Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 284



104 Ia 284

45. Auszug aus dem Urteil vom 22. Februar 1978 i.S. B. gegen Kanton
Solothurn und Kantonale Rekurskommission Solothurn Regeste

    Art. 84 Abs. 1 lit. a OG, Art. 62 Abs. 4 KV-SO und Art. 4 BV;
Staatssteuer.

    1. Begriff des verfassungsmässigen Rechts im Sinne von Art. 84 Abs. 1
lit. a OG (E. 2); Art. 62 Abs. 4 KV-SO, der bestimmt, dass von jedem
Einkommen ein zum Leben unbedingt notwendiger Betrag steuerfrei ist,
gewährleistet dem Bürger ein solches Recht (E. 3).

    2. Möglichkeit des Verfassungswandels; Art. 62 Abs. 4 KV-SO kommt
in der Gegenwart nur mehr die Bedeutung zu, dass bestimmte Abzüge
(Sozialabzüge) gewährt werden müssen (E. 4).

    3. Die gesetzliche Regelung, wonach einem Alleinstehenden, der einen
eigenen Haushalt führt, ein grösserer Sozialabzug gewährt wird, als einem
Alleinstehenden ohne eigenen Haushalt, verstösst nicht gegen Art. 4 BV
(E. 5).

Sachverhalt

    A.- Art. 62 der Verfassung des Kantons Solothurn (KV) lautet:

    "1 Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekte Abgaben
   sind Sache der Gesetzgebung.

    2 Alle Steuerpflichtigen sollen im Verhältnis ihrer Mittel an die

    Ausgaben des Staates beitragen. Bei der Besteuerung des Einkommens und
   des Vermögens ist auf das reine Einkommen und das reine Vermögen
   abzustellen, und es sind die Grundsätze einer angemessenen Progression
   anzuwenden. Diese Grundsätze gelten sinngemäss auch für die Besteuerung
   von Erbschaften und Schenkungen.

    3 Kurzfristig erzielte Grundstückgewinne können einer Zuschlagssteuer
   unterworfen werden, für welche das Reineinkommensprinzip nach Absatz
   2 nicht gilt.

    4 Geringe Vermögen sowie von jedem Einkommen ein zum Leben
   unbedingt notwendiger Betrag sind steuerfrei.

    5 Ein verhältnismässiger Nachlass der Steuer kann zugunsten einzelner

    Steuerpflichtiger bewilligt werden, sofern sie durch Unglück, Not
   und Krise in Bedrängnis kommen."

    Das solothurnische Gesetz über die direkten Staats- und Gemeindesteuern
vom 29. Januar 1961/15. November 1970 (StG) sieht in § 43 unter dem
Randtitel "Existenzminima" sogenannte Sozialabzüge vom reinen Einkommen
vor. Sie schwanken beispielsweise beim alleinstehenden Steuerpflichtigen
ohne Haushalt je nach der Höhe des Einkommens zwischen 1040 und 2600
Franken, beim Haushaltführenden beträgt der Abzug 3250 Franken. Er
erhöht sich, wenn der Steuerpflichtige über 65 Jahre alt ist, wenn
er für weitere Personen zu sorgen hat, in der Ausbildung steht oder
in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt ist. § 73bis StG sieht vor,
dass der Regierungsrat bei Schwankungen der Lebenshaltungskosten um
mehr als 5% seit 1. Januar 1970 die betragsmässig festgesetzten Abzüge,
Steuererleichterungen und Freigrenzen, u.a. auch diejenigen von § 43 Abs. 1
StG, dem Stande des Landesindexes der Konsumentenpreise anpasst. Zur Zeit
ist eine Totalrevision des StG in Aussicht genommen.

