Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 428



104 Ia 428

64. Urteil vom 22. Dezember 1978 i.S. Walcher und Zimmermann gegen
Landsgemeinde des Kantons Glarus Regeste

    Art. 85 lit. a OG; Abstimmungsverfahren an der Landsgemeinde.

    Feststellung des Stimmenverhältnisses durch Abschätzung; Zulässigkeit
der Wiederholung einer Abstimmung; Auslegung von Art. 34 der Glarner
Kantonsverfassung.

Sachverhalt

    A.- Art. 34 der Verfassung des Kantons Glarus vom 22. Mai 1887
(KV) lautet:

    "1 Den Vorsitz an der Landsgemeinde führt der im Amte stehende

    Landammann, in seiner Verhinderung der Landesstatthalter,
beziehungsweise
   das nächstfolgende Mitglied des Regierungsrates.

    2 Das Protokoll wird von einem durch den Regierungsrat hiefür
   bezeichneten Ratsschreiber geführt.

    3 Die Erwahrung der Mehrheit geschieht durch Abschätzung seitens
   des Vorsitzenden, in zweifelhaften Fällen mit Beiziehung von vier

    Mitgliedern des Regierungsrates.

    4 Der von ihnen abgegebene Entscheid ist unanfechtbar."

    An der Glarner Landsgemeinde vom 21. Mai 1978 war als letztes
Traktandum (§ 15 B) der Memorialsantrag zweier Bürger auf Änderung von
Art. 3 der "Vorschriften über die Durchführung der Landsgemeinde"
zu behandeln. Nach stattgefundener Diskussion standen sich zur
Beschlussfassung zwei Anträge gegenüber, nämlich der auf Ablehnung lautende
Antrag des Landrates und der in eine etwas andere Fassung gebrachte
Memorialsantrag der beiden Bürger. Übungsgemäss brachte Landammann
Kaspar Rhyner zuerst den Ablehnungsantrag des Landrates und hernach den
Memorialsantrag der beiden Bürger zur Abstimmung. Nach Durchführung
dieser Abstimmung erklärte Landammann Rhyner, dass das zweite Mehr das
grössere sei und die Landsgemeinde damit dem Memorialsantrag zugestimmt
habe. Die Verkündung dieses Entscheides veranlasste Stimmbürger im
Landsgemeindering zu Protestäusserungen und Zurufen. Landammann Rhyner
liess daraufhin über die beiden Anträge nochmals abstimmen. Nach Vornahme
dieser zweiten Abstimmung erklärte er, er habe sich getäuscht, das erste
Mehr sei das grössere, womit der Memorialsantrag als abgelehnt galt.

    Zwei Stimmberechtigte aus dem Kanton Glarus führen gestützt auf Art. 85
lit. a OG staatsrechtliche Beschwerde. Sie vertreten den Standpunkt,
dass der Memorialsantrag gemäss dem zuerst verkündeten Entscheid von der
Landsgemeinde angenommen und die Wiederholung der Abstimmung unzulässig
gewesen sei.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die beiden Beschwerdeführer können als Stimmbürger des Kantons
Glarus gestützt auf Art. 85 lit. a OG mittels staatsrechtlicher Beschwerde
rügen, das Ergebnis der Landsgemeindeabstimmung vom 21. Mai 1978 über §
15 B des Landsgemeindememorials sei unrichtig festgestellt worden.

    b) Die Auslegung der kantonalen Vorschriften über die Feststellung
des Abstimmungsergebnisses bei Landsgemeinden prüft das Bundesgericht
im Rahmen der vorliegenden Stimmrechtsbeschwerde grundsätzlich frei,
die Feststellung des Sachverhaltes durch die kantonalen Behörden dagegen
nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 102 Ia 269; 101 Ia 240;
98 Ia 78, 621).

Erwägung 2

    2.- Die Wahlen und Abstimmungen an der Landsgemeinde geschehen
durch das "freie Handmehr" (Art. 26 Abs. 1 KV). Der Vorsitzende der
Landsgemeinde (in der Regel der amtierende Landammann) hat die Mehrheit
durch Abschätzung zu ermitteln, in Zweifelsfällen unter Beiziehung von vier
Regierungsratsmitgliedern (Art. 34 Abs. 3 KV). "Der von ihnen abgegebene
Entscheid ist unanfechtbar" (Art. 34 Abs. 4 KV).

