Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 V 25



103 V 25

6. Urteil vom 24. März 1977 i.S. Weber gegen Ausgleichskasse des Kantons
Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 1 Abs. 1 und Abs. 4 lit. c und d ELV. Die gesonderte Berechnung
der Ergänzungsleistung bei faktisch getrennt lebenden Ehegatten setzt
eine Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse unter den Ehegatten voraus.

Sachverhalt

    A.- Der 1903 geborene X. Weber wohnt seit anfangs September 1974 in der
Alterssiedlung des Betagtenheims Z. Die 1904 geborene Ehefrau hält sich
seit dem 21. August 1974 in der Krankenabteilung des Betagtenheims auf,
wo sie für Pflege und Unterkunft Fr. 24'108.-- im Jahr zu entrichten hat.

    Mit Verfügung vom 7. Oktober 1974 sprach die Ausgleichskasse dem
Ehemann eine Ergänzungsleistung zur AHV von Fr. 550.-- und der Ehefrau
eine solche von Fr. 10.-- im Monat zu. Auf den 1. Januar 1975 wurde die
Ergänzungsleistung für den Ehemann neu auf Fr. 650.-- im Monat festgesetzt
(Verfügung vom 17. Januar 1975). Der Ehefrau wurde mit Verfügung vom
16. Januar 1975 mitgeteilt, zufolge Überschreitens der Einkommensgrenze
stehe ihr ab 1. Januar 1975 keine Ergänzungsleistung mehr zu.

    B.- Gegen beide Verfügungen beschwerte sich X. Weber mit der
Begründung, die Kasse habe die Ehepaar-Altersrente auf die Ehegatten
aufgeteilt; dagegen sei das Kostgeld der Ehefrau allein seinem eigenen
Einkommen belastet worden. Die Abzüge seien aber für beide Ehegatten
getrennt vorzunehmen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit
Entscheid vom 7. Januar 1976 ab. Das Gericht stellte im wesentlichen fest,
an die Unterhalts- und Pflegekosten von Fr. 24'108.-- im Jahr könne
die Ehefrau höchstens Fr. 8'100.-- (Hälfte der Ehepaar-Altersrente)
leisten; den ungedeckten Betrag von Fr. 16'008.-- müsse der Ehemann
aufbringen. Dadurch erhöhe sich das anrechenbare Einkommen der Ehefrau
auf Fr. 24'108.--, was die Zusprechung einer Ergänzungsleistung
ausschliesse. Die Unterhaltsleistungen an die Ehefrau könne der
Beschwerdeführer von seinem anrechenbaren Einkommen abziehen. Bei einem
Einkommen von knapp über Fr. 9'000.-- (Hälfte der Ehepaar-Altersrente
und Kapitalzinsen) habe er daher Anspruch auf eine Ergänzungsleistung
im Höchstbetrag von Fr. 7'800.-- im Jahr. In welchem Masse der
Beschwerdeführer seine Ehefrau tatsächlich unterstütze, stehe nicht
fest, doch rechtfertige sich die Annahme, er verwende hiefür sowie für
den eigenen Unterhalt sein gesamtes Einkommen, weshalb sich zusätzliche
Abklärungen erübrigten.

    C.- X. Weber erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag
auf Neuberechnung der Ergänzungsleistung. Bei der Berechnung der
Ergänzungsleistung der Ehefrau seien Krankheitskosten in Abzug zu bringen,
jedenfalls soweit er hiefür nicht selbst aufzukommen vermöge.

    Die Ausgleichskasse beantragt unter Hinweis auf die
Vernehmlassung im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung lässt
sich mit dem Antrag auf Rückweisung der Sache an die Ausgleichskasse zur
Neuberechnung der Ergänzungsleistung der Ehefrau vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das ELG enthält keine Bestimmungen über die Berechnung der
Ergänzungsleistung im Falle der Ehetrennung. Art. 3 Abs. 6 ELG ermächtigt
jedoch den Bundesrat, u.a. über die Zusammenrechnung der Einkommensgrenzen
und die anrechenbaren Einkommen von Familiengliedern nähere Vorschriften
zu erlassen. Gestützt hierauf bestimmt Art. 1 Abs. 1 ELV, dass bei
Trennung der Ehe von Ehegatten, die beide rentenberechtigt sind, jedem
von ihnen ein selbständiger Anspruch auf Ergänzungsleistung zusteht,
wobei die massgebenden Einkommen gesondert berechnet Werden und je die
für Alleinstehende geltende Einkommensgrenze angewandt wird. Gemäss Art. 1
Abs. 4 ELV gelten Ehegatten als getrennt lebend, wenn
   a) die Ehe gerichtlich getrennt ist oder b) eine Scheidungs- oder
   Trennungsklage anhängig ist oder

    c) eine tatsächliche Trennung mindestens 1 Jahr ohne Unterbruch
gedauert hat oder

    d) glaubhaft gemacht wird, dass eine tatsächliche Trennung längere
Zeit dauern wird.

