Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 167



104 Ia 167

28. Urteil vom 22. März 1978 i.S. Fuluma AG gegen Leavag und Kantonsgericht
Graubünden Regeste

    Art. 4 BV; Veröffentlichung und Inkrafttreten kantonaler Erlasse.

    Es ist mit Art. 4 BV grundsätzlich nicht vereinbar, kantonale Erlasse
vor ihrer Veröffentlichung anzuwenden.

Sachverhalt

    A.- Nach Art. 246 in Verbindung mit Art. 34 Ziff. 2 lit. a der
Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden vom 20. Juni 1954 (ZPO) konnte
gegen Urteile des Bezirksgerichtes in vermögensrechtlichen Streitigkeiten
mit einem Streitwert von über Fr. 3000.- Berufung an das Kantonsgericht
eingereicht werden. Die Streitwertgrenze von Fr. 3000.- ist durch eine
Teilrevision der ZPO, die vom Volke am 21. März 1976 angenommen wurde,
auf Fr. 8000.- erhöht worden.

    Mit Beschluss vom 10. Mai 1976 hat die Bündner Regierung das revidierte
Gesetz in Kraft gesetzt und folgende Übergangsregelung erlassen:

    "Fälle, die vor Inkrafttreten dieser Revision streitanhängig gemacht
   worden sind, werden nach dem bisher geltenden Recht behandelt. Es
   gelten sinngemäss die Übergangsbestimmungen von Art. 297 der

    Zivilprozessordnung. ..."

    Art. 297 ZPO lautet:

    "Fälle, die vor der Inkraftsetzung dieses Gesetzes streitanhängig
gemacht
   worden sind, werden nach dem bisher geltenden Gesetz behandelt.

    Hingegen finden die Bestimmungen über die Rechtsmittel und über
   die Vollziehung von Urteilen, unabhängig vom Datum der
   Streitanhängigkeit,

    Anwendung auf alle Urteile, die nach Inkrafttretten dieses Gesetzes
   mitgeteilt werden."

    Der Beschluss der Regierung vom 10. Mai 1976 ist infolge eines
Versehens erst im Amtsblatt des Kantons Graubünden Nr. 34 vom 27. August
1976 publiziert worden. Zuvor war die Öffentlichkeit lediglich
durch ein Pressecommuniqué der Standeskanzlei vom 13. Mai 1976 auf
den Inkraftsetzungsbeschluss der Regierung hingewiesen worden. Dieses
Pressecommuniqué erwähnt zwar die Übergangsbestimmungen, gibt sie jedoch
nur teilweise, nämlich ohne die Verweisung auf Art. 297 ZPO, wieder.

    Die Leavag, Leasing- und Verkaufs-AG, Zürich, reichte am 27. Januar
1975 beim Bezirksgericht Maloja Klage gegen die Fuluma AG, St. Moritz,
ein mit dem Rechtsbegehren, die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin
Fr. 7318.30 zu bezahlen. Die Klage wurde mit Urteil vom 31. März/7. April
1976 - mitgeteilt am 16. August 1976 - in vollem Umfange gutgeheissen.

    Die Fuluma AG reichte am 3. September 1976 gegen das Urteil des
Bezirksgerichtes Maloja Berufung ein. Das Kantonsgericht trat jedoch am 12.
Oktober 1976 auf diese nicht ein mit der Begründung, die in den revidierten
Vorschriften der ZPO festgesetzte Streitwertgrenze von Fr. 8000.- sei nicht
erreicht. Gegen den Nichteintretensbeschluss hat die Fuluma AG gestützt
auf Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- In der Beschwerde wird geltend gemacht, das Bündner Kantonsgericht
hätte die revidierten Bestimmungen der ZPO nicht anwenden dürfen, bevor
diese bzw. der Beschluss über ihre Inkraftsetzung veröffentlicht worden
seien. Durch die Anwendung des neuen Rechts vor dessen Publikation seien
die aus Art. 4 BV fliessenden Rechtsgrundsätze verletzt worden. Dass
gegen das kantonale Recht verstossen worden sei, wird nicht behauptet.

    Tatsächlich enthält das Bündner Recht zur Zeit keine Bestimmungen
über die Veröffentlichung und das Inkrafttreten der Gesetze. Zwar hat
die Regierung am 10. April 1959 zur Verordnung über die Herausgabe eines
Bündner Rechtsbuches und die Weiterführung der Amtlichen Gesetzessammlung
vom 23. November 1956 u.a. folgende Ausführungsbestimmungen erlassen:

    "Art. 5 Zeitpunkt der Veröffentlichung.

    Die Veröffentlichung in der Amtlichen Gesetzessammlung erfolgt,
   sobald ein Gesetz vom Volke angenommen, eine Verordnung des Grossen

    Rates von der Absatz- und Redaktionskommission redaktionell
   bereinigt oder die Verordnung einer anderen Behörde beschlossen ist.

