Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 31



104 Ia 31

9. Urteil vom 22. März 1978 i.S. H. gegen Obergericht des Kantons
Solothurn. Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege.

    § 106 Abs. 1 der Solothurner Zivilprozessordnung verstösst
gegen Art. 4 BV, soweit nach dieser Bestimmung regelmässig,
nicht nur bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten zu berücksichtigen
ist, ob der Gesuchsteller seine Mittellosigkeit selbst verschuldet
hat. Rechtsmissbrauch ist nur anzunehmen, wenn der Gesuchsteller gerade
im Hinblick auf den zu führenden Prozess auf einen Erwerb verzichtet
(Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute H. stehen in Scheidung. H. ersuchte als Beklagter die
Solothurner Gerichtsbehörden erfolglos um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege. Das Obergericht wies sein Begehren ab mit der Begründung,
H. sei zwar offensichtlich vermögens- und einkommenslos, doch sei er
nicht schuldlos in diese Lage geraten und scheine nicht gewillt zu sein,
daran etwas ändern zu wollen; das Gesuch um Bewilligung der unentgeltliche
Rechtspflege sei daher rechtsmissbräuchlich. Die gegen diesen Entscheid
erhobene staatsrechtliche Beschwerde wird vom Bundesgericht gutgeheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer stellt den Antrag, es sei ihm die vollständige
unentgeltliche Rechtspflege im Sinne von § 109 Abs. 1 der solothurnischen
Zivilprozessordnung (ZPO) zu bewilligen.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde kann in der Regel lediglich die
Aufhebung des angefochtenen Entscheides verlangt werden. Weitergehende
Begehren sind nur ausnahmsweise zulässig, nämlich dann, wenn der
verfassungsmässige Zustand nicht schon mit der Aufhebung des kantonalen
Entscheides hergestellt würde, sondern hiefür eine positive Anordnung des
Bundesgerichtes notwendig wäre (BGE 100 Ia 395 E. 1d). Nach bisheriger
Rechtsprechung sind staatsrechtliche Beschwerden, die sich gegen
die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege richten, nicht zu
diesen Ausnahmefällen zu zählen (BGE 99 Ia 327 E. 1b, 89 I 2, 85 I 3).
Selbst wenn man von dieser Praxis abweichen und bei Gutheissung der
Beschwerde den kantonalen Richter anweisen wollte, die unentgeltliche
Rechtspflege zu gewähren, so wäre dies nur möglich, wenn der Sachverhalt
bereits nach allen Richtungen abgeklärt worden wäre. Dies trifft im
vorliegenden Fall nicht zu, da im kantonalen Verfahren offen geblieben
ist, ob der Beschwerdeführer der Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt
bedürfe. Auf den Antrag auf Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
kann daher nicht eingetreten werden. Indessen ist in diesem Antrag auch
das Begehren um Aufhebung des angefochtenen Entscheides mitenthalten,
so dass die Beschwerde in diesem Sinne zu behandeln ist.

Erwägung 2

    2.- Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts hat eine
bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und damit auf Ernennung eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern sie eines solchen zur gehörigen
Wahrung ihrer Interessen bedarf (BGE 99 Ia 327 E. 2 mit Verweisungen). Das
Bundesgericht untersucht in erster Linie, ob die Bestimmungen des
kantonalen Prozessrechtes über die unentgeltliche Rechtspflege nicht in
willkürlicher Weise angewendet worden seien. Es prüft im weiteren, und
zwar in rechtlicher Hinsicht frei, ob der unmittelbar aus dem Grundsatz
der Rechtsgleichheit im Sinne von Art. 4 BV fliessende Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege verletzt worden sei (BGE 99 Ia 440 E. 3,
327 E. 2 mit Verweisungen).

Erwägung 3

    3.- § 106 Abs. 1 der solothurnischen ZPO lautet:

    "Wer durch ein von Gemeindeammann und Gemeindeschreiber
   seines Wohnortes ausgestelltes Zeugnis oder durch ein Zeugnis der
   ausserhalb des Kantons hiefür zuständigen Behörde nachweist, dass
   er vermögenslos ist und sein Einkommen ohne sein Verschulden nicht
   hinreicht, neben dem notwendigen Lebensunterhalt für sich und seine

    Familie die Kosten der Prozessführung aufzubringen, kann die Gewährung
   der unentgeltlichen Rechtspflege verlangen."

    Der Beschwerdeführer beanstandet, dass das Obergericht angenommen hat,
es treffe ihn an seiner schlechten finanziellen Situation ein massgebliches
Verschulden und er sei nicht gewillt, diese zu ändern. Eine Verbesserung
seiner Lage sei ihm, wie der Beschwerdeführer darlegt, auf Grund äusserer
Umstände - Hospitalisierung, Haft und Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche
- nicht möglich gewesen.