    Der alleinstehende B., Parapsychologe und Taxichauffeur, führt keinen
eigenen Haushalt. Bei einem jährlichen steuerbaren Einkommen von 9124
Franken wurde ihm für 1974 ein Sozialabzug von 2440 Franken, für 1975
ein Abzug von 2640 Franken gewährt. Die gegen diese Veranlagung erhobenen
Einsprachen sowie die Beschwerde an die Kantonale Rekurskommission (KRK)
blieben ohne Erfolg. B. erhebt staatsrechtliche Beschwerde, die das
Bundesgericht abweist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er gesetzmässig
veranlagt worden sei. Er hält indes § 43 StG für verfassungswidrig, weil
diese Bestimmung nicht einen zum Leben unbedingt notwendigen Betrag von
der Einkommenssteuer befreie (Art. 62 Abs. 4 KV), sondern lediglich einen
bescheidenen Sozialabzug gewähre. Das Bundesgericht ist gemäss Art. 5
und 113 BV sowie gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG nur zum Schutze der
verfassungsmässigen Rechte der Bürger eingesetzt, nicht auch zum Schutze
der Verfassung überhaupt (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, Zürich 1950,
S. 321). Voraussetzung für die vorfrageweise Anfechtung von § 43 StG
wegen Verletzung von Art. 62 Abs. 4 KV ist deshalb, dass die genannte
Verfassungsbestimmung dem Beschwerdeführer ein verfassungsmässiges
Recht einräumt. Andere Verfassungsbestimmungen, insbesondere solche
programmatischer oder organisatorischer Art, überprüft das Bundesgericht
nur dann, wenn deren unrichtige Auslegung ein verfassungsmässiges Recht
verletzen kann (BONNARD, Problèmes relatifs au recours de droit public, ZSR
81/1962 II, S. 491, Ziff. 147). Das Bundesgericht überprüft die Auslegung
und Anwendung des kantonalen Verfassungsrechts frei. In ausgesprochenen
Zweifelsfällen schliesst es sich jedoch der von der obersten kantonalen
Behörde vertretenen Auslegung an (BGE 99 Ia 181 E. 3a; vgl. auch BGE 103 Ia
155 E. 2c; 101 Ia 357 E. 3b; 97 I 32 E. 4a; anders: BGE 100 Ia 267 E. 3a).

    b) Der Begriff des verfassungsmässigen Rechts ist bundesrechtlicher
Natur. Er ist in der Lehre umstritten (BERNHEIMER, Der Begriff
und die Subjekte der verfassungsmässigen Rechte nach der Praxis des
Bundesgerichtes, Diss. Zürich 1930, insbesondere S. 123 mit eingehendem
Definitionsversuch; BURCKHARDT, Kommentar zur Bundesverfassung, 3. Auflage
Bern 1931, S. 780 f.; GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des
schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, S. 46 ff.; H. HUBER, Die
Garantie der individuellen Verfassungsrechte, ZSR 55/1936 S. 62a ff.;
EGGENSCHWILER, Die rechtliche Natur des staatsrechtlichen Rekurses, Diss.
Bern 1936, S. 165; FLEINER/GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht,
Zürich 1949, S. 882 ff.; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, Zürich 1950,
S. 320 ff.; GURNY, Der Begriff der Verletzung verfassungsmässiger
Rechte, Diss. Zürich 1959, S. 29 ff.; AUBERT, Traité de droit
constitutionnel, Neuchâtel 1967, II, Nr. 1644 ff.; HENSEL, Die Verfassung
als Schranke des Steuerrechts, Diss. St-Gallen 1972, S. 54 ff.;
SALADIN, Grundrechte im Wandel, 2. Auflage, Bern 1975, S. 285, 374;
MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, 3. Auflage, Basel 1977, S. 35
ff.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verbürgen diejenigen
Verfassungsbestimmungen von Bund und Kantonen verfassungsmässige Rechte,
die dem Bürger einen Schutzbereich gegen staatliche Eingriffe sichern
wollen. Häufig sind solche Schutzrechte am Wortlaut der Verfassung
erkennbar, in andern Fällen ergeben Auslegung und Konkretisierung der
Bestimmung, dass sie dem Einzelnen einen Rechtsanspruch gegenüber der
Staatsgewalt gewähren will. Sodann gibt es Verfassungsnormen, die
zwar vorwiegend im öffentlichen Interesse erlassen sind, aber daneben
auch noch individuelle Interessen schützen wollen; sie werden in diesem
Umfang als verfassungsmässige Rechte anerkannt. Schliesslich gibt es
Bestimmungen organisatorischer oder programmatischer Art, deren Bedeutung
sich darin erschöpft, eine sachgerechte Organisation und Ausgestaltung des
Gemeinwesens zu ermöglichen. Sie sind im Allgemeininteresse erlassen und
wollen dem Bürger kein verfassungsmässiges Recht einräumen, selbst wenn
sich dessen Individualinteresse im Einzelfall mit der Verfassungsnorm
decken mag (BGE 96 I 626 E. 3). Die Abgrenzung kann Zweifeln ausgesetzt
sein. Besondere Probleme ergeben sich aus Verfassungsbestimmungen,
die einen Gesetzgebungsauftrag enthalten. Allgemeine Anweisungen
an den Gesetzgeber, in einem bestimmten Bereich tätig zu werden,
vermögen dem Einzelnen keinen Anspruch auf richterliche Durchsetzung
des Gesetzgebungsauftrages zu geben (BGE 55 I 365). Anders kann es
sich verhalten, wenn die Verfassung dem Gesetzgeber vorschreibt,
welchen Anforderungen eine bestimmte Gesetzgebung im einzelnen
entsprechen muss. Ausser der Verfolgung öffentlicher Interessen kann der
Verfassungsgeber beabsichtigen, dem Bürger gewisse konkrete Garantien
zu geben dafür, dass ihn die Gesetzgebung nicht über ein bestimmtes Mass
hinaus belasten wird. In solchen Fällen ist anzunehmen, dass der Bürger
ein verfassungsmässiges Recht darauf hat, dass die Gesetzgebung die durch
die Verfassung gezogene Grenze nicht überschreitet. Das kann gerade auch
dann der Fall sein, wenn die Verfassung dem Gesetzgeber Weisung gibt,
die Steuergesetzgebung in einer bestimmten Art und Weise inhaltlich
auszugestalten.

