Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 V 161



103 V 161

36. Urteil vom 19. Dezember 1977 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Meier und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Haftung für das Eingliederungsrisiko (Art. 11 Abs. 1 SVG).
Zusammenfassung und Präzisierung der Rechtsprechung.

Sachverhalt

    A.- Karin Meier (1955) unterzog sich wegen Coxa valga antetorta im
Jahre 1970 einer Varisations-Derotationsosteotomie beidseits, welche
von der Invalidenversicherung gestützt auf Art. 13 IVG als medizinische
Eingliederungsmassnahme übernommen wurde.

    Am 16. August 1975 meldete sich die Versicherte erneut bei der
Invalidenversicherung an und ersuchte um medizinische Massnahmen, weil sich
als Folge der erwähnten Eingriffe eine Schleimbeutelentzündung gebildet
habe, die operiert werden müsse. Frau Dr. med. B. diagnostizierte eine
seit 5. Mai 1975 bestehende Bursitis chronica trochanterica beidseits,
welche sich auf Grund der Varisationsosteotomien entwickelt habe; die
rechte Seite sei am 5. September 1975 in der Klinik für Orthopädie,
Chirurgie des Bewegungsapparates des Kantonsspitals, erfolgreich
operiert Worden; der Eingriff links stehe noch bevor (Bericht vom
10. Oktober 1975). Gestützt auf eine beim Kantonsspital eingeholte
Auskunft des Dr. med. P. vom 1. Dezember 1975, wonach eine chronische
Bursitis trochanterica als selbständiges Leiden gelegentlich und nach
einer Derotations-Varisationsosteotomie selten auftrete, beschloss die
Invalidenversicherungs-Kommission, das Gesuch um medizinische Massnahmen
abzulehnen. Die entsprechende Verfügung der Ausgleichskasse vom 4. Dezember
1975 wurde damit begründet, dass die Schleimbeutelentzündung keine Folge
der 1970 vorgenommenen Hüftoperation sei.

    B.- Beschwerdeweise beantragte der Vater der Versicherten, die
Invalidenversicherung habe sowohl die im September 1975 als auch die
im Januar 1976 durchgeführte Behandlung der Bursitis trochanterica zu
übernehmen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess durch Entscheid
vom 18. Oktober 1976 die Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung
auf und verpflichtete die Invalidenversicherung, für die Behandlung der
beidseitigen Bursitis trochanterica aufzukommen. Das Gericht stützte sich
auf einen von der Ausgleichskasse im Vernehmlassungsverfahren bei der
Klinik für Orthopädie, Chirurgie des Bewegungsapparates des Kantonsspitals
X, eingeholten Bericht des Oberarztes Dr. S. vom 12. April 1976, wonach
ein Zusammenhang zwischen den notwendigen Erstoperationen und der darauf
folgenden Bursitis trochanterica als sicher angenommen werden dürfe.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherung, der kantonale Entscheid sei aufzuheben
und die Kassenverfügung vom 4. Dezember 1975 wieder herzustellen. Es wird
geltend gemacht, die im Jahre 1975 aufgetretene Schleimbeutelentzündung
sei nicht als eigentliche Folge der 1970 durchgeführten Eingriffe
zu werten, könne aber durch die mit diesen Operationen beabsichtigten
Stellungskorrekturen des Trochanter majus begünstigt werden. Die Entzündung
der Bursa trochanterica sei auf eine vermehrte Belastung des Schleimbeutels
zurückzuführen und stelle ein Krankheitsgeschehen dar, welches bei
einer Varisationsosteotomie stets möglich bzw. zu erwarten sei. Die im
Jahre 1970 durchgeführten, von der Invalidenversicherung übernommenen
Behandlungen seien erfolgreich abgeschlossen worden. Es sei unbestritten,
dass das Operationsziel eine vermehrte Anfälligkeit für das Entstehen
einer Schleimbeutelentzündung in sich getragen habe; diese Tatsache allein
könne jedoch nicht zu Leistungen der Invalidenversicherung führen.

    Karin Meier hat sich nicht vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 11 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
Ersatz der Heilungskosten für Krankheiten und Unfälle, die durch
Eingliederungsmassnahmen verursacht werden.

