Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 172



104 Ia 172

29. Urteil vom 21. Juni 1978 i.S. Schefer gegen Stadtrat von Rorschach
und Regierungsrat des Kantons St. Gallen Regeste

    Verfahren; Handels- und Gewerbefreiheit.

    1. Vorfrageweise Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Erlassen;
Abgrenzung von Erlass und Verfügung (E. 2a).

    2. Anfechtung von Bestätigungs- und Vollzugsakten; Sonderregel für
unverzichtbare und unverjährbare Grundrechte (E. 2b).

    3. Voraussetzungen für die Annahme der Nichtigkeit einer Verfügung
(E. 2c).

    4. Art. 31 BV. Inanspruchnahme des öffentlichen
Grundes für die Verlegung von Kabeln für private
Fernseh-Gemeinschaftsantennenanlagen. Aufteilung des Gemeindegebietes in
verschiedene, je einer ortsansässigen Firma zugewiesene Interessengebiete
(E. 3).

Sachverhalt

    A.- In der Stadt Rorschach befassen sich drei
ortsansässige Radio- und Fernsehgeschäfte mit der Erstellung von
Fernseh-Gemeinschaftsantennenanlagen und mit der Verlegung der
erforderlichen Kabel. Um zu verhindern, dass in die öffentlichen
Strassen unnötig viele Kabel für verschiedene, sich konkurrenzierende
Anlagen eingelegt werden, teilte der Stadtrat von Rorschach im Jahre
1972 jeder der drei Firmen provisorisch ein sog. Interessengebiet in
der inneren Stadt zu. Am 6. September 1977 beschloss der Stadtrat,
an der getroffenen Gebietsaufteilung (ungefähr je 500 Haushalte pro
Firma) mit gewissen Modifikationen festzuhalten. Gegen diesen Beschluss
wurde kein Rechtsmittel ergriffen. Am 1. Oktober 1977 ersuchte eine
der drei ortsansässigen Firmen, die Firma Schefer, um die Einräumung des
Durchleitungsrechtes für ein Kabel im Bereiche einer Strasse, welche in dem
der Konkurrenzfirma Eisenring zugewiesenen Gebiet liegt. Unter Hinweis auf
die am 6. September 1977 beschlossene Gebietsaufteilung lehnte der Stadtrat
dieses Gesuch am 11. Oktober 1977 ab. Der Firmeninhaber Karl Schefer focht
diesen letzteren Stadtratsentscheid ohne Erfolg beim Regierungsrat des
Kantons St. Gallen an. Er führt gegen den abweisenden Rekursentscheid des
Regierungsrates wegen Verletzung von Art. 4 und 31 BV staatsrechtliche
Beschwerde. Das Bundesgericht weist diese, soweit es auf sie eintritt,
ab, im wesentlichen aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt, der Regierungsrat habe es unterlassen,
den Stadtratsbeschluss vom 6. September 1977 über die Aufteilung der
Stadt in Interessengebiete auf seine Vereinbarkeit mit der Handels-
und Gewerbefreiheit zu prüfen. Auch wenn dieser Beschluss innert der
gesetzlichen Rechtsmittelfristen nicht angefochten worden sei, müsse er,
da er die wirtschaftliche Existenz des Beschwerdeführers in Frage stelle
und ein derartiger Eingriff gegen unverzichtbare Rechte verstosse, vom
Bundesgericht im vorliegenden Verfahren auf seine Verfassungsmässigkeit
überprüft werden.

    a) Mit einer gegen eine Einzelverfügung erhobenen staatsrechtlichen
Beschwerde kann vorfrageweise auch die Verfassungsmässigkeit der zur
Anwendung gebrachten generell-abstrakten Norm bestritten werden (BGE 102
Ia 42, 326; 101 Ia 194; 100 Ia 296, 324; 98 Ia 164; 97 I 334 mit weiteren
Hinweisen). Der Beschwerdeführer könnte somit den Beschluss des Stadtrates
vom 6. September 1977 über die Ausscheidung von Interessengebieten, auf
Grund dessen ihm in der Folge die Verlegung eines Kabels ausserhalb des
ihm zugewiesenen Gebietes verweigert wurde, dann vorfrageweise auf seine
Verfassungsmässigkeit hin überprüfen lassen, wenn dieser Beschluss den
Charakter einer generell-abstrakten Norm hätte und der Gegenstand der
staatsrechtlichen Beschwerde bildende Entscheid als Anwendungsakt dieser
Norm, als konkretisierende Einzelverfügung zu betrachten wäre.