Erwägung 3

    3.- a) Art. 62 Abs. 1 KV enthält eine Bestimmung organisatorischer
Art und verteilt die Kompetenzen zur Steuergesetzgebung. Art. 62 Abs. 1
KV kann daher nur insoweit ein Individualrecht statuieren, als er eine
Bestimmung über die Gewaltentrennung ist (vgl. dazu BGE 99 Ia 699 E. 2;
85 I 84 und 74 I 115 E. 3). Er kann im zu beurteilenden Zusammenhang
schon darum nicht verletzt sein, weil das StG ein Gesetz im formellen
Sinne ist. Art. 62 Abs. 2 KV enthält eine Anweisung an den Gesetzgeber,
das Steuersystem bezüglich der Einkommens- und Vermögenssteuer in einem
bestimmten Sinn auszugestalten. Abs. 3 enthält eine Weisung an den
Gesetzgeber, von Abs. 2 eine Ausnahme vorzusehen. Abs. 5 dürfte ein
Individualrecht enthalten, das gegebenenfalls unmittelbar durchsetzbar
ist. Er bedarf zwar der näheren Ausführung durch den Gesetzgeber,
könnte aber auch ohne Ausführungsgesetz unmittelbar anwendbar sein,
weil er der Bewilligungsbehörde die Ermächtigung erteilt, unter gewissen
Voraussetzungen einen Steuernachlass zu gewähren. Der Gesetzgeber hat
aber die Verfassungsbestimmung ausgeführt, so dass nicht unmittelbar auf
die Verfassung zurückgegriffen werden muss. Art. 62 Abs. 4 KV enthält
zunächst die Anweisung an den Gesetzgeber, das Existenzminimum von
der Einkommenssteuer sowie geringe Vermögen von der Vermögenssteuer
zu befreien. Es fragt sich, ob Art. 62 Abs. 4 KV nicht ausser der
Anweisung an den Gesetzgeber noch ein verfassungsmässiges Recht des
Bürgers enthält. Da diese Bestimmung in engem Zusammenhang mit Art.
62 Abs. 2 KV steht, an den sie sich bis zum Einschub des heutigen Abs. 3
im Jahre 1961 unmittelbar anschloss, ist zunächst Inhalt und Tragweite
von Art. 62 Abs. 2 KV zu prüfen.

    b) Das Bundesgericht hatte sich wiederholt zur Frage zu äussern,
ob Art. 62 Abs. 2 KV ein verfassungsmässiges Recht gewährleiste. Die
Praxis war nicht einheitlich. In BGE 32 I 308 liess das Bundesgericht die
Frage zwar offen; immerhin trat es auf die Beschwerde ein und überprüfte
das Steuergesetz auf seine Vereinbarkeit mit Art. 62 KV. In einem nicht
veröffentlichten Urteil vom 12. Juli 1934 in Sachen Miller anerkannte es
den damaligen Art. 62 KV ausdrücklich als verfassungsmässiges Recht. Es
führte aus, diese Bestimmung enthalte ein Reihe von allgemeinen Grundsätzen
und Richtlinien, an die sich der Gesetzgeber bei der Besteuerung halten
solle. Ob den Erfordernissen im einzelnen nachgelebt worden sei, könne
von allen Steuerpflichtigen, die durch die Verletzung der Vorschrift in
ihren Interessen berührt würden, zum Gegenstand einer staatsrechtlichen
Beschwerde gemacht werden. In BGE 80 I 327 streifte das Bundesgericht
Art. 62 Abs. 1 KV nur nebenbei, und in BGE 85 I 87 bezeichnete es Art. 62
Abs. 2 KV als Bestimmung, die lediglich die allgemeine Richtung für
die Aufgabe des Gesetzgebers weise. In BGE 90 I 240 liess es die Frage
wiederum offen, ob Art. 62 Abs. 2 KV ein Grundrecht gewährleiste, oder
lediglich eine Anweisung an den Gesetzgeber enthalte.

