Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 408



104 Ia 408

61. Auszug aus dem Urteil vom 13. Dezember 1978 i.S. Rankl und Konsorten
gegen Leder-Locher AG und Konsorten sowie Kassationsgericht des Kantons
Zürich Regeste

    Kantonales Zivilprozessrecht. Art. 4 BV, vorsorgliche Massnahmen
gemäss Art. 31 MSchG.

    1. Überprüfungsbefugnis des zürcherischen Kassationsgerichts
hinsichtlich prozessualer und materiellrechtlicher Rügen (E. 3).

    2. Ist in einem Streit um vorsorgliche Massnahmen nach MSchG die
Frage, ob der Kläger "glaubhaft gemacht" hat, dass die Gegenpartei sein
Markenrecht verletzt hat, materieller oder prozessualer Natur? Begriff des
"Glaubhaftmachens" (E. 4 und 5).

Sachverhalt

    A.- Heiner Rankl ist Inhaber einer am 30. Mai 1974 unter der Nr. 406
434 international registrierten und am 31. Dezember 1975 unter Nr. 418 966
für zusätzliche Warenklassen eingetragenen Bildmarke. Lizenznehmerin für
die Herstellung und den Vertrieb der mit dieser Marke versehenen Waren sind
die Aigner International AG und die Etienne Aigner (Suisse) AG. Die Firma
Leder-Locher AG bringt seit Dezember 1977 unter der Sammelbezeichnung
"Leder-Locher 'exclusive'" Lederwaren in Verkauf, die mit einem der
erwähnten Marke ähnlichen Warenzeichen versehen sind.

    Auf Begehren von Rankl, der Etienne Aigner International AG und der
Etienne Aigner (Suisse) AG erliess der Einzelrichter am Handelsgericht
des Kantons Zürich am 3. Februar 1978 gegenüber der Leder-Locher AG und
deren beiden Verwaltungsräten Hans und Mathilde Locher im summarischen
Verfahren eine vorsorgliche Massnahme. Es wurde ihnen verboten, die mit
dem vorstehend geschilderten Zeichen versehenen Waren des Sortiments
"exclusive" herzustellen, herstellen zu lassen, zu vertreiben, vertreiben
zu lassen oder für sie zu werben, unter der Androhung der Bestrafung der
Firmenorgane wegen Ungehorsams im Sinne von Art. 292 StGB. Gleichzeitig
wurde den Gesuchstellern eine zwanzigtägige Frist zur Einreichung einer
Klage im ordentlichen Verfahren angesetzt.

    Gegen diese Verfügung erhoben die Leder-Locher AG sowie
Hans und Mathilde Locher beim Kassationsgericht des Kantons Zürich
Nichtigkeitsbeschwerde. Das Kassationsgericht hiess diese mit Entscheid vom
14. April 1978 gut und hob die angefochtene Verfügung des Einzelrichters
auf. Zur Begründung führte es aus, Voraussetzung für die Anordnung
vorsorglicher Massnahmen nach Art. 31 MSchG sowie nach § 222 Ziff. 3
der revidierten zürcherischen Zivilprozessordnung vom 13. Juni 1976 (im
folgenden: ZPO) sei, dass der behauptete Ausspruch glaubhaft gemacht
werde. Da es dabei im Ergebnis um die vorzeitige Vollstreckung eines
streitigen Verbotsanspruchs gehe, müssten an dessen Glaubhaftmachung
strenge Anforderungen gestellt werden. Ein vorläufiges Verbot der
Verwendung des Zeichens der Firma Leder-Locher wäre nur dann zulässig, wenn
in genügendem Masse dargetan wäre, dass dieses die Marke der Gegenpartei
verletze. Das sei indessen nach den Ausführungen über den Charakter der
beiden Warenzeichen nicht der Fall. Der Einzelrichter habe deshalb durch
Erlass eines vorsorglichen Verbotes unter den gegebenen Umständen einen
wesentlichen Verfahrensgrundsatz verletzt, was nach § 281 Ziff. 1 ZPO zur
Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde und zur Aufhebung der vorsorglichen
Massnahme führen müsse.