    Der Beschluss des Stadtrates, den drei konkurrierenden Unternehmen
je ein bestimmtes Interessengebiet zuzuweisen, innerhalb dessen künftig
nur noch der jeweils zuständigen Firma die Kabelverlegung gestattet
werden soll, hat indessen keinen generell-abstrakten Charakter, sondern
er erfüllt seinerseits bereits alle wesentlichen Begriffsmerkmale einer
Verfügung. Er richtet sich an einen ganz bestimmten Adressatenkreis -
nämlich an die drei ortsansässigen Radio- und Fernsehgeschäfte - und
regelt eine konkrete Situation, indem er unter Berücksichtigung des heute
gegebenen Konkurrenzverhältnisses durch Zuweisung von Interessengebieten
die Bewilligungspraxis gegenüber diesen Firmen festlegt. Der Beschluss vom
6. September 1977 wurde dementsprechend nur den beteiligten Firmen sowie
den zuständigen städtischen Amtsstellen in Form eines Protokollauszuges
mitgeteilt. Wohl berührt die getroffene Regelung auch die Interessen
auswärtiger Drittunternehmen, welche in Rorschach allenfalls solche
Gemeinschaftsantennenanlagen erstellen könnten, sowie die Grundeigentümer
in den verschiedenen Interessengebieten, welche ihre Liegenschaften
praktisch nur noch an die Anlage der für ihr Gebiet zuständigen Firma
anschliessen können. Diese indirekten Nebenwirkungen ändern jedoch am
Verfügungscharakter des erwähnten Beschlusses nichts. Die Regel über die
vorfrageweise Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Erlassen kommt
hier daher nicht zum Zuge.

    Das entspricht auch der Ratio dieser Regel: Dass die
Verfassungsmässigkeit einer generell-abstrakten Norm noch anlässlich
eines gestützt auf sie ergangenen Anwendungsaktes bestritten werden
kann, beruht vor allem auf der Überlegung, dass der Einzelne beim Erlass
einer solchen Norm im allgemeinen noch nicht weiss, ob und wie sie ihn
eines Tages treffen wird, und für ihn insofern kein Anlass besteht,
die generell-abstrakte Vorschrift sofort im Anschluss an ihren Erlass
anzufechten (BGE 90 I 353; GIACOMETTI, Die Verfassungsgerichtsbarkeit
des Schweizerischen Bundesgerichtes, S. 79/80; W. BURCKHARDT, Die
Befristung des staatsrechtlichen Rekurses, in ZBJV 1926/62 S. 58/59). Im
vorliegenden Falle war indessen für den Beschwerdeführer klar, wie sich der
Stadtratsbeschluss vom 6. September 1977 über die Gebietsaufteilung für ihn
auswirken würde. Wenn der Stadtrat dem Beschwerdeführer die Bewilligung
zur Kabelverlegung im Bereiche der Mariabergstrasse verweigerte, so
bestätigte er damit lediglich seinen früheren Beschluss vom 6. September
1977. Es gelten in einem solchen Falle die Regeln über die Anfechtung
von Bestätigungs- und Vollzugsakten.

    b) Eine Verfügung, welche auf einer rechtskräftigen früheren Verfügung
beruht und diese lediglich vollzieht oder bestätigt, kann nicht mit der
Begründung angefochten werden, die frühere Verfügung sei verfassungswidrig;
eine solche Rüge ist verspätet (BGE 88 I 265). Eine Ausnahme von diesem
Grundsatz macht die bundesgerichtliche Rechtsprechung dann, wenn der
Beschwerdeführer die Verletzung unverzichtbarer und unverjährbarer
Rechte rügt (BGE 100 Ia 296; 97 I 916; 93 I 351; 88 I 265). Besondere
Regeln gelten ferner für die Vollstreckung ausserkantonaler Entscheide
(BGE 102 Ia 195; 88 I 265 mit Hinweisen).

    Zu den unverzichtbaren und unverjährbaren Rechten, auf die sich
ein Beschwerdeführer auch noch im Anschluss an jede Vollzugs- oder
Bestätigungsverfügung berufen kann, gehören nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichtes bestimmte, dem Einzelnen um seiner Persönlichkeit
willen zustehende fundamentale Rechte, wie die persönliche Freiheit,
die Niederlassungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die
Kultusfreiheit, die Ehefreiheit, das Verbot des Schuldverhaftes und der
körperlichen Strafen (BGE 97 I 916, 95 I 351, 88 I 267; CH. LEUENBERGER,
Die unverzichtbaren und unverjährbaren Grundrechte in der Rechtsprechung
des Schweizerischen Bundesgerichts, Diss. Bern 1976, S. 17). Die Handels-
und Gewerbefreiheit gehört, wie in BGE 88 I 271 und 100 Ia 296 ausdrücklich
festgestellt wurde, nicht zu diesen unverzichtbaren und unverjährbaren
Grundrechten. Auf die Rüge, der dem angefochtenen Entscheid zugrunde
liegende Stadtratsbeschluss über die Gebietsaufteilung vom 6. September
1977 verstosse gegen Art. 31 BV, kann daher nicht eingetreten werden.