    Wird der Zeitpunkt des Inkrafttretens erst später festgesetzt, so wird
   der Erlass veröffentlicht, sobald dieser Zeitpunkt feststeht.

    Bedarf ein Erlass zu seiner Gültigkeit der Genehmigung durch eine
   eidgenössische Behörde, so wird er erst nach erfolgter Genehmigung
   veröffentlicht.

    Art. 6 Inkrafttreten der Erlasse.

    Wird nichts anderes bestimmt, so tritt ein Erlass am dritten Tage nach
   seiner Veröffentlichung in der Amtlichen Gesetzessammlung in Kraft.

    Massgebend ist das Datum der deutschen Ausgabe."

    Am 28. Mai 1975 erliess der Grosse Rat jedoch eine neue Verordnung über
die Herausgabe des Rechtsbuches 1976/77 und die Weiterführung der Amtlichen
Gesetzessammlung, womit den regierungsrätlichen Ausführungsbestimmungen
von 1956 die Grundlage entzogen wurde. Sie werden demnächst durch neue
Ausführungsbestimmungen ersetzt werden. Nach den Angaben der Standeskanzlei
werden allerdings die formell aufgehobenen Ausführungsbestimmungen in
der Praxis bis zum Erlass der neuen Vorschriften als "im Prinzip weiter
gültig" betrachtet.

    Es lässt sich also dem kantonalen Recht keine Vorschrift entnehmen,
die das Inkrafttreten der Gesetze an die Voraussetzung der vorangehenden
Publikation knüpfen würde. Zwar lassen die mangels neuer Vorschriften
praktisch weiter angewendeten Ausführungsbestimmungen vom 10. April
1959 erkennen, dass die Veröffentlichung eines Erlasses als wesentliches
Element des Inkrafttretens betrachtet wird und dass eine Norm in der Regel
erst nach der Veröffentlichung in Kraft zu setzen ist. Eine umgekehrte
Reihenfolge wird jedoch durch den Wortlaut dieser Bestimmungen nicht
ausgeschlossen. Von einer Publikation der Erlasse im kantonalen Amtsblatt
ist im übrigen nicht die Rede.

Erwägung 2

    2.- Es stellt sich daher die Frage, ob übergeordnete, aus der
Verfassung abzuleitende Grundsätze die Anwendung eines Erlasses vor seiner
Veröffentlichung verbieten. Dies trifft nach übereinstimmender Auffassung
in Lehre und Rechtsprechung zu.

    Das Bundesgericht hat schon verschiedentlich erklärt, dass ein
Gesetzeserlass erst mit der Veröffentlichung verbindlich werde und ein
Inkrafttreten vor der Publikation grundsätzlich nicht in Frage kommen
könne (BGE 76 IV 52 E. 4b mit Hinweisen; 100 Ib 343, 92 I 233 E. 4,
61 I 417, vgl. auch 99 IV 164, 64 I 66 ff.). Für das Bundesrecht ergibt
sich dieses Prinzip schon aus den gesetzlichen Vorschriften: Nach Art. 9
des Bundesgesetzes über die Rechtskraft der bereinigten Sammlung der
Bundesgesetze und Verordnungen für die Jahre 1848-1947 und über die neue
Reihe der Sammlung sind die nach diesem Gesetz in die neue Gesetzessammlung
aufzunehmenden Erlasse für den Bürger nur verbindlich, wenn sie in
dieser Sammlung veröffentlicht sind. Art. 69 Abs. 2 des Bundesgesetzes
über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die
Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse bestimmt zudem (wie
Art. 36 Abs. 2 des früheren Geschäftsverkehrsgesetzes vom 9. Oktober 1902),
dass der Zeitpunkt des Inkrafttretens eines Erlasses der Bundesversammlung
in der Regel nicht früher als fünf Tage nach der Veröffentlichung angesetzt
werden soll. Das gleiche gilt für die Erlasse des Bundesrates und seiner
Departemente (Art. 4 der Verordnung über die Veröffentlichung der Gesetze
und anderer Erlasse des Bundes vom 8. November 1949). - In der Literatur
wird praktisch einhellig die Auffassung vertreten, dass es zumindest in
der Regel der Veröffentlichung eines Erlasses bedürfe, damit dieser in
Kraft treten könne. Ausnahmen seien nur dort zuzulassen, wo durch eine
unverzügliche Inkraftsetzung die Möglichkeit rechtsmissbräuchlichen
Verhaltens der vom neuen Erlass Betroffenen in der Zeitspanne zwischen
dessen Bekanntgabe und dem Inkrafttreten ausgeschlossen werden müsse
(vgl. GIACOMETTI, Das Staatsrecht der schweiz. Kantone, S. 435, 439;
FLEINER/GIACOMETTI, Schweiz. Bundesstaatsrecht, S. 757; GEIGER, Zur Frage
der Veröffentlichung und des Inkrafttretens bundesrechtlicher Erlasse,
SJZ 48/1952 S. 56 ff.; BRÜHWILER, Veröffentlichung und Inkrafttreten
bundesrechtlicher Erlasse, SJZ 48/1952 S. 270; AUBERT, Traité de droit
constitutionnel, Bd. II, S. 575 N. 5; GRISEL, L'application du droit
public dans le temps, ZBl 75/1974, S. 235 ff.).