    Die Rechtsprechung hat zu dieser Regel folgende Grundsätze entwickelt:

    a) Die Haftung der Invalidenversicherung besteht nur, wenn eine
von der Versicherung angeordnete Eingliederungsmassnahme die adäquate
Ursache einer den Versicherten schädigenden Krankheit oder eines diesen
beeinträchtigenden Unfalles ist. Es genügt nicht, dass die Krankheit
bzw. der Unfall während der Eingliederung eingetreten ist (EVGE 1962
S. 52 Erw. 2; BGE 102 V 173 Erw. 1 mit Hinweisen).

    b) Der die Haftung auslösende Kausalzusammenhang ist auch zu bejahen,
wenn die in Frage stehende Eingliederungsmassnahme lediglich eine adäquate
Teilursache der Krankheit oder des Unfalles ist (EVGE 1965 S. 77; BGE
102 V 173 Erw. 1 mit Hinweisen).

    c) Die Haftung besteht so lange, als die Gesundheitsschädigung adäquat
kausal auf eine von der Versicherung angeordnete Massnahme zurückzuführen
ist (ZAK 1972 S. 674; BGE 102 V 173 Erw. 1).

    d) Der adäquate Kausalzusammenhang ist unterbrochen bei Auftreten
nachteiliger Folgen von grundsätzlich gelungenen Eingliederungsmassnahmen,
die im Rahmen voraussehbarer bzw. in Kauf genommener geringfügiger Risiken
bleiben (ZAK 1971 S. 371 Erw. 2b; nicht veröffentlichte Urteile Gisiger
vom 20. März 1969 und Genilloud vom 28. Juli 1975; BGE 102 V 173 Erw. 1
mit Hinweisen).

    e) Ein adäquater Kausalzusammenhang besteht, wenn die als Folge einer
medizinischen Eingliederungsmassnahme entstandene Krankheit ein dieser
Massnahme inhärentes Risiko darstellt (BGE 102 V 174 Erw. 2).

    f) Es liegt dagegen kein adäquater Kausalzusammenhang und
damit keine Haftung der Invalidenversicherung vor, soweit sich der
behandlungsbedürftige Zustand aus der begrenzten Erfolgsdauer der
Eingliederungsmassnahme selbst ergibt (BGE 102 V 219).

    g) Die Haftung besteht nur, wenn eine von der Invalidenversicherung
durchgeführte medizinische Eingliederungsmassnahme ein Leiden verursacht,
das nicht vorausgesehen werden konnte und ärztliche Behandlung notwendig
macht (nicht veröffentlichte Urteile Büchler vom 12. Juli 1973, Märki
und Däppen vom 3. September 1976).

    h) Die Invalidenversicherung haftet nach Art. 11 Abs. 1 IVG selbst
dann für die durch Eingliederungsmassnahmen verursachten Krankheiten und
Unfälle, wenn jene Vorkehren zu Unrecht als Eingliederungsmassnahmen
qualifiziert und zugesprochen worden sind (BGE 102 V 175 Erw. 3, 102
V 178).

    i) Die Invalidenversicherung haftet für den Ersatz von Heilungskosten
für Krankheiten und Unfälle, welche durch eine gemäss Art. 2 Abs. 5 IVV
von ihr zu übernehmende Behandlung des Leidens an sich verursacht werden
(BGE 102 V 175).

    k) Der Umstand, dass eine Eingliederungsmassnahme nicht vorgängig
durch die Verwaltung, sondern - nach erfolgter Durchführung - erst vom
Richter zugesprochen wird, steht der Haftung der Invalidenversicherung
nicht entgegen (EVGE 1968 S. 199; BGE 102 V 173 Erw. 1).