Erwägung 2

    2.- Es steht fest, dass die Eheleute Weber weder gerichtlich getrennt
sind noch in einem Scheidungs- oder Trennungsverfahren stehen; es spricht
auch nichts für eine richterlich geregelte Aufhebung des gemeinsamen
Haushaltes (Art. 170 ZGB). Ausgleichskasse und Vorinstanz erachten jedoch
den Tatbestand einer faktischen Trennung der Ehe im Sinne von Art. 1
Abs. 4 lit. c und d ELV als gegeben.

    a) X. und Y. Weber wohnen seit September 1974 im Betagtenheim Z.,
die Ehefrau in der Krankenabteilung an der ...strasse und der Ehemann
in der Alterssiedlung an der ...strasse. Die Ehegatten leben innerhalb
des gleichen, anscheinend mehrere selbständige Abteilungen umfassenden
Heimes und sind lediglich deshalb getrennt untergebracht, weil die Ehefrau
zufolge Krankheit einer besonderen Pflege bedarf.

    Eine faktische Trennung liegt nicht vor, wenn beide Ehegatten
gemeinsam in einem Heim wohnen. Die von der Ausgleichskasse in der
erstinstanzlichen Vernehmlassung erwähnte Verwaltungsweisung (Rz. 150
der EL-Mitteilungen Nr. 40 vom 22. Juli 1975), wonach es den kantonalen
EL-Durchführungsstellen freigestellt ist, in solchen Fällen die getrennte
Berechnung der Ergänzungsleistung vorzunehmen, lässt sich in dieser
Form mit der Verordnungsbestimmung (und auch mit dem Grundsatz der
Rechtsgleichheit) nicht vereinbaren (vgl. hiezu auch Rz. 126 des ab
1. Januar 1977 gültigen Nachtrages 3 zur EL-Wegleitung). Im vorliegenden
Fall verhält es sich insofern anders, als die Ehegatten zwar im gleichen
Heim wohnen, intern jedoch getrennt sind. Es ist zu prüfen, ob dieser
Umstand einer faktischen Trennung im Sinne von Art. 1 Abs. 4 lit. c und
d ELV gleichkommt.

    b) Mit den Ergänzungsleistungen soll bedürftigen Rentnern der AHV sowie
Bezügern von Renten und Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung
ein bestimmtes Mindesteinkommen garantiert werden. Dieser Zweckbestimmung
entsprechend liegt dem Gesetzes- und Verordnungsrecht im wesentlichen
eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zugrunde, welcher auch im Rahmen
von Art. 1 ELV Rechnung zu tragen ist. Für die getrennte Berechnung der
Ergänzungsleistung ist deshalb nicht die Tatsache des Getrenntlebens als
solche, sondern die sich hieraus ergebende Änderung der wirtschaftlichen
Verhältnisse massgebend. Ohne eine solche Änderung lässt sich eine
gesonderte Berechnung der Ergänzungsleistung trotz faktischer Trennung
der Ehegatten nicht rechtfertigen.

    Im vorliegenden Fall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich
die finanziellen Beziehungen unter den Ehegatten mit dem Übertritt in
das Betagtenheim geändert hätten. Den Akten ist zu entnehmen, dass der
Ehemann wie bisher die ganze Ehepaar-Altersrente bezieht und für die
Aufenthaltskosten beider Ehegatten im Heim aufkommt. Die Ehefrau verfügt
über kein eigenes Einkommen und Vermögen; auch haben die Ehegatten
keine mit Bezug auf die Ergänzungsleistung relevanten güterrechtlichen
Vereinbarungen getroffen. Dass über die Aufenthaltskosten im Betagtenheim
beiden Ehegatten getrennt Rechnung gestellt wird, ist unerheblich. Auch
ist der Umstand, dass sich aus der internen Trennung zusätzliche Kosten
ergeben, nicht entscheidend; diese sind im Rahmen der gesetzlichen
Abzüge vom Einkommen (Art. 3 Abs. 4 lit. e und Art. 4 Abs. 1 lit. b
ELG) zu berücksichtigen. Im übrigen hat sich an den wirtschaftlichen
Gegebenheiten nichts Wesentliches geändert. Vielmehr besteht die bisherige
wirtschaftliche Einheit der Ehe ungeachtet des getrennten Aufenthaltes im
Betagtenheim weiter. Die für die Annahme einer getrennten Ehe im Sinne
von Art. 1 ELV massgebenden tatsächlichen Voraussetzungen sind daher
nicht erfüllt.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Gesagten ist die Ergänzungsleistung nach den für
zusammenlebende Ehegatten geltenden Regeln zu berechnen. Auf Grund der
Akten ist anzunehmen, dass sich dabei eine Ergänzungsleistung in dem für
Ehepaare geltenden Höchstbetrag gemäss Art. 2 Abs. 1 ELG in Verbindung
mit Art. 3 Abs. 1 des kantonalen Dekretes über die Ergänzungsleistungen
ergibt. Es wird indessen zunächst Sache der Ausgleichskasse sein, hierüber
verfügungsweise neu zu befinden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der vorinstanzliche Entscheid und die Kassenverfügungen vom 16. und
17. Januar 1975 aufgehoben werden und die Sache zu neuer Verfügung im
Sinne der Erwägungen an die Ausgleichskasse zurückgewiesen wird.