    Das Obergericht hat seinem Entscheid die Erwägung zugrunde gelegt,
dass der Beschwerdeführer innert der ihm angesetzten Frist weder belegt
habe, dass er beim Arbeitsamt gemeldet sei und nicht habe vermittelt
werden können, noch dass er sich erfolglos um Arbeitsstellen bemüht
habe, oder dass er zufolge Hospitalisierung arbeitsunfähig gewesen oder
immer noch sei; belegt sei einzig, dass er im November 1977 wegen eines
Suizidversuches für vier Tage hospitalisiert war. Es sei daher anzunehmen,
dass der Rekurrent arbeitsfähig sei, sich aber nicht um eine Arbeit
bemühe. Unter diesen Umständen sei sein Gesuch rechtsmissbräuchlich.

    Zu dieser Beweiswürdigung durch das Obergericht ist zu bemerken, dass
auf Grund der im Zeitpunkt des Entscheides vorhandenen Akten nicht ohne
weiteres auf Rechtsmissbrauch hätte geschlossen werden dürfen. Nachträglich
hat sich denn auch herausgestellt, dass der Beschwerdeführer der Auflage
zur Einreichung weiterer Beweismittel nicht nachgekommen ist, weil er
sich im Strafvollzug befand. Ob der Entscheid des Obergerichtes in dieser
Hinsicht geradezu willkürlich sei, wie der Beschwerdeführer geltend
zu machen scheint, kann allerdings offen bleiben, wenn sich ergibt,
dass § 106 Abs. 1 ZPO insoweit, als er verlangt, dass das Einkommen des
Gesuchstellers ohne sein Verschulden für die Bezahlung der Prozesskosten
nicht ausreiche, mit dem Bundesrecht unvereinbar ist.

Erwägung 4

    4.- Das Bundesgericht hat in BGE 99 Ia 438 ff. (und zuvor schon in BGE
58 I 292, oben) entschieden, dass einem Gesuchsteller die unentgeltliche
Prozessführung nicht deshalb verweigert werden dürfe, weil er die Armut
selbst verschuldet habe. Eine derartige Benachteiligung widerspräche
der Rechtsgleichheit, wie sie im Zusammenhang mit dem sich aus Art. 4 BV
ergebenden Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege verstanden werde. Auch
derjenige, der seine Mittellosigkeit verschuldet habe, müsse seine Rechte
auf prozessualem Wege durchsetzen oder verteidigen können.

    Das Solothurner Obergericht will die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege damit rechtfertigen, dass der Gesuchsteller nicht nur
seine Armut verschuldet habe, sondern auch nicht gewillt sei, an
seiner finanziellen Situation etwas zu ändern; in diesem Falle komme
das Armenrechtsgesuch einem Rechtsmissbrauch gleich. Hiezu hat das
Bundesgericht ebenfalls in BGE 99 Ia 442 ausgeführt, dass es grundsätzlich
auf die augenblicklichen Verhältnisse des Gesuchstellers ankomme und
ihm nicht entgegengehalten werden dürfe, in seinem Berufsstande seien
freie Stellen vorhanden und würden Löhne ausbezahlt, die die Begleichung
der Prozesskosten gestatteten. Allerdings ist die Möglichkeit, die
unentgeltliche Rechtspflege wegen Rechtsmissbrauchs zu verweigern,
nicht völlig ausgeschlossen, sondern auf die Fälle beschränkt worden,
wo der Gesuchsteller gerade im Hinblick auf den zu führenden Prozess eine
Arbeitsstelle aufgegeben oder eine andere nicht angetreten hat. Dass sich
der Beschwerdeführer so verhalten habe, erklärt das Obergericht jedoch
nicht. Offenbleiben kann wie im zitierten Urteil auch im vorliegenden
Fall die Frage, ob einem Gesuchsteller unter Umständen zugemutet werden
könne, mit der Prozessführung so lange zuzuwarten, bis er die nötigen
Mittel erspart habe: diese Möglichkeit kommt von vornherein nur für die
klagende Partei in Betracht; der Beklagte - hier der Beschwerdeführer -
kann auf den Zeitpunkt der Klageeinleitung keinen Einfluss nehmen.

    Es ergibt sich somit, dass § 106 Abs. 1 der solothurnischen ZPO den
bundesrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege verletzt,
soweit nach dieser Bestimmung bei der Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung das Verschulden auch in anderen Fällen als jenen des
Rechtsmissbrauches im oben dargelegten Sinne zu berücksichtigen ist. Der
angefochtene Entscheid verstösst daher gegen Art. 4 BV und ist aufzuheben.