    Die neuerdings in der Literatur (LEUENBERGER, aaO S. 81 ff., S. 134
ff.) aufgeworfene Frage, ob es gerechtfertigt sei, eine Reihe bestimmter
Grundrechte unabhängig von der Schwere des Eingriffs und den übrigen
konkreten Umständen bezüglich der Einhaltung der Beschwerdefrist generell
zu privilegieren, oder ob nicht richtigerweise, unter Verzicht auf einen
festen Katalog privilegierter Freiheitsrechte, jeweils einzelfallmässig
(ähnlich wie bei der Frage der Nichtigkeit) das Interesse am Schutz
des berührten Grundrechtes gegenüber jenem der Rechtssicherheit und der
Verfahrensökonomie abgewogen werden sollte, braucht hier nicht weiter
erörtert zu werden. Auch eine dahingehende Änderung der Rechtsprechung
vermöchte dem Beschwerdeführer nichts zu nützen. Selbst wenn man die
Möglichkeit der Anfechtung von Vollzugs- und Bestätigungsakten im
erwähnten Sinne auf sämtliche Grundrechtsrügen ausdehnen wollte, wäre
es unter den konkreten Umständen nicht angebracht, eine nachträgliche
Anrufung der Handels- und Gewerbefreiheit gegenüber dem rechtskräftigen
Beschluss vom 6. September 1977 noch zuzulassen.

    c) Dass dieser Beschluss schlechthin nichtig sei und es gegen das
Willkürverbot verstosse, ihm irgendwelche Rechtswirkungen beizulegen
(vgl. dazu LEUENBERGER, aaO S. 92), wird in der staatsrechtlichen
Beschwerde mit Grund nicht geltend gemacht. Fehlerhafte Verwaltungsakte
sind in der Regel nicht nichtig, sondern nur anfechtbar, und sie
werden durch Nichtanfechtung rechtsgültig. Nichtigkeit, d.h. absolute
Unwirksamkeit einer Verfügung, wird nur angenommen, wenn der ihr anhaftende
Mangel besonders schwer ist, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht
erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der
Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird (BGE 98 I 571 mit Hinweisen;
IMBODEN/RHINOW, Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 40 S. 240 ff.). Als
Nichtigkeitsgründe fallen hauptsächlich schwerwiegende Verfahrensfehler
sowie die Unzuständigkeit der verfügenden Behörde in Betracht; dagegen
haben inhaltliche Mängel nur in seltenen Ausnahmefällen die Nichtigkeit
einer Verfügung zur Folge (vgl. IMBODEN/RHINOW, aaO S. 242 ff.). Es ist
klar, dass die Voraussetzungen für die Annahme absoluter Nichtigkeit
bezüglich des Stadtratsbeschlusses vom 6. September 1977 nicht erfüllt
sind, und der Beschwerdeführer behauptet dies denn auch nicht.

    d) Ob allenfalls bei Eintreten oder Bekanntwerden neuer, bei Erlass
des Stadtratsbeschlusses vom 6. September 1977 nicht berücksichtigter
Tatsachen ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Wiedererwägung besteht,
braucht hier nicht erörtert zu werden. Der Beschwerdeführer hat mit
seinem Bewilligungsgesuch vom 1. Oktober 1977 beim Stadtrat keine solchen
Wiedererwägungsgründe geltend gemacht, und seine gegen die Ablehnung dieses
Gesuches erhobene staatsrechtliche Beschwerde läuft auf eine verspätete
Anfechtung des Stadtratsbeschlusses vom 6. September 1977 hinaus.

    Soweit der Beschwerdeführer dem Regierungsrat vorwirft, eine
Überprüfung dieses Beschlusses abgelehnt zu haben, ist die staatsrechtliche
Beschwerde abzuweisen; soweit er im Verfahren vor Bundesgericht eine
solche Überprüfung verlangt, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.

Erwägung 3

    3.- Ergänzend sei bemerkt, dass der vorliegenden Beschwerde auch
dann kein Erfolg beschieden wäre, wenn das Bundesgericht den fraglichen
Beschluss vom 6. September 1977 auf seine Verfassungsmässigkeit zu
überprüfen hätte.