    Art. 62 Abs. 2 ist in erster Linie eine Anweisung an den Gesetzgeber
und damit eine im öffentlichen Interesse erlassene Regel. Es ist aber nicht
zu verkennen, dass sich die Tragweite der Vorschrift nicht darin erschöpft,
sondern dass damit dem Bürger ein verstärkter Schutz gegen eine übermässige
Besteuerung gewährt werden soll, wenn beispielsweise bei der Umschreibung
des Steuerobjektes nicht auf das Reinvermögen oder das Reineinkommen
abgestellt würde. Das Rechtsschutzinteresse des Bürgers daran, dass nicht
eine beliebige Besteuerung auf dem Wege der Gesetzgebung eingeführt wird,
ist derart gewichtig, dass die Annahme naheliegt, die Verfassung habe
dem Bürger auch einen Rechtsbehelf dagegen gewähren wollen. Geschichtlich
war im Kanton Solothurn die Zustimmung des Volkes zur Erhebung direkter
Steuern wohl nur unter dieser Voraussetzung erhältlich. Wenn Art. 62
Abs. 2 KV als verfassungsmässiges Recht anerkannt wird, kann dies indessen
nicht dazu führen, dass das Bundesgericht im einzelnen prüfen könnte,
welche Steuern zu erheben sind, in welchem Verhältnis die verschiedenen
Steuern den Aufwand decken sollen oder wie die Progression zu gestalten
ist. Diese Fragen sind der Würdigung des Gesetzgebers anheimgestellt,
dem ein weiter Spielraum des Ermessens verbleibt. Art. 62 Abs. 2 KV
bezeichnet lediglich die allgemeine Richtung; er kann vom Bundesgericht
nur in diesem Rahmen überprüft werden (BGE 48 I 84).

    c) Unmittelbarer Gegenstand im zu beurteilenden Verfahren ist
allerdings nicht die Bedeutung von Art. 62 Abs. 2 KV, sondern diejenige
von Abs. 4. Diese Bestimmung ist in ihrer sprachlichen Struktur imperativer
gefasst als Abs. 2. Ohne den Sinn der Vorschrift, der ihr in der Gegenwart
zukommt, bereits in diesem Zusammenhang im einzelnen zu prüfen, wird
man annehmen können, dass sie ebenfalls eine Anweisung an den Gesetzgeber
enthält, und dass sie wenigstens im gleichen Umfang wie Abs. 2 zugleich ein
verfassungsmässiges Recht verbürgt. Auf die Rüge des Beschwerdeführers,
die ihm auferlegte Besteuerung verstosse gegen Art. 62 Abs. 4 KV, ist
deshalb einzutreten.

Erwägung 4

    4.- a) Art. 62 Abs. 4 KV bestimmt, soweit hier von Interesse, dass
von jedem Einkommen ein zum Leben unbedingt notwendiger Betrag steuerfrei
sei. Der Wortlaut der Bestimmung ist zwar recht präzis, doch deutet die
unbestimmte Wendung, "von" jedem Einkommen sei "ein" Betrag steuerfrei,
auf einen erheblichen Freiheitsbereich des Gesetzgebers. Der Wortlaut der
Bestimmung lässt insbesondere offen, ob bei der Ausführungsgesetzgebung
ein Einkommensbestandteil steuerfrei zu belassen sei, der, ähnlich etwa
dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum, in bestimmten Abständen neu
festzusetzen sei, oder ob der verfassungsmässige Auftrag - wie die neuere
Verfassungspraxis annimmt - nur dahin geht, bei der direkten Besteuerung
Sozialabzüge zu gewähren. Der Wortlaut legt immerhin die Annahme nahe,
dass die Verfassung ungeachtet des Steuersystems ein tatsächliches
Existenzminimum steuerfrei belassen wollte.

    b) Die Entstehungsgeschichte der Norm gibt keine sicheren Hinweise
auf die Bedeutung der Bestimmung. Diese fand im Jahre 1875 als § 5
Abs. 4 Eingang in die kantonale Verfassung. Anlässlich der Totalrevision
von 1887 wurde § 5 Abs. 4 unverändert als Art. 62 Abs. 5 in die neue
Verfassung aufgenommen. Das Einkommen wurde im Kanton Solothurn aber erst
seit Inkrafttreten des Steuergesetzes vom 17. März 1895 besteuert, also
ungefähr zwanzig Jahre nach dem Erlass der Verfassungsbestimmung über
die Steuerbefreiung von kleinen Einkommen. Der Verfassungsgeber hatte
anlässlich des Erlasses von Art. 62 KV offenbar noch kein bestimmtes
Steuersystem vor Augen und keine präzisen Vorstellungen über die
Konkretisierung der Bestimmung auf Gesetzesebene, so dass anzunehmen ist,
er habe viele Möglichkeiten offenlassen wollen.