    l) Die Ansprüche gemäss Art. 11 IVG sind begründet in der Haftung
der Versicherung für die Folgen der von ihren Organen angeordneten
Eingliederungsmassnahmen (ZAK 1965 S. 235 f.). Es handelt sich dabei um
eine Kausalhaftung, weshalb es im Verhältnis zwischen Versicherung und
Versicherten unerheblich ist, ob den Schadensverursacher ein Verschulden
trifft oder nicht (BGE 102 V 173 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Ein Vergleich dieser Grundsätze ergibt, dass an der in den
erwähnten Urteilen Büchler, Märki und Däppen (vgl. Erw. 1g hievor)
entwickelten Praxis, wonach die Haftung der Invalidenversicherung nur
besteht, wenn eine medizinische Eingliederungsmassnahme ein Leiden
verursacht, das nicht vorausgesehen werden konnte, in dieser Form nicht
festgehalten werden kann. Denn eine solche Betrachtungsweise stellt zu
einseitig auf das Moment der Voraussehbarkeit ab und steht im Widerspruch
zu dem in BGE 102 V 174 Erw. 2 festgehaltenen Grundsatz (vgl. Erw. 1e
hievor), wonach sekundäre Leiden, die ein der Eingliederungsmassnahme
inhärentes Risiko darstellen, in adäquatem Zusammenhang zur
Eingliederungsmassnahme stehen. (Im Unterschied dazu ist der adäquate
Kausalzusammenhang unterbrochen beim Auftreten nachteiliger Folgen von
grundsätzlich erfolgreich abgeschlossenen Eingliederungsmassnahmen,
die im Rahmen voraussehbarer geringfügiger Risiken bleiben (vgl. die in
Erw. 1d hievor zitierte Rechtsprechung).)

    Der in den Urteilen Büchler, Märki und Däppen erwähnte Grundsatz
ist ersetzt worden durch BGE 102 V 219, welches Urteil mit der soeben
dargelegten Rechtsprechung vereinbar ist und besagt, dass kein Haftungsfall
im Sinne von Art. 11 Abs. 1 IVG vorliegt, wenn eine medizinische
Eingliederungsmassnahme ihren Zweck erreicht hat, aber wegen ihrer (zum
voraus bekannten) beschränkten Erfolgsdauer an Wirkung einbüsst oder sie
sogar verliert und damit der - in der Regel ursprüngliche - krankhafte
Zustand wieder eintritt. Ob in einem solchen Fall die erforderlichen neuen
Massnahmen von der Invalidenversicherung zu übernehmen sind, beurteilt
sich daher nicht nach Art. 11 IVG, sondern danach, ob nach Sachverhalt
und Rechtslage zur Zeit der neu zu erlassenden Verfügung die materiellen
Voraussetzungen erfüllt sind.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten und steht nach
den Akten fest, dass die im Jahre 1970 durchgeführten und von der
Invalidenversicherung gestützt auf Art. 13 IVG übernommenen medizinischen
Massnahmen (Varisations-Derotationsosteotomien beidseits) erfolgreich
abgeschlossen worden sind und dass sich nachträglich beidseits eine
Bursitis chronica trochanterica entwickelt hat. Es fragt sich, ob dieses
Leiden adäquat kausal mit jenen Operationen zusammenhängt.

    Die Vorinstanz hat diese Frage gestützt auf den Bericht der Klinik für
Orthopädie, Chirurgie des Bewegungsapparates des Kantonsspitals X, vom 12.
April 1976, wonach in jedem Falle ein Zusammenhang zwischen den notwendigen
Erstoperationen und der darauf folgenden Bursitis trochanterica als sicher
angenommen werden dürfe, bejaht. Das Bundesamt für Sozialversicherung
dagegen hält dafür, die im Jahre 1970 durchgeführten Massnahmen seien
erfolgreich abgeschlossen worden. Es sei zwar unbestritten, dass das
Operationsresultat eine vermehrte Anfälligkeit für das Entstehen einer
Schleimbeutelentzündung in sich geborgen habe; dies genüge indessen gemäss
der Rechtsprechung nicht, um eine Haftung der Invalidenversicherung nach
Art. 11 Abs. 1 IVG zu begründen. Das Amt verweist auf ZAK 1971 S. 371
Erw. 2b und auf die nicht veröffentlichten Urteile Genilloud vom 28. Juli
1975 sowie Däppen und Märki vom 3. September 1976.

    Der Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung kann indessen
nicht beigepflichtet werden. Nach dem in Erw. 1e und 2 Gesagten sowie
auf Grund des Berichtes des Kantonsspitals X vom 12. April 1976 und der
medizinischen Feststellungen des Bundesamtes für Sozialversicherung handelt
es sich bei der Bursitis trochanterica um ein eigentliches sekundäres
Leiden, das als ein der Varisations-Derotationsosteotomie inhärentes Risiko
zu betrachten ist. Somit sind der adäquate Kausalzusammenhang und mithin
die Haftung der Invalidenversicherung gemäss Art. 11 Abs. 1 IVG zu bejahen
(BGE 102 V 174 Erw. 2).

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.