Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 V 177



103 V 177

40. Urteil vom 27. Dezember 1977 i.S. Michel gegen Eidgenössische
Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
Regeste

    Art. 4 und 5 MVG. Zur Haftung der Militärversicherung für Zahnschäden
(Zusammenfassung und Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Max Michel brach sich am 26. September 1975 im Zivilschutzkurs
beim Essen eines "Totenbeinli"-Bisquits den rechten oberen, bereits
plombierten Eckzahn ab.

    Durch Verfügung vom 5. März 1976 lehnte die Militärversicherung
die Haftung für den Zahnschaden mit der Begründung ab, das Abbrechen
eines vorbehandelten Zahnes beim normalen Kauakt sei eine dem Ergrauen
der Haare vergleichbare Zerfallserscheinung. Das Abbrechen könne unter
beliebigen Lebensumständen erfolgen und werde im Dienst nicht mehr
gefördert als im Zivilleben. Die Voraussetzungen des Unfallbegriffs seien
nicht erfüllt. Laut der Rechtsprechung gelte Zahnkaries zudem nicht als
Krankheit. Weil nur Unfälle und Krankheiten als Gesundheitsschädigung im
Sinne von Art. 4 MVG in Frage kämen, liege beim Versicherten daher keine
solche Gesundheitsschädigung vor.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Wies durch
Entscheid vom 2. Juni 1976 die vom Versicherten gegen die Verfügung vom
5. März 1976 erhobene Beschwerde ab. Eine Haftung der Militärversicherung
komme nur in Frage, wenn die Gesundheitsschädigung entweder durch Krankheit
oder durch Unfall verursacht worden sei. Beim Zahnschaden des Versicherten
handle es sich jedoch weder um eine Krankheit noch um einen Unfall. Der
Versicherte begründe die Leistungspflicht der Militärversicherung lediglich
mit dem Vorliegen einer dienstlichen Gesundheitsschädigung, ohne dass
diese auf einen Unfall oder eine Krankheit zurückgehen müsse. Eine solche
Rechtsauffassung könne aber nicht in das Militärversicherungsgesetz
interpretiert werden. Denn sie hätte in Verbindung mit dem in der
Militärversicherung geltenden Kontemporaneitätsprinzip zur Folge, dass
jeder während des Dienstes in Erscheinung tretende Zahnschaden einen
Anspruch des Versicherten gegenüber der Militärversicherung begründen
würde, sofern nicht die Art. 5 ff. MVG entgegenstünden. Dies könne nicht
der Sinn des Gesetzes sein.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Max
Michel beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides vom 2. Juni
1976 und der Verfügung der Militärversicherung vom 5. März 1976 sei
die Militärversicherung zu verhalten, ihm Fr. 892.20 für zahnärztliche
Behandlung zu bezahlen.

    Die Militärversicherung stellt den Antrag, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei abzuweisen.

    Auf die Begründung dieser Rechtsbegehren wird - soweit erforderlich -
in den Erwägungen zurückgekommen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 4 MVG erstreckt sich die Haftung der Militärversicherung
auf jede Gesundheitsschädigung, die während des Dienstes in
Erscheinung tritt und gemeldet oder sonstwie festgestellt wird. Die
Militärversicherung haftet dann nicht, wenn sie den Beweis erbringt, dass
die Gesundheitsschädigung sicher vordienstlich ist oder sicher nicht durch
Einwirkungen während des Dienstes verursacht werden konnte (Art. 5 Abs. 1
lit. a MVG) und dass die Gesundheitsschädigung sicher durch Einwirkungen
während des Dienstes weder verschlimmert noch in ihrem Ablauf beschleunigt
worden ist (Art. 5 Abs. 1 lit. b MVG). Erbringt die Militärversicherung
den unter lit. a, nicht dagegen den unter lit. b verlangten Beweis,
so haftet sie für die Verschlimmerung der Gesundheitsschädigung (Art. 5
Abs. 2 MVG).

Erwägung 2

    2.- Ein behandlungsbedürftiger Zahnschaden stellt eine
Gesundheitsschädigung dar, wobei der Schaden entweder durch Unfall
oder Krankheit verursacht wird. Zahnschäden und allenfalls völlige
Zahnlosigkeit gelten nicht als schicksalhaftes, nicht zu korrigierendes
Resultat eines normalen Abnützungs- und Alterungsprozesses. In dem
von den Parteien zitierten Urteil Kobi vom 4. September 1975 hat das
Eidg. Versicherungsgericht erklärt, es gehe nicht an, die Ablehnung
der Haftung der Militärversicherung für einen behandlungsbedürftigen
Zahnschaden in der Weise zu begründen, es liege weder eine auf
Krankheit noch auf Unfall beruhende Schädigung und somit auch keine
Gesundheitsschädigung im Sinne des Art. 4 MVG vor. In Betracht komme
in einem solchen Fall lediglich die ganze oder teilweise Ablehnung der
Haftung gemäss den in Art. 5-7 MVG niedergelegten Grundsätzen.