    Gegen diesen Entscheid erhoben Heiner Rankl, die Etienne Aigner
International AG und die Etienne Aigner (Suisse) AG staatsrechtliche
Beschwerde mit dem Antrag, es sei der Beschluss des Kassationsgerichtes
des Kantons Zürich vom 14. April 1978 aufzuheben und die Verfügung
des Einzelrichters im summarischen Verfahren am Handelsgericht vom
3. Februar 1978 zu bestätigen. Die Firma Leder-Locher AG sowie ihre
beiden Verwaltungsräte beantragen, die Beschwerde abzuweisen. Das
Kassationsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren zu beurteilen bleibt
somit nur noch die Rüge, das Kassationsgericht habe kantonales Prozessrecht
willkürlich angewendet und damit gegen Art. 4 BV verstossen. In diesem
Zusammenhang bringen die Beschwerdeführer vor, das Kassationsgericht habe
ohne vertretbaren Grund die Nichtigkeitsbeschwerde der Leder-Locher AG und
ihrer Verwaltungsräte gegen den vorsorglichen Entscheid des Einzelrichters
statt auf Grund von § 281 Ziff. 3 ZPO (Verletzung klaren materiellen
Rechtes) in Anwendung von § 281 Ziff. 1 ZPO (Verletzung eines wesentlichen
Verfahrensgrundsatzes) behandelt und sich durch diese Fehlinterpretation
der Nichtigkeitsgründe eine ihm nach zürcherischem Recht nicht zustehende
freie Kognitionsbefugnis angemasst. Die Beschwerdegegner bemerken zu
diesem Punkt einzig, von Willkür könne deshalb keine Rede sein, weil der
Einzelrichter bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Erlass einer
vorsorglichen Massnahme sein Ermessen eindeutig überschritten habe.

    b) Gemäss § 69 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes in
der Fassung vom 13. Juni 1976 (GVG) können vorsorgliche Massnahmen
des handelsgerichtlichen Einzelrichters im Sinne von § 61 GVG in
Verbindung mit § 222 Ziff. 2 und 3 ZPO nur mit Nichtigkeitsbeschwerde beim
Kassationsgericht angefochten werden. § 281 ZPO, der die Kassationsgründe
aufzählt, lautet wie folgt:

    "Gegen Vor-, Teil- und Endentscheide sowie gegen Rekursentscheide
   und Rückweisungen im Berufungsverfahren kann Nichtigkeitsbeschwerde
   erhoben werden, wenn geltend gemacht wird, der angefochtene

    Entscheid beruhe zum Nachteil des Nichtigkeitsklägers

    1. auf der Verletzung eines wesentlichen Verfahrensgrundsatzes,

    2. auf einer aktenwidrigen oder willkürlichen tatsächlichen Annahme
   oder

    3. auf einer Verletzung klaren materiellen Rechts."

    Aus der Wendung "Verletzung eines wesentlichen Verfahrensgrundsatzes"
in § 281 Ziff. 1 ZPO ist abzuleiten, dass der Kassationsinstanz bei
der Prüfung der prozessualen Rügen des Nichtigkeitsklägers freie
Prüfungsbefugnis zusteht (STRÄULI/MESSMER, aaO, N. 14 zu § 281
ZPO). Demgegenüber darf eine Nichtigkeitsbeschwerde aus materiellen
Gründen nur bei Verletzung klaren Rechts gutgeheissen werden. "Die
Nichtigkeitsbeschwerde kann nur gegen grobe Verstösse und Irrtümer bei der
Anwendung materiellen Rechts Abhilfe schaffen... Vorausgesetzt wird, dass
über die Auslegung einer Rechtsvorschrift kein begründeter Zweifel bestehen
kann" (STRÄULI/MESSMER, N. 45 zu § 281 ZPO mit zahlreichen Verweisungen
auf die Rechtsprechung zu der in diesem Punkt im wesentlichen gleich
lautenden Bestimmung von § 344 Ziff. 9 alt ZPO). Die Umschreibung der
Kognitionsbefugnis des Kassationsgerichtes bei Anwendung von § 281 Ziff. 3
ZPO deckt sich somit weitgehend mit derjenigen des Bundesgerichtes im
staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren wegen Willkür im Sinne von Art. 4 BV.
Der Unterschied hinsichtlich der dem Kassationsgericht einerseits aufgrund
von § 281 Ziff. 1 zustehenden umfassenden und der aufgrund von § 281
Ziff. 3 gegebenen beschränkten Prüfungsbefugnis zeigt, dass der Frage,
welcher Nichtigkeitsgrund im konkreten Fall anwendbar sei, entscheidende
Bedeutung zukommt.