    c) Selbst wenn der historische Verfassungsgeber mit der hier streitigen
Verfassungsbestimmung ein tatsächliches, dem betreibungsrechtlichen
ähnliches Existenzminimum von der Steuerpflicht hätte befreien wollen,
ist zu würdigen, dass eine einmal geschaffene Verfassung nicht während der
ganzen Geltungsdauer in ihrem normativen Sinn unverändert weiterbestehen
muss. Es ist möglich, dass durch den Wandel der geschichtlichen Bedingungen
eine Norm ihre Bedeutung ändert. Insbesondere kann auf dem Weg über eine
konstante neue Auslegung eines Verfassungstextes ein Wandel im Gehalt
der Norm eintreten, das heisst, es kann sich der Sinn einer positiven
Verfassungsbestimmung ohne deren Revision verändern (H. HUBER, Probleme
des ungeschriebenen Verfassungsrechts, ZBJV 91bis/1955, S. 112 ff.;
HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
Karlsruhe 1976, 9. Auflage, S. 16 f.; SALADIN, Grundrechte im Wandel,
Bern 1975, 2. Auflage, S. 380 ff.).

    Das Steuergesetz von 1895, welches die Einkommenssteuer einführte,
sah in § 6 steuerbefreite Abzüge vor. Diese wurden seit dem Erlass der
Vollziehungsverordnung vom 30. Mai 1896 "Existenzminima" genannt. Die
Abzüge betrugen für Haushaltführende Fr. 900.- zuzüglich Fr. 100.- für
jedes Kind unter achtzehn Jahren und für Alleinstehende Fr. 700.-. Die
damals gewährten Abzüge lagen etwas unter dem betreibungsrechtlichen
Existenzminimum (Archiv für Schuldbetreibung und Konkurs 1/1892,
S. 108; Schweizer Blätter für Handelsrechtliche Entscheidungen 11/1892,
S. 164, 12/1893, S. 34, 14/1895, S. 234, 15/1896, S. 14/15). Da
die Lebenshaltungskosten in der Folge stiegen, vergrösserte sich der
Unterschied zwischen dem Betrag, der zum Leben mindestens erforderlich
war und den Ansätzen nach § 6 StG allmählich. Augenfällig wurde
diese Tendenz während des ersten Weltkrieges. Im Jahre 1917 wurde
im Kantonsrat eine Motion eingereicht, die diese Differenz verringern
wollte. Bezeichnenderweise ging sie offenbar nicht davon aus, § 6 StG sei
verfassungswidrig geworden und müsse deshalb revidiert werden. Der Motionär
stützte sich vielmehr auf eine analoge Anwendung von § 15 des damaligen
Steuergesetzes, der für schwere Unglücksfälle wie z.B. Naturereignisse
oder - wie der Motionär annahm - kriegerische Auseinandersetzungen
angemessene Steuerreduktionen in Aussicht stellte. Ab 1918 setzte der
Regierungsrat die Steuerabzüge periodisch neu fest. Diese erreichten
indessen das tatsächliche Existenzminimum nicht. Anlässlich der Revision
des Steuergesetzes vom 24. September 1939 war man sich einig darüber,
dass Art. 62 Abs. 4 KV (damals noch Abs. 3) nicht mehr in einem wörtlichen
Sinn zu verstehen sei, sondern dem Gesetzgeber nur noch die Pflicht
überbinde, einen gewissen Teil des Einkommens steuerfrei zu lassen. Die
Gesetzesnovelle von 1939 brachte bezüglich der Steuerabzüge gegenüber
dem Gesetz von 1895 einen erheblichen Systemwechsel, wobei vom Begriff
des Existenzminimums ganz abgegangen wurde. Die verfassungsmässigen
Abzüge erfolgten nach dem damaligen § 27 StG in Form eines Abzuges
vom Steuerbetrag. Damit wurde von der formalen Anknüpfung an ein
Existenzminimum abgesehen. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass sich
der Steuerbetrag, von dem der Abzug vorzunehmen war, aus der Einkommens-
und der Vermögenssteuer zusammensetzte (§ 27 Abs. 1 in Verbindung mit § 26
StG). Die völlige Loslösung vom Begriff des steuerfreien Existenzminimums
zeigt sich besonders bei der Ausgestaltung des Abzugs für Alleinstehende
im damaligen § 27 Abs. 1 Ziff. 3 StG. Einzelstehende Personen hatten
danach überhaupt keinen Anspruch auf einen Abzug vom Reineinkommen,
wenn dieses Fr. 3000.- überstieg. Diese Regelung wurde von keiner
Seite als verfassungswidrig angesehen. Gegenteils kommt hinzu, dass
ungefähr zur Zeit der Revision des Steuergesetzes im Jahre 1938 auch
Art. 62 KV einer Neufassung unterzogen wurde. Der hier interessierende
Absatz wurde unverändert übernommen. Dies ist insofern von Bedeutung,
als die gleichzeitig beschlossenen Steuerabzüge keineswegs mehr die Höhe
eines zum Leben genügenden Betrages erreichten. Es wird davon ausgegangen
werden können, dass der Gesetzgeber, der in kurzem Abstand nach Annahme
oder Bestätigung einer Verfassungsbestimmung tätig wird, deren Sinn kannte
und nicht bereits in jenem Zeitpunkt etwas Verfassungswidriges anordnen
wollte. Die verfassungsgebende Gewalt ist im Kanton Solothurn zudem
personell insofern mit der gesetzgebenden Gewalt identisch, als sowohl
zu einem Gesetz als auch zu einer Verfassungsänderung der Kantonsrat
und das Volk zustimmen müssen (Art. 17 Abs. 1 Ziff. 1 KV). Obwohl
einem dem obligatorischen Referendum unterstellten Gesetz nicht nur
aus formalen Gründen kein Verfassungsrang zukommen kann, sondern auch
wegen der fehlenden zweimaligen Beratung im Parlament (Art. 77 KV) und
der fehlenden Gewährleistung durch die Bundesversammlung (Art. 6 BV),
ist die Zustimmung von Kantonsrat und Volk zur Steuergesetzrevision für
die Auslegung des gleichzeitig neu gefassten Art. 62 KV von erheblicher
Bedeutung. Der Verfassungsauftrag in Art. 62 Abs. 4 KV wurde damals nicht
mehr als Weisung aufgefasst, einen dem tatsächlichen Existenzminimum
entsprechenden Betrag steuerfrei zu lassen, sondern lediglich als
Auftrag, gewisse Steuerabzüge zu gewähren. Da das neu gewählte System
für die Abzüge wenig transparent erschien und von den Steuerpflichtigen
nur schwer verstanden wurde, kehrte man mit § 43 des StG vom 29. Januar
1961 zum System der steuerfreien Einkommensbeträge zurück (Bericht und
Antrag des Regierungsrates an den Kantonsrat vom 12. September 1958,
S. 12 unten). In der kantonsrätlichen Kommission zur Vorbereitung des
Steuergesetzes wurde auch die Verfassungsmässigkeit der neuen Lösung
diskutiert und die Meinung vertreten, man könne die Verfassung nicht
wörtlich auslegen. Sie sei in diesem Punkt von jeher nicht mehr beachtet
worden. Gegen diese Auffassung erhob sich kein Widerstand (Protokoll
der kantonsrätlichen Kommission zur Beratung des Steuergesetzes,
S. 210). In der Folge befasste sich der Kantonsrat erneut mit einer
Revision des StG. In der Sitzung des Kantonsrates vom 23. Oktober 1968
(Verhandlungen des Kantonsrates von Solothurn 1968, S. 728 ff.) wurde
auch § 43 Abs. 1 StG einer erneuten Prüfung unterzogen. Ein Zweifel an
der Verfassungsmässigkeit der Ordnung wurde nicht laut. Das Gesetz wurde
allerdings am 8. Dezember 1968 verworfen, vermutlich zur Hauptsache,
weil es eine steuerliche Neubewertung des Grundeigentums gebracht
hätte. Nachher nahm der Kantonsrat die Revisionsarbeiten wieder
auf. An der Sitzung vom 1. Juli 1970 wurde § 43 StG erneut behandelt
(Kantonsratsverhandlungen 1970, S. 815 ff.); auch damals wurden keine
Zweifel an der Verfassungsmässigkeit geäussert. Das Gesetz wurde in der
Volksabstimmung vom 15. November 1970 angenommen. Seitherige kleinere
Abänderungen des StG haben keinen direkten Bezug mehr auf § 43 StG. Diese
Bestimmung wurde bis in die jüngste Vergangenheit auch auf dem Rechtsweg
nie wegen Verletzung von Art. 62 Abs. 4 KV angefochten.