    Die Beschwerdeführer führen aus, Art. 34 KV stelle es ins Ermessen
des Landammannes, darüber zu entscheiden, ob er das Ergebnis einer
Abstimmung allein feststellen könne oder ob er die Mithilfe von vier
Regierungsratsmitgliedern beanspruchen wolle. Wenn Art. 34 Abs. 4 KV den
unter Beizug von vier Regierungsratsmitgliedern gefällten Entscheid als
unanfechtbar erkläre, so müsse dies auch für den vom Landammann allein
gefällten Entscheid gelten. Es sei daher unzulässig gewesen, dass der
Landammann, nachdem er über das Ergebnis der ersten Abstimmung über das
Geschäft § 15 B entschieden habe, unter dem Eindruck der laut gewordenen
Reklamationen eine zweite Abstimmung habe durchführen lassen, bei der
er ein gegenteiliges Ergebnis ermittelte. Die im Kanton Glarus geltende
Regelung sehe keine Zählung der Stimmen, sondern nur eine Schätzung
vor. Bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses entscheide daher
grundsätzlich die Autorität des Landammannes und nicht die genaue Zahl.
Der Stimmbürger an der Landsgemeinde müsse sich auf den durch den
Landammann gefällten Entscheid verlassen können. Es habe sich nicht um
ein blosses Sichversprechen gehandelt, da der Landammann in diesem Fall
keine zweite Abstimmung durchgeführt hätte.

    Das Protokoll der Landsgemeinde vom 21. Mai 1978 gibt über den
beanstandeten Vorfall keinen weiteren Aufschluss; es wird (S. 22)
lediglich festgehalten, dass die Landsgemeinde im fraglichen Geschäft
dem Ablehnungsantrag des Landrates "mehrheitlich zugestimmt" habe.

    Der Regierungsrat des Kantons Glarus vertritt in seiner Vernehmlassung
die Auffassung, dass sich der Landammann bei der Abstimmung über
Traktandum § 15 B geirrt habe, als er das zweite Mehr als das grössere
bezeichnete. Art. 34 Abs. 4 KV schliesse jedoch nicht aus, dass er
aus wichtigen Gründen wie Irrtum auf seinen Entscheid zurückkommen
könne. Entscheidend sei, dass bei der Abschätzung des Mehrs dem Volkswillen
Nachachtung verschafft werde. Im vorliegenden Fall sei schon in der
ersten Abstimmung der Memorialsantrag klar abgelehnt worden. Die zweite
Abstimmung habe sofort stattgefunden, d.h. noch bevor eine ins Gewicht
fallende Anzahl Bürger den Ring habe verlassen können.

Erwägung 3

    3.- a) Jeder Stimmbürger hat einen bundesrechtlich gewährleisteten
Anspruch darauf, dass kein Wahl- oder Abstimmungsergebnis anerkannt
wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und
unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 102 Ia 268, mit Hinweisen). Diese
Garantie muss auch gelten für Abstimmungen an Landsgemeinden, und
zwar selbst dann, wenn das kantonale Recht, wie hier, als Mittel zur
Feststellung des Abstimmungsergebnisses einzig die Abschätzung vorsieht;
die das Mehr feststellende Behörde ist in Zweifelsfällen zu grosser
Sorgfalt verpflichtet (BGE 100 Ia 364). Die kantonalen Vorschriften über
das Vorgehen zur Ermittlung des Abstimmungsergebnisses sind im Lichte
dieser bundesrechtlichen Garantie zu interpretieren.

    b) Wenn Art. 34 Abs. 4 KV den Entscheid über das Abstimmungsergebnis
als "unanfechtbar" bezeichnet, so will dies zunächst nichts anderes sagen,
als dass der Entscheid mit keinem kantonalen Rechtsmittel weitergezogen
bzw. von keiner andern kantonalen Behörde umgestossen werden kann
(H. RYFFEL, Die schweizerischen Landsgemeinden, S. 314). Ob sich Art. 34
Abs. 4 KV nur auf jene Zweifelsfälle bezieht, in denen das Stimmenmehr
unter Mitwirkung weiterer Regierungsratsmitglieder ermittelt worden
ist, oder auch auf die vom Landammann allein getroffenen Entscheide,
ist nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht ganz klar. Es wird an sich
vorausgesetzt, dass der Landammann in Zweifelsfällen nicht allein
entscheidet, sondern gemäss Art. 34 Abs. 3 KV verfährt, und dass in den
übrigen Fällen, in denen das Mehrheitsverhältnis leicht feststellbar
ist, das Abstimmungsergebnis vom Vorsitzenden richtig wiedergegeben wird
und hierüber kein Streit entsteht. Art. 34 Abs. 4 KV dürfte aber doch
dahin auszulegen sein, dass auch eine vom Landammann allein getroffene
Feststellung in gleicher Weise unanfechtbar ist wie ein unter Mitwirkung
von vier weiteren Behördemitgliedern gefällter Entscheid.