Erwägung 4

    4.- Nach den vorstehenden Ausführungen hängt der Entscheid über die
staatsrechtliche Beschwerde davon ab, ob das Kassationsgericht ohne Willkür
annehmen durfte, die Art der Auslegung des Begriffs des "Glaubhaftmachens"
in einem bestimmten Rechtsstreit um vorsorgliche Massnahmen bedeute
die Anwendung eines wesentlichen Verfahrensgrundsatzes, oder ob es -
wie dies die Beschwerdeführer behaupten - in Wirklichkeit materielles
Recht angewendet habe, jedoch ohne zu prüfen, ob es sich dabei um klares
Recht handle.

    Das Kassationsgericht stützte sich im angefochtenen Entscheid
sowohl auf Art. 31 MSchG als auch auf § 222 Ziff. 3 ZPO. Zu Recht;
denn Art. 31 MSchG enthält die materiellrechtliche Grundlage für den
Erlass vorsorglicher Massnahmen auf dem Gebiete des Markenrechtes,
und § 222 Ziff. 3 ZPO bestimmt in prozessualer Hinsicht, dass solche
Massnahmen generell und unabhängig davon, wo sich ihre materiellrechtliche
Grundlage befinde, schon vor der Hängigkeit eines ordentlichen Prozesses
vom Einzelrichter im summarischen Verfahren erlassen werden können. Der
Begriff des "Glaubhaftmachens" findet sich ausdrücklich weder in der einen
noch in der andern der genannten Bestimmungen. Indessen ist unbestritten,
dass vorsorgliche Massnahmen, die auf eine Vorwegnahme des Vollzuges
des eingeklagten oder einzuklagenden Anspruchs hinauslaufen, dessen
Glaubhaftmachung voraussetzen. Für das materielle Markenrecht wird dies
aus der Parallele zum Patentrecht abgeleitet, dessen Art. 77 Abs. 2 die
Voraussetzung des Glaubhaftmachens ausdrücklich nennt (vgl. dazu TROLLER,
Immaterialgüterrecht, 2. Aufl., Basel 1971, Band II, S. 1201 f. und
1204; MATTER, Komm. zum MSchG, Zürich 1939, S. 261, N. II/3 zu Art. 31
MSchG). Unter "Glaubhaftmachen" wird im Immaterialgüterrecht ebenso
wie bei der Prüfung von Gesuchen um vorsorgliche Massnahmen aus anderen
Rechtsgebieten ein Wahrscheinlichkeitsbeweis verstanden (vgl. für das
Immaterialgüterrecht: TROLLER, aaO S. 1202). Das Bundesgericht hat in
einem Entscheid zum bernischen Recht, das sich in diesem Punkt nicht vom
zürcherischen unterscheidet, ausgeführt, Glaubhaftmachen heisse, dass
der Richter nicht von der Richtigkeit der aufgestellten tatsächlichen
Behauptungen überzeugt zu werden brauche, sondern dass es genüge,
ihm aufgrund objektiver Anhaltspunkte den Eindruck einer gewissen
Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins der in Frage stehenden Tatsachen
zu vermitteln, ohne dass er dabei die Möglichkeit ausschliessen müsse,
dass die Verhältnisse sich anders gestalten könnten. Sodann fährt das
Gericht fort (BGE 88 I 14 f.):

    "Ob sich die "Glaubhaftmachung" auch auf die rechtliche Begründetheit
   des Anspruchs beziehe, ist umstritten. Während Leuch (N. 3 zu

    Art. 326 bern. ZPO) die Annahme vertritt, der Richter habe "restlos"
   abzuklären, ob der Anspruch unter den glaubhaft gemachten tatsächlichen

    Voraussetzungen Bestand habe, neigt die Praxis dazu, um der
   erforderlichen Raschheit des Verfahrens willen sich (wenigstens in
   schwierigen Rechtsfragen) auf eine summarische Prüfung zu beschränken
   (vgl. ZR 47 Nr. 96 S. 214)."

