Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 V 131



103 V 131

32. Urteil vom 2. Dezember 1977 i.S. H. gegen COOP-AHV-Ausgleichskasse
und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen Basel-Stadt Regeste

    Drittauszahlung von Renten.

    - Kinderrenten gemäss Art. 35 Abs. 1 IVG: Anspruch des Vormundes auf
direkte Auszahlung der Rente für ein aussereheliches Kind (Erw. 2-4).

    - Massgebender Zeitpunkt für den Beginn der Drittauszahlung (Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Andrea H., geboren am 1. April 1958, ist der aussereheliche Sohn
des B. Er steht gemäss Art. 311 Abs. 2 ZGB unter Vormundschaft. Von April
1975 bis Juli 1976 absolvierte er eine Anlehre als Lebensmittelverkäufer
und war während dieser Zeit in einem Lehrlingsheim untergebracht. Bis
zur Vollendung des 18. Altersjahres bezahlte sein ausserehelicher Vater
einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 200.--.

    B. bezieht seit dem 1. September 1975 eine ganze
Ehepaar-Invalidenrente. Zusätzlich wurde ihm eine einfache Kinderrente
von Fr. 356.-- im Monat für Andrea H. zugesprochen. Mit Schreiben vom
13. Januar 1976 ersuchte der Vormund des Andrea H. die Ausgleichskasse, die
Kinderrente, welche vom ausserehelichen Vater nicht weitergeleitet werde,
sei ihm zu überweisen; am 17. Februar 1976 reichte er das entsprechende
Gesuchsformular ein. Mit Verfügung vom 18. Februar 1976 eröffnete die
Ausgleichskasse B., die Zusatzrente für den ausserehelichen Sohn werde
ab 1. März 1976 der Vormundschaftsbehörde ausbezahlt.

    B.- Hiegegen beschwerte sich B. mit dem Antrag, die Kinderrente sei
weiterhin ihm selbst auszurichten. Zur Begründung brachte er vor, er habe
die monatlichen Unterhaltsbeiträge regelmässig bezahlt und es sei nicht
einzusehen, weshalb die Kinderrente dem Vormund zu überweisen sei.

    Die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen Basel-Stadt
stellte fest, die für die Auszahlung der Rente an eine Drittperson oder
Behörde geltenden Voraussetzungen seien nicht erfüllt; insbesondere sei
nicht erstellt, dass der Beschwerdeführer die Kinderrente nicht für sich
oder seinen ausserehelichen Sohn verwende und dass er oder sein Sohn
deshalb der Fürsorge zur Last falle. Demgemäss hob die Rekurskommission
die angefochtene Verfügung auf und wies die Ausgleichskasse an, die
Kinderrente weiterhin B. auszurichten (Entscheid vom 6. Mai 1976).

    C.- Namens des Andrea H. erhebt dessen Vormund
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Kinderrenten für die Zeit
von September 1975 bis Juli 1976 seien "im noch nicht abgelieferten Betrag
von Fr. 1'491.40" ihm auszubezahlen. Er macht geltend, weil sein Mündel
nicht im Haushalt des B. lebe, könne dieser die Kinderrente nur dadurch für
den ausserehelichen Sohn verwenden, dass er sie dem Vormund abliefere. Da
er dieser Pflicht nicht nachgekommen sei, habe die Ausgleichskasse
um Direktauszahlung an den Vormund ersucht werden müssen. Im übrigen
beanstandet er, dass er im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren nicht
zur Vernehmlassung beigeladen worden ist.

    Während sich die Ausgleichskasse unter Hinweis auf die erstinstanzliche
Vernehmlassung eines bestimmten Begehrens enthält, beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherung, die Beschwerde sei gutzuheissen,
der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Kassenverfügung
wiederherzustellen; die Begründung dieses Antrages ergibt sich aus den
nachstehenden Urteilserwägungen. Der beigeladene B. beantragt sinngemäss
die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Mit Entscheid vom 6. Mai 1976 hat die Vorinstanz die Beschwerde
des B. gegen die Verfügung der Ausgleichskasse vom 18. Februar 1976
gutgeheissen und die Kasse angewiesen, die einfache Kinderrente weiterhin
dem ausserehelichen Vater auszuzahlen. Es ist offensichtlich, dass Andrea
H. durch diesen Entscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse
an dessen Aufhebung hat. Er ist daher, vertreten durch seinen Vormund,
zur Beschwerdeführung vor dem Eidg. Versicherungsgericht berechtigt
(Art. 103 lit. a OG).

    In formellrechtlicher Hinsicht rügt der Vormund, dass er als Vertreter
des Andrea H. im vorinstanzlichen Verfahren nicht beigeladen worden
ist. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bleibt der Anspruch auf
rechtliches Gehör indessen gewahrt, falls sich der Betroffene vor einer mit
voller Kognition ausgestatteten Rekursbehörde äussern kann (BGE 98 Ib 171
Erw. 3 und 176 Erw. 3, 97 I 885 Erw. 1b). Weil es im vorliegenden Verfahren
um Versicherungsleistungen geht und dem Eidg. Versicherungsgericht nach
Art. 132 OG eine umfassende Überprüfungsbefugnis zusteht, kann der geltend
gemachte Verfahrensmangel somit als geheilt gelten, weshalb kein Anlass
zu einer Rückweisung der Sache an die Vorinstanz besteht.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 76 Abs. 1 AHVV - anwendbar auf die Invalidenversicherung
gemäss Art. 84 IVV - kann die Ausgleichskasse die Rente ganz oder
teilweise einer geeigneten Drittperson oder Behörde auszahlen,
die dem Rentenberechtigten gegenüber gesetzlich oder sittlich
unterstützungspflichtig ist oder ihn dauernd fürsorgerisch betreut.
Voraussetzung ist, dass der Rentenberechtigte die Rente nicht für den
Unterhalt seiner selbst und der Personen, für welche er zu sorgen hat,
verwendet oder dass er nachweisbar nicht imstande ist, die Rente hiefür
zu verwenden, und dass er oder die Personen, für die er zu sorgen hat,
deswegen ganz oder teilweise der öffentlichen oder privaten Fürsorge zur
Last fallen.

    Bezüglich der Zusatzrenten für die Ehefrau - welcher die geschiedene
Frau gleichgestellt ist, sofern sie für die ihr zugesprochenen Kinder
überwiegend aufkommt und selbst keine Invalidenrente beanspruchen kann
- bestimmt Art. 34 Abs. 3 IVG, dass die Rente auf Verlangen der Frau
auszuzahlen ist, wenn der Ehemann nicht für die Ehefrau sorgt oder
die Ehegatten getrennt leben oder geschieden sind; vorbehalten bleiben
abweichende zivilrichterliche Anordnungen.

    Im Rahmen von Art. 35 IVG, welcher den Anspruch auf Kinderrenten
regelt, fehlt eine besondere Regelung über die Auszahlung der Rente an
Dritte, wie sie Art. 34 Abs. 3 IVG hinsichtlich der Zusatzrente für die
Ehefrau vorsieht (vgl. hiezu auch EVGE 1964 S. 268 Erw. 4).

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 35 Abs. 1 IVG haben Personen, denen eine Invalidenrente
zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der
AHV beanspruchen kann, Anspruch auf eine Kinderrente. Dem gesetzlichen
Zweck entsprechend ist die Kinderrente ausschliesslich für den Unterhalt
und die Erziehung des Kindes zu verwenden (EVGE 1964 S. 264, ZAK 1965
S. 53). Weil das Gesetz keine Bestimmung enthält, welche die zweckgemässe
Verwendung in jedem Fall gewährleisten würde, hat die Rechtsprechung
ergänzende Regeln aufgestellt und eine Auszahlung der Rente an Dritte unter
bestimmten Voraussetzungen auch dann zugelassen, wenn die Bedingungen des
Art. 76 Abs. 1 AHVV nicht erfüllt sind. Danach ist die Kinderrente der
getrennt lebenden oder geschiedenen Mutter auszuzahlen, Wenn diese die
elterliche Gewalt innehat, das Kind nicht beim rentenberechtigten Vater
wohnt und sich dessen Unterhaltspflicht in einem Kostenbeitrag erschöpft
(BGE 98 V 216, ZAK 1969 S. 122). In BGE 101 V 208 wurde präzisierend
ausgeführt, die genannte Praxis könne nur Anwendung finden, falls die
Rechtslage eindeutig und stabil sei; nicht anwendbar sei sie auf labile
und provisorische Verhältnisse, bei denen der Zivilrichter jederzeit die
notwendigen Eheschutzmassnahmen treffen könne; vorbehalten blieben in
jedem Fall abweichende zivilrichterliche Anordnungen.