    Wieweit die das Abstimmungsergebnis feststellende Behörde ihren
Entscheid selber in Wiedererwägung ziehen darf, ist eine andere Frage, die
durch Art. 34 Abs. 4 KV nicht, jedenfalls nicht unmittelbar beantwortet
wird. Es versteht sich, dass nicht nach Belieben auf ein verkündetes
Abstimmungsergebnis zurückgekommen und eine Wiederholung der Abstimmung
angeordnet werden kann. Gründe der Rechtssicherheit und das Interesse
an einem geordneten Abstimmungsverfahren stehen dem entgegen. Die durch
Art. 34 Abs. 4 KV als "unanfechtbar" erklärten Entscheide unterliegen
insofern auch einem Wiedererwägungsverbot. Dieses besitzt aber keine
absolute Geltung. Wenn besondere Umstände es rechtfertigen, kann
der Vorsitzende der Landsgemeinde ein verkündetes Abstimmungsergebnis
zurücknehmen und über das fragliche Geschäft nochmals abstimmen lassen. Er
trägt die Verantwortung dafür, dass die Abstimmungen der Landsgemeinde
korrekt durchgeführt werden.

    c) Die Wiederholung der Abstimmung hatte unter den vorliegenden
Umständen praktisch die Funktion einer Nachzählung. Eine solche kann nach
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch ohne entsprechende kantonale
Vorschrift angeordnet werden, wenn sie zur zuverlässigen Feststellung
des Abstimmungsresultates als geboten erscheint (BGE 101 Ia 245; 98 Ia
85). Im zu beurteilenden Fall bestand für den Landammann Anlass, an der
Richtigkeit des von ihm festgestellten Abstimmungsergebnisses zu zweifeln,
nachdem dessen Verkündung unter den Stimmbürgern Protest hervorgerufen
hatte und offenbar auch seitens der Protokollführer auf das Vorliegen
eines Irrtums hingewiesen worden war. In einer derartigen Situation
war es dem Landammann nicht verwehrt, eine Wiederholung der Abstimmung
anzuordnen, um das Stimmenverhältnis - nötigenfalls unter Beihilfe von
vier Regierungsratsmitgliedern - nochmals abschätzen zu können. Auf
Grund des bundesrechtlichen Anspruches auf richtige Feststellung des
Abstimmungsergebnisses war er zu einem solchen Vorgehen berechtigt.

    d) Dass das Ergebnis der zweiten Abstimmung unrichtig festgestellt
worden sei, wird von den Beschwerdeführern nicht behauptet. Sie wenden
jedoch ein, es habe sich um das letzte Geschäft der Landsgemeinde
gehandelt, weshalb erfahrungsgemäss angenommen werden müsse, dass eine
ganze Anzahl von Stimmbürgern nach Durchführung der ersten Abstimmung den
Landsgemeindering bereits verlassen und an der zweiten Abstimmung nicht
mehr teilgenommen habe. Der Regierungsrat stellt dies in Abrede mit der
Begründung, die zweite Abstimmung sei unmittelbar im Anschluss an die
erste angekündigt worden, noch bevor eine ins Gewicht fallende Anzahl von
Stimmbürgern den Ring habe verlassen können. Die Beschwerdeführer bringen
nichts vor, was diese tatsächliche Feststellung der kantonalen Behörde
als offensichtlich unrichtig und willkürlich erscheinen lassen würde. Es
besteht umso weniger Grund, an der Richtigkeit und Zuverlässigkeit des
in der zweiten Abstimmung festgestellten Ergebnisses zu zweifeln, als
dieses offenbar mit dem Resultat der ersten Abstimmung übereinstimmt;
die Feststellung des Regierungsrates, der Memorialsantrag sei schon
in der ersten Abstimmung klar abgelehnt worden, wird auch von den
Beschwerdeführern nicht ernsthaft bestritten. Sie fechten das bei der
Wiederholung der Abstimmung festgestellte definitive Ergebnis nur deshalb
an, weil sie der Ansicht sind, dass der Landammann gemäss Art. 34 Abs. 4 KV
auf seinen ersten Entscheid nicht mehr hätte zurückkommen dürfen. Dieser
Einwand ist jedoch, wie dargelegt, nicht stichhaltig. Die Beschwerde ist
daher abzuweisen.

Erwägung 4

    4.- Gemäss bundesgerichtlicher Praxis wird bei Beschwerden nach
Art. 85 lit. a OG auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet.