Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 314



104 Ia 314

48. Auszug aus dem Urteil vom 20.9.1978 i.S. G. und F. gegen
Staatsanwaltschaft und Kassationsgericht des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK.  Parteiöffentlichkeit der
Beweiserhebungen im Strafprozess.

    1. Die in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK gewährleistete
sog. Waffengleichheit verleiht dem Beschuldigten keinen Anspruch auf
unmittelbare Teilnahme bei Zeugeneinvernahmen während der Untersuchung
(E. 4b).

    2. Tragweite von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK in bezug auf
Zeugenaussagen, die für das Strafurteil wesentlich sind oder sein
könnten. Auch die aus dieser Bestimmung fliessenden Rechte des
Beschuldigten unterstehen dem Regime des kantonalen Verfahrensrechts
(E. 4c).

Sachverhalt

    A.- In der Strafuntersuchung gegen G. und F. wurden zahlreiche Zeugen
einvernommen, ohne dass die Angeschuldigten oder deren Verteidiger
zur Befragung vorgeladen worden wären. Als der Untersuchungsrichter
die Untersuchung als vollständig erachtete, erliess er aufgrund
von § 87 der Strafprozessordnung für den Kanton Thurgau (StPO) eine
Akteneröffnungsverfügung und setzte dem Verteidiger eine Frist zur Stellung
allfälliger Begehren um Beweisergänzung. Dem hierauf eingereichten
Antrag auf Einholung gewisser Auskünfte wurde entsprochen. Nachdem die
Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hatte, zogen die Beschuldigten einen
neuen Verteidiger bei, der innert gesetzlicher Frist das Begehren um
Beurteilung durch das Kriminalgericht und eine Reihe von Beweisanträgen
stellte, insbesondere die gerichtliche Befragung von über hundert Zeugen,
die bereits durch den Untersuchungsrichter einvernommen worden waren. Das
Kriminalgericht lehnte es ab, diese Zeugenbefragungen in Anwesenheit
der Angeklagten zu wiederholen und fällte sein Urteil nach Einholung
eines psychiatrischen Gutachtens. Gegen diesen Entscheid erhoben die
Angeklagten kantonale und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und
gegen den abweisenden Entscheid des thurgauischen Kassationsgerichts
staatsrechtliche Beschwerde. Sie machen geltend, es verstosse gegen Art. 4
BV und gegen Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, dass mit einer Ausnahme sämtliche
Zeugen lediglich vom Untersuchungsrichter in ihrer Abwesenheit vernommen
worden seien und das Kriminalgericht ihren Antrag, die Zeugenbefragung
zu wiederholen, abgelehnt habe.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- (Vereinbarkeit des nach dem Prinzip der geheimen Untersuchung
durchgeführten Verfahrens mit Art. 4 BV).

Erwägung 4

    4.- Die Rechtsprechung anerkennt heute, dass einem Beschuldigten
aufgrund von Art. 4 BV das Recht, die Abnahme erheblicher Beweise in
seinem Beisein zu verlangen, dann nicht abgesprochen werden kann, wenn das
kantonale Recht die Möglichkeit einer Teilnahme kennt und diese frist-
und formgerecht begehrt wird (BGE 103 Ia 38/9). Man kann sich fragen,
ob diese Praxis mit Rücksicht auf Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, unter
dessen Gesichtswinkel sie noch nicht überprüft worden ist, modifiziert
werden muss.

    a) Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK gewährleistet dem Angeklagten das
Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen
("interroger ou faire interroger") und die Ladung und Vernehmung der
Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen
zu erwirken.

    Diese Bestimmung ist offensichtlich primär auf das Parteiverfahren nach
angelsächsischem Muster zugeschnitten (vgl. dazu z.B. JUNOD, La Suisse
et la Convention européenne des droits de l'homme, Diss. NE, S. 50/1 und
JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 118 f.). Das zeigen
bereits die verwendeten Begriffe "Entlastungs-" und "Belastungszeugen",
die zur kontinentaleuropäischen Untersuchungsmaxime nicht recht passen,
gibt es doch hier keine Zeugen, die zum vornherein entlasten oder
belasten sollen, sondern nur solche, die zur Aufklärung des objektiven
Sachverhalts herangezogen werden. Natürlich kann das nicht hindern, dass
ihre Aussagen den Angeklagten dann doch ent- oder belasten und diese daher
von der Verteidigung oder der Anklage ins Feld geführt werden. Eigentliche
Parteizeugen gibt es aber unter dem Regime der Untersuchungsmaxime nicht.

    b) Der ins Auge gefasste Artikel dient vorerst einmal, wie auch die
kantonalen Instanzen festgehalten haben, der Waffengleichheit der Parteien
(vgl. z.B. SCHUBARTH, ZSR 94 I S. 509 Nr. 166; GURADZE, Die Europäische
Menschenrechtskonvention, S. 109/10; auch: Die Menschenrechte in der
Praxis des Europarates, Nachschlagwerk der Rechtsprechung zur EMRK
(1955-1967), Nr. 111 und 112; Annuaire de la Convention européenne
des droits de l'homme [Ann.] XVII S. 315 Nr. 5523/72). Insbesondere
sollen die Parteien unter einheitlichen Voraussetzungen Ladung und
Einvernahme von Zeugen verlangen und unter gleichen Bedingungen Fragen
an sie stellen können. Die Beschwerdeführer bringen vor, diese erste
Garantie der Bestimmung sei vorliegend verletzt worden. Der thurgauische
Verhörrichter müsse nämlich "nicht als Unparteiischer, sondern
als Vertreter der Strafverfolgungsbehörden" gewertet werden. Daher
hätte auch den Angeschuldigten die unmittelbare Teilnahme bei den
Zeugeneinvernahmen während der Untersuchung zugestanden werden
sollen. Diese Rüge ist unbegründet. Grundsätzlich ist in Fällen
wie dem vorliegenden im Kanton Thurgau das Verhörrichteramt mit der
Untersuchung betraut. Es ist institutionell wie personell von der
anklageerhebenden Staatsanwaltschaft getrennt. Der Untersuchungsrichter,
der gemäss § 84 StPO allen belastenden und entlastenden Tatsachen mit
der gleichen Sorgfalt nachzugehen hat, lädt die Zeugen in eigener
Kompetenz vor und befragt sie, um über alle bedeutsamen Umstände
Klarheit zu erhalten. Die Ergebnisse seiner Untersuchung können daher
der Verteidigung wie der Anklage zugute kommen. Dass dadurch die unter
dem Schutze der EMRK stehende Waffengleichheit verletzt sein sollte,
ist nicht einzusehen. Warum und inwiefern insbesondere im konkreten Fall
der Verhörrichter als Vertreter der Anklagebehörde aufgetreten sei und
als solcher einseitige Zeugenbefragung vorgenommen haben soll, wird denn
auch von den Beschwerdeführern nicht dargelegt. Unter diesem Gesichtspunkt
erweist sich die Beschwerde auf jeden Fall als nicht begründet.

    c) Die Beschwerdeführer folgern aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK über die
Waffengleichheit hinaus, es gelte der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit
für Beweise, die bei der Urteilsfindung verwertet werden, gleichgültig,
ob sie vor Gericht oder im Untersuchungsstadium erhoben werden.

    Zu prüfen ist demnach, ob Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und insbesondere
der dort verankerte Gedanke, den Zeugen (der Gegenpartei) Fragen stellen zu
können, im kontinentaleuropäischen System nicht noch eine weitere Bedeutung
hat, als nur diejenige einer Gleichstellung der Parteien. Zweifellos muss
die Vorschrift im Zusammenhang mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK gesehen werden,
der dem Beschuldigten in jedem Falle einen fairen Prozess sichert. Vor
diesem Hintergrund drängt sich nun die Frage auf, ob die ins Auge
gefasste Bestimmung das direkte Verfahren des angelsächsischen Rechtes
mit den im Parteienprozess jedenfalls äusserlich verstärkten eigenen
Verteidigungsmöglichkeiten nicht bis zu einem gewissen Masse in den
kontinentalen Prozess übertragen will.

    Für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage ist die Auslegung
des Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK durch die Menschenrechtskommission
heranzuziehen. Wegleitend muss vor allem der Entscheid Ann. XVI S. 113
ff. Nr. 5049/71, insbes. S. 123, sein. Es handelte sich dort um einen
Fall, wo auf dem Rechtshilfeweg ein Zeuge einvernommen worden war,
der die Angeklagten belastete. Weder den Beschuldigten oder ihren
Verteidigern noch der Anklagebehörde (wohl aber einem Ausschuss
des urteilenden Gerichts) hatte man die Anwesenheit gestattet. Die
Angeklagten, bzw. ihre Verteidiger, hatten aber die gemachten Aussagen
einsehen können und Gelegenheit erhalten, nachträglich schriftlich
Ergänzungsfragen zu stellen, welche dann in einer weiteren Einvernahme
dem Zeugen vorgelegt worden waren. Die Kommission entschied hier,
das in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Recht, den Zeugen Fragen
zu stellen oder stellen zu lassen, sei nicht verletzt worden. Bedenkt
man des weitern, dass die Kommission immer die Meinung vertreten hat,
Zeugen seien (z.B. auf Antrag der Verteidigung) dann einzuvernehmen, wenn
ihre Aussagen zur Ermittlung der Wahrheit beitragen könnten (vgl. etwa
Ann. XIV S. 635 Nr. 4607/70, zusammengefasst S. 727 Ziff. 8; Ann. XVII
S. 315 Nr. 5523/72, zusammengefasst S. 501, IV), wird Art. 6 Ziff. 3
lit. d EMRK besser verständlich: Die Bestimmung bezweckt vor allem,
wie schon die Vorinstanz ausgeführt hat, dass Zeugenbefragungen nicht
einseitig vorgenommen werden, sondern alles zur Kenntnis des Gerichts
kommt, was die Zeugen wissen und was für den Prozess bedeutend ist. Soweit
der Beschuldigte und sein Verteidiger dabei mithelfen können, muss ihnen
das Recht zur Fragestellung gewahrt sein. Die Bestimmung schliesst daher
aus, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen gestützt werde, ohne
dass dem Beschuldigten wenigstens einmal Gelegenheit geboten worden
ist, bei deren Vernehmung mündlich oder nach Einsicht in die Aussagen
schriftlich Ergänzungsfragen zu stellen. In diesem Sinne drückt sich auch
SCHUBARTH (ZSR 94 I 509 Nr. 167) aus, der das Problem nuancierter angeht,
als die Beschwerdeführer es wahrhaben wollen. Zwar wirft dieser Autor
die (rechtspolitische) Frage auf, ob der Beizug des Angeschuldigten
bei Zeugeneinvernahmen im Untersuchungsverfahren nicht auf jeden Fall
erforderlich wäre; er macht die Gültigkeit von belastenden Zeugenaussagen
aber nur von einer Möglichkeit zur Fragestellung abhängig. Dass diese
Fragen mündlich und anlässlich einer Gegenüberstellung gestellt werden
müssten, sagt er entgegen der Meinung der Beschwerdeführer nirgends.

    Der Zweck von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verlangt ausserdem, dass der
Beschuldigte allgemein auch Zeugen anrufen kann. Von ihrer Einvernahme
darf nur abgesehen werden, wenn sie für die Sachentscheidung nichts
wesentliches beizutragen vermögen. Die Menschenrechtskommission hat
sich bei der Auslegung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK allerdings
stets vom Gedanken leiten lassen, dass den Strafgerichten ein
beträchtlicher Ermessensspielraum zusteht, wenn darüber zu entscheiden
ist, welche Zeugenaussagen als erheblich zu betrachten sind, d.h. ob
die Vernehmung der angerufenen Zeugen zur Ermittlung der Wahrheit
beitragen könne (vgl. z.B. Ann. XIV S. 635 Nr. 4607/70 und Ann. XVII
S. 315 Nr. 5523/72). Ausserdem hat sie stets die Auffassung vertreten,
die ins Auge gefasste Bestimmung habe nicht den Sinn, innerstaatliche
Vorschriften auszuschliessen, die für die Zulassung und Vernehmung von
Zeugen gewisse Voraussetzungen aufstellen (vgl. Die Menschenrechte in
der Praxis des Europarates, S. 85 Nr. 187; GURADZE, aaO, S. 109). Weder
aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK noch aus der zugehörigen Rechtsprechung
lässt sich daher ableiten,

    (a) dass die Vernehmung von Zeugen in der Untersuchung durch einen
neutralen Untersuchungsrichter ohne Beizug des Angeschuldigten überhaupt
unzulässig sei;

    (b) dass dem Untersuchungsrichter und dem Gericht nicht die
Freiheit zustehe, vom Angeschuldigten angerufene Zeugen auf Grund einer
antizipierten Beweiswürdigung wegen Unerheblichkeit der zu erwartenden
Aussagen nicht vorzuladen;

    (c) dass dem Beschuldigten mehrmals Gelegenheit geboten werden
müsse, zu verlangen, dass Zeugen in seiner Gegenwart oder ein zweites
Mal ergänzend befragt werden.

    Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass Art. 6 Ziff. 3
lit. d EMRK zum Teil über die auf Grund von Art. 4 BV in der Praxis
gewährleisteten Rechte hinausgeht: Es ist dem Beschuldigten unabhängig von
der Ausgestaltung des kantonalen Prozessrechts mindestens einmal während
des Verfahrens Gelegenheit zu geben, der Einvernahme von Zeugen, die ihn
belasten, beizuwohnen und Ergänzungsfragen zu stellen oder aber, sofern
er der Vernehmung nicht beiwohnen kann, nach Einsicht in die Aussagen
schriftlich ergänzende Fragen anzubringen. Das hindert nicht, dass auch
dieses prozessuale Recht unter dem Regime des kantonalen Verfahrensrechtes
steht. Es kann den Kantonen nicht verwehrt sein, die Einhaltung gewisser
Vorschriften bei der Ausübung dieses Rechtes zu verlangen, so etwa,
dass entsprechende Anträge frist- und formgerecht gestellt werden. Es
scheint auch klar, dass auf dieses Recht ausdrücklich oder stillschweigend
verzichtet werden kann und dass ein solcher Verzicht die Zeugenaussagen
weder nichtig macht, noch einen Anspruch auf Wiederholung entstehen lässt.

Erwägung 5

    5.- (Abweisung der Beschwerde, weil die Beschwerdeführer nach der
Akteneröffnung auf die nochmalige Einvernahmen verzichtet hatten und die
Beschwerde im übrigen ungenügend substantiiert war.)