    Aus der geschichtlichen Entwicklung ist zu schliessen, dass in bezug
auf Art. 62 Abs. 4 KV im letzten halben Jahrhundert ein Verfassungswandel
eingetreten ist, sofern man annimmt, die umstrittene Bestimmung habe dem
Kantonsrat ursprünglich die Weisung erteilt, bei der Steuergesetzgebung
ein tatsächliches Existenzminimum steuerfrei zu lassen. In der Folge
hat sich der Grundsatz abgeschwächt. Nach geltendem Verfassungsrecht
kommt Art. 62 Abs. 4 KV nur mehr die Bedeutung einer Weisung an den
Gesetzgeber zu, im Steuergesetz Sozialabzüge vorzusehen. Der ursprüngliche
sozialpolitische Gehalt von Art. 62 Abs. 4 KV wurde teilweise durch den im
Jahre 1938 in die Verfassung aufgenommenen Art. 62 Abs. 5 KV übernommen,
der den individuellen Steuererlass im Falle von Unglück, Not oder Krise
vorsieht. Es muss angenommen werden, dass Abs. 5 das ursprünglich Abs. 4
zugrundeliegende Motiv wenigstens teilweise wiederum verwirklicht hat.

    d) § 43 StG sieht Sozialabzüge vor. Auch wenn die Abzüge nicht
einem eigentlichen Existenzminimum, etwa im betreibungsrechtlichen
Sinne gleichzusetzen sind, erreichen sie mindestens für die kleinen
Einkommen zur Zeit eine beachtliche Höhe; sie werden ausserdem weiter
periodisch den gestiegenen Lebenshaltungskosten angepasst. Es kann nicht
Aufgabe des Bundesgerichts sein, bei der Überprüfung kantonaler Normen
über die Besteuerung seine eigene politische Wertung an diejenige des
kantonalen Gesetzgebers zu setzen und etwa den Aufbau der Steuertarife im
einzelnen zu überprüfen; das geht schon darum nicht an, weil die einzelnen
Tarifpositionen nicht isoliert beurteilt werden können. Die Ausgestaltung
der Sozialabzüge in den verschiedenen kantonalen Steuerrechten bietet denn
auch ein buntes Bild (HÖHN/HENSEL/KÄPPELI, Das Einkommenssteuerrecht der
Kantone, Bern und Stuttgart 1972, S. 156 ff.). Werden allgemein sehr hohe
Sozialabzüge zugelassen, muss dem auf der andern Seite eine Anhebung der
Steuersätze entsprechen, damit die Steuer gleichwohl den Finanzbedarf des
Gemeinwesens deckt. Die Grösse der Abzüge hängt so mit der Ausgestaltung
des gesamten Steuertarifs zusammen und kann in der Regel nicht für sich
allein abgeändert werden. Da die Verfassung einen Mindestabzug nicht
vorschreibt, verbleibt § 43 StG im Rahmen der Verfassung und die Beschwerde
muss abgewiesen werden, soweit sie sich auf Art. 62 Abs. 4 KV stützt.

Erwägung 5

    5.- Der Beschwerdeführer wirft der in § 43 StG vorgesehenen Regelung
weiter vor, sie sei willkürlich und verletze deshalb Art. 4 BV. Er macht
geltend, die Differenzierung in § 43 StG zwischen Alleinstehenden mit
eigenem Haushalt und solchen ohne eigenen Haushalt verstosse gegen die
Verfassung. Der Alleinstehende, der einen eigenen Haushalt führe, werde
heute in aller Regel weniger für die Verpflegung aufwenden müssen als der
Alleinstehende ohne Haushalt. Insofern § 43 StG für den Alleinstehenden mit
Haushalt einen grösseren Sozialabzug vorsehe als für den Alleinstehenden
ohne Haushalt, halte § 43 StG vor Art. 4 BV nicht stand.

    a) Eine gesetzliche Regelung verstösst dann gegen Art. 4 BV, wenn
sie sinn- oder zwecklos ist oder Unterscheidungen trifft, die keinen
vernünftigen Grund in den zu ordnenden Verhältnissen finden oder
Unterscheidungen unterlässt, die sich auf Grund dieser Verhältnisse
aufdrängen (BGE 100 Ia 328 E. 4b; 99 Ia 119; 97 I 782, 801).

    b) Im zu beurteilenden Zusammenhang ist wiederum eine Steuertariffrage
zu entscheiden. Dabei steht dem Gesetzgeber nach dem bereits Gesagten ein
weites Mass eigener Gestaltungsfreiheit zu, so dass das Bundesgericht die
angefochtenen Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt der Willkür nur mit
grosser Zurückhaltung prüfen kann. Insbesondere lässt sich aus Art. 4 BV
keine bestimmte Methode der Besteuerung ableiten, da die Ausgestaltung
der Steuertarife in hohem Masse von politischen Wertungen abhängt (BGE
99 Ia 653).