    Die Publikation eines Erlasses ist somit im demokratischen Rechtsstaat
- von einzelnen Ausnahmen abgesehen - eine unabdingbare Voraussetzung
für das Inkrafttreten von gesetzlichen Vorschriften, d.h. für ihre
Anwendbarkeit gegenüber den einzelnen Bürgern.

Erwägung 3

    3.- Die Standeskanzlei Graubünden hat in ihrer Stellungnahme denn
auch nicht geltend gemacht, der Beschluss über die Inkraftsetzung und die
Übergangsbestimmungen der revidierten ZPO hätten nicht veröffentlicht
werden müssen. Vielmehr glaubt sie, der Publikationsvorschrift dadurch
Genüge getan zu haben, dass der Text der abgeänderten ZPO-Bestimmungen
jedem Stimmberechtigten zugestellt und der Regierungsbeschluss
vom 10. Mai 1976 durch ein offizielles Communiqué veröffentlicht
wurde. Die Beschwerdegegner haben ausserdem darauf hingewiesen, dass
die Beschwerdeführerin erst am 3. September 1976, also nach der
Veröffentlichung des Inkraftsetzungsbeschlusses im Amtsblatt, ihre
Berufungserklärung einreichte und sie daher in jenem Zeitpunkt das
Datum des Inkrafttretens und den Wortlaut der Übergangsbestimmungen
kennen musste.

    Ausschlaggebend ist, in welchem Zeitpunkt im Kanton Graubünden durch
eine jedermann zugängliche Veröffentlichung bekannt gemacht wurde,
dass die Übergangsregelung zur revidierten ZPO mit dem Hinweis auf
Art. 297 ZPO die neue Streitwertgrenze für die Rechtsmitteleinlegung in
bereits hängigen Prozessen als verbindlich erklärt. Die den Stimmbürgern
zugestellte Botschaft enthielt weder Datum der Inkraftsetzung noch
Übergangsbestimmungen und fällt daher in dieser Hinsicht als Publikation
ausser Betracht. Ob allenfalls das offizielle Communiqué als genügende
Veröffentlichung betrachtet werden könnte, braucht nicht entschieden
zu werden, da dieses gerade den hier massgebenden Hinweis auf Art. 297
ZPO nicht erwähnte. Entgegen der Ansicht der Standeskanzlei kann auch
niemandem zugemutet werden, sich zu erkundigen, ob das Communiqué den
Regierungsbeschluss vollständig oder nur auszugsweise wiedergebe. Der in
den Übergangsbestimmungen enthaltene Verweis auf Art. 297 ZPO wurde demnach
vor dem Erscheinen des Amtsblattes am 27. August 1976 nicht veröffentlicht;
er konnte also frühestens an diesem Tage in Kraft treten.

    Nach Art. 297 Abs. 2 ZPO finden die Bestimmungen über die Rechtsmittel
und damit die Neufestsetzung der Streitwertgrenze nur Anwendung auf
Urteile, die nach dem Inkrafttreten der revidierten Gesetzesvorschriften
mitgeteilt werden. Bedeutungslos für die Anwendung des neuen Rechts ist
der Zeitpunkt der Rechtsmitteleinreichung. Im vorliegenden Fall haben
die Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Maloja am 16. August 1976,
d.h. vor dem Inkrafttreten der Übergangsregelung am 27. August 1976
erhalten. Die Frage der Zulässigkeit der Berufung musste somit auf
Grund des alten Rechtes entschieden werden, das eine Streitwertgrenze
von Fr. 3000.- kannte. Die gegenteilige Meinung des Kantonsgerichtes ist
unhaltbar, läuft auf eine Rechtsverweigerung hinaus und verstösst damit
gegen Art. 4 BV.

    Die Beschwerde müsste im übrigen wohl auch deshalb gutgeheissen
werden, weil es den Grundsatz von Treu und Glauben verletzt, auf
Verfahren, in denen ein erstinstanzliches Urteil schon gefällt wurde,
neue Rechtsmittelbestimmungen anzuwenden, während sich die Parteien
bis zur Publikation der Neuordnung nach bereits teilweise verstrichener
Rechtsmittelfrist darauf verlassen konnten, dass ihnen die Rechtsmittel
gemäss altem Recht zur Verfügung stünden.