    Im vorliegenden Fall muss zu dieser Frage nicht Stellung genommen
werden. Es genügt, festzustellen, dass der Begriff des "Glaubhaftmachens"
notwendigerweise zwei Aspekte aufweist: einerseits ist dem Richter die
Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der anspruchsbegründenden Tatsachen
darzulegen, und anderseits muss dieser entweder abschliessend oder doch
zum mindesten summarisch prüfen, ob sich aus diesen Tatsachen der geltend
gemachte Anspruch ergibt. Das erste ist offensichtlich eine prozessuale,
das zweite eine materiellrechtliche Frage.

Erwägung 5

    5.- Geht man hiervon aus, so ergibt sich für den vorliegenden Fall
folgendes:

    Der angefochtene Entscheid des Kassationsgerichtes bezieht sich
nicht auf Beweisfragen. Es handelte sich nicht darum, zu prüfen,
ob der Einzelrichter bestimmte zusätzliche Erhebungen etwa über die
Verwechselbarkeit der streitigen Marken oder über deren Gebrauch hätte
anstellen müssen (vgl. STRÄULI/ MESSMER, aaO, N 34 zu § 281 ZPO). Vielmehr
ging das Kassationsgericht von den vorliegenden Akten aus, die es in
Übereinstimmung mit dem Einzelrichter mindestens für das Massnahmeverfahren
als ausreichend betrachtete. Überprüft und nicht gebilligt hat das
Kassationsgericht einzig die Feststellung des Einzelrichters, die nicht
nur glaubhaft gemachten, sondern sich - soweit hier wesentlich - klar
aus den Akten ergebenden Tatsachen liessen wenigstens bei summarischer
Prüfung den Schluss auf eine Markenrechtsverletzung zu. Es hat sich
somit nicht mit der prozessualen, sondern mit der materiellrechtlichen
Seite des Glaubhaftmachens befasst. Zwar wird im Entscheid ausgeführt,
Gesuche um vorsorgliche Massnahmen der hier in Frage stehenden Art
stellten tatsächlich eine vorweggenommene Vollstreckung des behaupteten
Verbotsanspruches dar, weshalb an die Glaubhaftmachung strenge
Anforderungen zu stellen seien. Das ändert aber nichts daran, dass das
Kassationsgericht nicht die Beweiserhebung durch den Einzelrichter als
ungenügend betrachtete, sondern die materiellen Voraussetzungen für die
angestrebte Massnahme.

    Denkbar wäre allenfalls, dass das Kassationsgericht der Auffassung
war, der zürcherische Gesetzgeber habe den Entscheid des Sachrichters über
vorsorgliche Massnahmen ganz allgemein als einen reinen Verfahrensentscheid
betrachtet; denn nur wenn dies zuträfe, könnte die Behauptung, eine solche
Massnahme sei aus materiell unzureichenden Gründen erlassen worden, als
Rüge der Verletzung "eines wesentlichen Verfahrensgrundsatzes" aufgefasst
werden. Es ist fraglich, ob ein solcher Standpunkt mit dem Bundesrecht
vereinbar wäre (BGE 56 II 324). Vor allem aber liefe er darauf hinaus,
der Kassationsinstanz im Rechtsmittelverfahren gegenüber dem Handelsgericht
und seinem Einzelrichter praktisch die nämliche Stellung einzuräumen,
wie sie einer Rekursinstanz zukommt. Das widerspricht aber klarerweise
dem Willen des zürcherischen Gesetzgebers, der anlässlich der Revision von
GVG und ZPO vom 13. Juni 1976 den Rekurs gegenüber solchen Entscheidungen
ausdrücklich fallen gelassen hat (vgl. Protokoll der kantonsrätlichen
Kommission S. 291/292, 694 und 709; Protokoll des Kantonsrates 1974/1975,
S. 7319).

    Hatte das Kassationsgericht somit offensichtlich eine
materiellrechtliche Frage zu beurteilen, bei der ihm nach § 281 Ziff. 3
ZPO lediglich beschränkte Überprüfungsbefugnis zustand, so ist es in
Willkür verfallen, wenn es sie als verfahrensrechtliche Frage behandelte
und gemäss § 281 Ziff. 1 ZPO freier Prüfung unterwarf. Dies führt zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Dem Kassationsgericht obliegt
es, die Verfügung des Einzelrichters unter dem Gesichtswinkel von § 281
Ziff. 3 ZPO, d. h. mit beschränkter Kognitionsbefugnis, neu zu überprüfen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf eingetreten werden
kann, und der Beschluss des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom
14. April 1978 wird aufgehoben.