    c) Die angefochtene Regelung ist nicht sinn- und zwecklos. Sie trifft
auch keine Unterscheidungen, die vor Art. 4 BV unhaltbar sind, auch
wenn der Einwand des Beschwerdeführers einer gewissen Berechtigung nicht
entbehrt (BGE 99 Ia 579). In den jeweiligen Gesetzesrevisionen wurde die
Frage der Sozialabzüge und ihrer Staffelung eingehend diskutiert. Häufig
wurde die Befürchtung geäussert, der Alleinstehende, vor allem der
ledige Steuerpflichtige, werde steuerlich vor den Steuerpflichtigen,
die für eine Familie zu sorgen hatten, bevorzugt. Eine Differenzierung
bei der Steuertarifierung lässt sich unter dem Gebot der Besteuerung
der Steuerpflichtigen nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
rechtfertigen. Vor der Verfassung hielte unter dem Gesichtspunkt von
Art. 4 BV auch eine Regelung stand, die für Alleinstehende ohne Haushalt
überhaupt keinen Sozialabzug zulässt, vor allem dann, wenn die Abzüge für
Haushaltführende mit Familie verhältnismässig niedrig sind (Urteil des
Bundesgerichts vom 19. September 1975 in Sachen Trutmann). Es wäre vor Art.
4 BV auch haltbar, wenn alleinstehende Steuerpflichtige mit Sondersteuern
belegt würden, um das Gefälle in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
auszugleichen (BGE 77 I 102).

    d) Die Auffassung, dass ein alleinstehender Steuerpflichtiger mit
geringeren Lebenshaltungskosten rechnen muss als der Alleinstehende,
der noch einen Haushalt führt, z.B. ein Witwer ohne Kinder, der seine
bisherige Wohnung beibehält, wird in vielen Fällen zutreffen und darf
deshalb vom Gesetzgeber zur Grundlage seiner Gesetzgebung gewählt werden,
auch wenn sich im Einzelfall die Verhältnisse bisweilen anders gestalten
werden. Die Steuertarifierung muss bis zu einem gewissen Mass schematisch
erfolgen; die Entwicklung des solothurnischen Steuerrechts zeigt übrigens,
dass das System der Abzüge fortlaufend verfeinert wird, um Einzelfällen
besser gerecht werden zu können. Der Beschwerdeführer übersieht, dass zu
den Lebensunterhaltskosten nicht allein die Auslagen für die Verpflegung
gehören, sondern auch die Miete oder Bankzinse, Abgaben für Wasser und
Elektrizität usw., die der Alleinstehende ohne Haushalt nicht auf sich
zu nehmen hat, weil sie im Mietzins für sein Zimmer inbegriffen sind. Zu
denken ist ferner auch an unverheiratete Steuerpflichtige, die noch im
Haushalt der Eltern wohnen, und deshalb in der Regel auch weniger für
Lebensunterhaltskosten aufwenden müssen als Alleinstehende mit Haushalt.

    Der Beschwerdeführer beruft sich allerdings zur Stützung seiner
Auffassung auf die Meinung, die der Regierungsrat des Kantons Solothurn
in Beantwortung einer Kleinen Anfrage Doppler vom 8. Februar 1977
zum Ausdruck brachte. Der Fragesteller wandte sich dagegen, dass zwei
unverheirateten Steuerpflichtigen, die zusammenleben und einen Haushalt
führen, der Haushaltabzug für Alleinstehende doppelt gewährt wird. Der
Regierungsrat vertrat die Auffassung, der Begriff "Haushaltführende" sei
kein vernünftiges Kriterium mehr für die Bemessung eines Sozialabzuges,
da die Führung eines eigenen Haushaltes in der Regel billiger sei als
die auswärtige Verpflegung. Selbst wenn die Meinung des Regierungsrates
zuträfe, was offen bleiben kann, wäre eine andere Auffassung, der
der Gesetzgeber gefolgt ist, nicht unhaltbar, und hält damit vor
Art. 4 BV stand (BGE 99 Ia 579/580). Im übrigen geht die Tendenz
des Regierungsrates anscheinend eher dahin, den alleinstehenden
haushaltführenden Steuerpflichtigen dem Alleinstehenden ohne Haushalt
gleichzustellen, so dass eine Neuregelung im regierungsrätlichen Sinn
dem Beschwerdeführer vermutlich nicht von Nutzen wäre.