    Der Beschwerdeführer beruft sich in diesem Zusammenhang auf BGE
101 Ia 479 ff. Danach kann, in Änderung der früheren Rechtsprechung, die
Handels- und Gewerbefreiheit auch für Erwerbstätigkeiten angerufen werden,
die mit einem gesteigerten Gemeingebrauch öffentlichen Grundes verbunden
sind. Das Bundesgericht überprüft alsdann, soweit Art. 31 BV Platz greift,
die angefochtene Massnahme hinsichtlich der Interessenabwägung und der
Verhältnismässigkeit nicht nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür,
sondern mit freier Kognition; es übt jedoch Zurückhaltung, soweit es
um die Würdigung der besonderen örtlichen Verhältnisse geht, welche
die kantonalen Instanzen besser kennen, und soweit sich ausgesprochene
Ermessensfragen stellen (BGE 103 Ia 42; 101 Ia 481).

    Nach dem st. gallischen Recht (vgl. Art. 96 ff. des Gesetzes über das
Strassenwesen) gilt die Verlegung privater Leitungen im öffentlichen Grund
als gesteigerter Gemeingebrauch, welcher der Bewilligung der zuständigen
Gemeindebehörde bedarf.

    Der unter der Strassenoberfläche zur Verfügung stehende Raum ist
beschränkt und hat in erster Linie die Leitungen der öffentlichen Werke
aufzunehmen. Jede Verlegung einer zusätzlichen Leitung macht in der Regel
eine Öffnung der Strassenoberfläche erforderlich und behindert damit
die Benützung der Strasse; ferner werden dadurch künftige Reparatur-
und Anpassungsarbeiten erschwert. Es entspricht daher einer vernünftigen,
vor der Handels- und Gewerbefreiheit standhaltenden Interessenabwägung,
wenn die Gemeinde die Verlegung von Fernsehkabeln im öffentlichen Grund
nicht jedem Gesuchsteller unbesehen gestattet, sondern durch Festlegung
einer bestimmten Bewilligungspraxis dafür sorgt, dass die Erschliessung des
Gemeindegebietes für den Anschluss an private Gemeinschaftsantennenanlagen
rationell erfolgt und nicht unnötig viele Kabel verlegt werden. Sind in
einer Gemeinde mehrere Firmen tätig, die sich mit der Errichtung solcher
Anlagen befassen, so erscheint es als verfassungsrechtlich zulässig, wenn
die Gemeindebehörde, statt von Fall zu Fall über die von den Konkurrenten
gestellten Gesuche zu entscheiden, jeder der interessierten Firmen einen
Teil des Gemeindegebietes zur ausschliesslichen Bearbeitung zuweist und
damit den Aufbau eines zweckmässigen, den öffentlichen Grund möglichst
schonenden Kabelnetzes ermöglicht. Eine derartige Lösung liegt insoweit,
als sie die Kosten der Erschliessung herabsetzt, auch im Interesse
der Grundeigentümer. Es versteht sich, dass die Gemeinde bei einer
solchen Aufteilung gegenüber den interessierten Firmen den Grundsatz
der Rechtsgleichheit zu beachten hat. Der Beschwerdeführer bringt jedoch
nichts vor, was die im Stadtratsbeschluss vom 6. September 1977 vorgesehene
Aufteilung als unhaltbar erscheinen liesse. Er ficht die fragliche Regelung
nur dem Grundsatz nach an und erhebt keine Rügen hinsichtlich ihrer
Ausgestaltung im einzelnen. Der Hinweis auf seine bisherigen Investitionen
ist unbehelflich, da er nicht dartut, dass er diese Investitionen
gutgläubig schon vor der im Jahre 1972 vorgenommenen provisorischen
Aufteilung des Stadtgebietes getätigt habe. Schliesslich vermag auch die
vom Beschwerdeführer hervorgehobene Möglichkeit, dass künftig vielleicht
noch eine weitere Firma in Rorschach Gemeinschaftsantennenanlagen errichten
möchte, die Verfassungsmässigkeit der getroffenen Regelung nicht in Frage
zu stellen, zumal neben den ausgeschiedenen drei Interessengebieten noch
grosse unzugeteilte Gebiete ausserhalb des Stadtkerns vorhanden sind und
die heute vorgenommene Aufteilung nur bis 1984 Geltung hat; eine Zulassung
weiterer Firmen ist somit nicht zum vornherein ausgeschlossen. Davon
abgesehen, ist der Beschwerdeführer nicht legitimiert, die Interessen
allfälliger weiterer Mitbewerber geltend zu machen.