    Daraus kann entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht
geschlossen werden, der Begriff der Gesundheitsschädigung umfasse mehr als
Unfall und Krankheit, weil einem spontanen Zahnbruch ohne unfallmässige
Verursachung möglicherweise Krankheitswert abgesprochen werden könne. Diese
Ansicht ist unter anderem deswegen unzutreffend, weil vorauszusetzen ist,
dass sowohl der gesunde als auch der diesem gleichzustellende sanierte
funktionstüchtige Zahn beim normalen Kauakt nicht abbricht bzw. dass
ein beim normalen Kauakt abgebrochener Zahn nicht mehr gesund und
funktionstüchtig war.

    Im übrigen ist zu beachten, dass Art. 1 MVG unter dem Randtitel
"Vollversicherte" diejenigen Personen aufzählt, die gegen Unfall
und Krankheit versichert sind. Auch daraus folgt, dass es im
Militärversicherungsgesetz keinen Raum gibt für andere als auf
Unfall oder Krankheit bzw. auf Schäden mit Krankheitswert beruhende
Versicherungsfälle. Der Begriff Gesundheitsschädigung stellt demnach
den Oberbegriff von Unfall und Krankheit bzw. eine zur Bezeichnung von
Unfall und Krankheit dienende Kurzumschreibung dar. Ob die Behauptung
des Beschwerdeführers zutrifft, der von der Rechtsprechung entwickelte
Unfall- und Krankheitsbegriff vermöge den militärversicherungsrechtlichen
Begriff der Gesundheitsschädigung im Hinblick auf die Opferbereitschaft
eines Versicherten im Sinne des Heldentods Winkelrieds nicht gänzlich
auszufüllen, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden.

Erwägung 3

    3.- a) Nach der Rechtsprechung genügt die blosse Tatsache eines
Zahnschadens im Dienst für die Haftung der Militärversicherung in der Regel
nicht; vielmehr muss der Schaden auf einen Unfall zurückzuführen sein.
Denn Zahnkrankheiten können ihrer Natur nach in den wenigsten Fällen
als während einer kurzen Dienstzeit entstanden oder durch sie verursacht
betrachtet werden (nicht veröffentlichte Urteile Jacquemai vom 25. Januar
1929, Garke vom 26. April 1938, Jselin vom 16. November 1938, Eng vom
1. Dezember 1938 und Müller vom 8. November 1940).

    Im bereits zitierten Urteil Kobi vom 4. September 1975 hat das
Gericht erklärt, es lasse sich nicht rechtfertigen, die Erfüllung
des Unfallbegriffs - entgegen der bisherigen Rechtsprechung (nicht
veröffentlichte Urteile Jacquemai vom 25. Januar 1929, Kungler vom
1. Oktober 1937, Eng vom 1. Dezember 1938 und Müller vom 8. November 1940)
- davon abhängig zu machen, "ob das schädigende Ereignis einen völlig
intakten oder aber einen bereits behandelten Zahn betroffen hat. Dass
einzelne oder sogar eine Anzahl von Zähnen infolge zahnärztlicher
Behandlung im Hinblick auf mechanischen Druck relativ geschwächt sind,
bildet im Erwachsenenalter wohl die Regel, wogegen ein völlig intaktes
Gebiss eher die seltene Ausnahme sein dürfte. Es ist zwar anzunehmen, dass
ein völlig gesunder Zahn stärkeren Belastungen standhält als ein sanierter.
Indessen bleibt ein behandelter Zahn in der Regel für den normalen Kauakt
durchaus funktionstüchtig. Wenn ein solcher Zahn einer plötzlichen, nicht
beabsichtigten und aussergewöhnlichen Belastung nicht standhält, darf die
Annahme eines Unfalles nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, ein
völlig intakter Zahn hätte selbst diese Belastung überstanden. Vorbehalten
bleiben Fälle, wo der Zahn so geschwächt ist, dass er auch eine normale
Belastung nicht ausgehalten hätte."

    Scheidet unter solchen Umständen Unfall als Ursache für den als
Gesundheitsschädigung im Sinne des Art. 4 MVG zu bewertenden Zahnbruch
aus, verbleibt notwendigerweise als Ursache eine Krankheit. Damit kann
sich unter anderem die Frage der Anwendbarkeit der Haftungsbestimmung des
Art. 5 Abs. 1 lit. b MVG auf diesen krankhaften bzw. krankheitsbedingten
Gesundheitsschaden stellen.

    b) In dem seither nie korrigierten Urteil Raeber vom 16. Februar 1925
hat es das Eidg. Versicherungsgericht abgelehnt, die Karies als eine
Krankheit im Sinne des Militärversicherungsgesetzes zu betrachten. Es
handle sich dabei um eine Erscheinung, die so sehr blossen physiologischen
Vorgängen, wie z.B. dem Ergrauen der Haare, dem Haarausfall und ähnlichen
Zerfallserscheinungen vergleichbar sei und in so hohem Masse durch
Zahnpflege aufgehalten werden könne, dass sie gemeinhin gar nicht als
Krankheit eingeschätzt werde, obschon man es medizinisch zweifelsohne
mit einem Krankheitszustand zu tun habe. Im übrigen stelle die Karies
zugleich eine Erscheinung dar, die unter den beliebigsten Lebensbedingungen
auftrete und die insbesondere durch den Dienst nicht mehr gefördert werde
als durch das Zivilleben.

