (vgl. JEANPRETRE, L'expédition et la réception
des actes de procédure et des actes juridiques, SJZ 69/1973 S. 349 ff.,
insbesondere S. 352). Die dargelegten bundesgerichtlichen Grundsätze sind
daher auch im Rechtsöffnungsverfahren anzuwenden. Vorbehalten bleiben Fälle
offensichtlichen Rechtsmissbrauchs (in diesem Sinne andeutungsweise BGE
74 I 89), was beispielsweise dann anzunehmen wäre, wenn ein Betriebener
trotz sicherer Kenntnis davon, dass es sich bei der abzuholenden Sendung
um die kurzfristige Vorladung zu einer Rechtsöffnungsverhandlung handelt,
die Sendung erst am letzten Tag der Abholungsfrist in Empfang nimmt. Die
Anwendung der erwähnten Grundsätze im Rechtsöffnungsverfahren wird zwar
zur Folge haben, dass die in Art. 84 SchKG vorgesehene Frist von 5 Tagen
nicht mehr eingehalten werden kann; will nämlich der Richter vermeiden,
dass in jenen Fällen, in denen der Empfänger die Vorladung wohl innert der
ihm von der Post angesetzten Abholungsfrist von 7 Tagen, jedoch erst nach
dem Verhandlungstermin abholt, der Rechtsöffnungsentscheid auf Beschwerde
wegen Gehörsverweigerung wieder aufgehoben wird, so kann er die Parteien
nicht mehr auf eine Frist von 5 Tagen zur Rechtsöffnungsverhandlung
vorladen. Dies muss jedoch in Kauf genommen werden, denn Art. 84 SchKG hat
als blosse Ordnungsvorschrift zurückzutreten, wenn durch ihre Einhaltung
den Parteien unter Umständen das rechtliche Gehör verweigert würde. Sind
nach dem Gesagten die bundesgerichtlichen Grundsätze - abgesehen von den
erwähnten Ausnahmefällen - auch im Rechtsöffnungsverfahren anzuwenden,
so ist die Annahme der Justizkommission unhaltbar, der Betriebene habe es
selbst zu vertreten, wenn er eine eingeschriebene Sendung erst am letzten
Tag der 7tägigen Abholungsfrist in Empfang nehme, und er könne sich somit
nicht über eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs beschweren, wenn die
Rechtsöffnungsverhandlung in seiner Abwesenheit stattgefunden habe. Die
Beschwerden sind daher gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann,
und die Entscheide der Justizkommission vom 8. Mai 1978 aufzuheben.

Erwägung 4

    4.- (Hinweis, dass die kantonale Behörde die Beschwerden ohne
Verletzung des Art. 4 BV abweisen könnte, wenn sich im Rahmen der
Neubeurteilung ergeben sollte, dass der Beschwerdeführer die Vorladungen
bereits in einem Zeitpunkt abgeholt hat, in welchem die Teilnahme an den
Rechtsöffnungsverhandlungen noch möglich gewesen wäre.)