    Ob beim heutigen Stand der Zahnmedizin und im Sinne des unter Erwägung
2 Gesagten an dieser Rechtsprechung, auf die sich die Militärversicherung
in ihrer Verfügung vom 5. März 1976 beruft, festgehalten werden soll,
kann offen gelassen werden, Weil dies für die Beurteilung des vorliegenden
Falles nicht entscheidend ist.

Erwägung 4

    4.- a) Als Unfall gilt nach der Rechtsprechung die plötzliche, nicht
beabsichtigte schädigende Einwirkung eines mehr oder weniger ungewöhnlichen
äusseren Faktors auf den menschlichen Körper (BGE 102 V 132 Erw. a,
100 V 78 Erw. 1a, 99 V 138 Erw. 1, 98 V 166, 97 V 2).

    b) Der Beschwerdeführer gab am 24. November 1975 gegenüber dem
Aussendienstinspektor der Militärversicherung folgendes zu Protokoll:

    "Ich war im Begriffe, ein gekauftes Bisquits (Totenbeinli) zu
essen. Ich
   kaute und stellte keinen harten Gegenstand fest. Plötzlich, ich dachte
   an eine Haselnussschale, hatte ich einen harten Gegenstand im Munde. Als
   ich nachschaute, war es ein abgebrochenes Zahnstück. Einen Knacks hatte
   ich nicht verspürt und es ist mir beim Beissen auch nicht aufgefallen,
   dass ich den Zahn forcierte. Der Zahn war früher plombiert worden. Einen
   anderen harten Gegenstand als das genannte Zahnstück hatte ich im
   Munde nicht festgestellt."

    Auf Grund dieses Sachverhaltes kann der am 5. Tag des Zivilschutzkurses
beim Beschwerdeführer eingetretene Zahnschaden nicht als Folge eines
Unfalles qualifiziert werden. Denn es steht fest, dass ein gesunder
bzw. ein sanierter und insoweit funktionstüchtiger Zahn beim normalen
Kauakt, selbst beim Essen harter Nahrung, nicht abbricht. Aus der Tatsache
des Zahnbruchs als solchem darf deshalb nicht abgeleitet werden, er müsse
durch einen Unfall im Rechtssinne verursacht worden sein.

Erwägung 5

    5.- Scheidet Unfall als Ursache für den als Gesundheitsschädigung
gemäss Art. 4 MVG zu bewertenden Zahnbruch aus, so kann die Ursache nur
darin liegen, dass der Zahn auf Grund eines krankhaften Geschehens bereits
derart geschwächt war, dass er am 5. Diensttag einer zwar starken,
für einen funktionstüchtigen Zahn jedoch noch normalen Belastung
nicht mehr standgehalten hat und ohne aussergewöhnliche Einwirkung
gebrochen ist. Dabei darf in Anbetracht der kurzen Dienstzeit als
erwiesen erachtet werden, dass die massgebliche Gesundheitsschädigung
- die krankheitsbedingte Schwächung des Zahnes - sicher grösstenteils
vordienstlich war und sicher nicht durch Einwirkungen während des Dienstes
verursacht werden konnte (Art. 5 Abs. 1 lit. a MVG).

    Dagegen muss der während des Dienstes entstandene Zahnbruch,
der auf eine vordienstliche Schwäche des Zahnes gegenüber hoher
mechanischer Beanspruchung zurückzuführen ist, als Verschlimmerung der
Gesundheitsschädigung betrachtet werden (Art. 5 Abs. 1 lit. b MVG),
wofür die Militärversicherung gemäss Art. 5 Abs. 2 MVG haftet.

    Anders könnte es sich nur verhalten, wenn der Zahn schon vor dem
schädigenden Ereignis und vordienstlich durch Krankheit oder Unfall derart
geschwächt oder locker gewesen wäre, dass ohnehin ein Bruch unmittelbar
bevorgestanden und der Biss nur das zufällige, auslösende Moment
gebildet hätte, in welchem Falle von einer relevanten Verschlimmerung der
Gesundheitsschädigung nicht gesprochen werden könnte. Vorliegendenfalls
liegt ein solcher Sachverhalt indessen nicht vor.

    Da eine Leistungskürzung gemäss Art. 41 Abs. 1 MVG zum vorneherein
entfällt, weil es sich bei den vom Beschwerdeführer geforderten Leistungen
um Krankenpflegeleistungen handelt, die als solche kraft der speziellen
Vorschrift von Art. 41 Abs. 3 MVG nicht gekürzt werden dürfen, braucht
die Frage, in welchem Umfange die Versicherung nach Art. 5 MVG zu haften
hätte, nicht geprüft zu werden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden das Urteil des
Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 2. Juni 1976 sowie
die Verfügung der Militärversicherung vom 5. März 1976 aufgehoben. Die
Militärversicherung wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer Fr. 892.20 zu
bezahlen.