    Die erwähnten Urteile betreffen die Auszahlung von Kinderrenten
für Kinder aus getrennter oder geschiedener Ehe. Es rechtfertigt sich
indessen, die Praxis sinngemäss auch dann anzuwenden, wenn es um die
Auszahlung von Kinderrenten für unter Vormundschaft stehende aussereheliche
Kinder geht. Auch in diesen Fällen ist die Rente ausschliesslich für den
Unterhalt und die Erziehung des Kindes bestimmt, wobei die zweckgemässe
Verwendung der Rente in ebenso starkem Masse gefährdet sein kann wie bei
Kinderrenten für eheliche Kinder aus getrennten und geschiedenen Ehen. Wird
das aussereheliche Kind unter Vormundschaft gestellt, so obliegt es dem
Vormund, für Unterhalt und Erziehung des Kindes besorgt zu sein. Der
Vormund nimmt in dieser Beziehung eine dem Inhaber der elterlichen Gewalt
analoge Stellung ein (Art. 405 ZGB). Es rechtfertigt sich daher, ihn in
gleicher Weise wie den Inhaber der elterlichen Gewalt zum direkten Bezug
der Kinderrente zu berechtigen, wenn die gemäss Praxis hiefür geltenden
Voraussetzungen erfüllt sind.

Erwägung 4

    4.- Wie die Vorinstanz zutreffend feststellt, sind die gemäss Art. 76
Abs. 1 AHVV für die Drittauszahlung der Rente geltenden Voraussetzungen im
vorliegenden Fall nicht erfüllt. Zu prüfen bleibt, wie es sich hinsichtlich
der nach der Rechtsprechung für die Auszahlung von Kinderrenten an Dritte
geltenden Bedingungen verhält.

    Die rechtlichen Verhältnisse waren bei Einreichung des Gesuchs um
Auszahlung der Rente an den Vormund eindeutig und stabil. Den Akten
ist zu entnehmen, dass Andrea H. jedenfalls in der hier massgebenden
Zeit nicht im Haushalt des ausserehelichen Vaters lebte und dass sich
dessen Unterhaltspflicht auf einen monatlichen Beitrag von Fr. 200.--
beschränkte. Bei dieser Sachlage macht der Beschwerdeführer zu Recht
geltend, dass B. verpflichtet gewesen wäre, die Kinderrente dem Vormund
abzuliefern, und dass er, indem er dieser Pflicht nicht nachgekommen ist,
die Rente ihrem gesetzlichen Zweck entzogen hat. Das Begehren des Vormundes
um direkte Auszahlung der Kinderrente erweist sich daher als begründet,
weshalb ihm grundsätzlich stattzugeben ist.

Erwägung 5

    5.- Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eine Drittauszahlung der
Rente ab September 1975 beantragt. Der Vormund hat sich jedoch erstmals am
13. Januar 1976 mit einem solchen Begehren an die Ausgleichskasse gewandt
und am 17. Februar 1976 das einschlägige Gesuchsformular eingereicht. Eine
Änderung im Auszahlungsmodus setzt aber voraus, dass ein diesbezügliches
Gesuch vorliegt und die Rente noch nicht zur Zahlung angewiesen worden
ist. Nach der Verwaltungspraxis kann eine Drittauszahlung von Renten
gemäss Art. 76 AHVV grundsätzlich nur für noch nicht ausbezahlte Leistungen
verlangt und verfügt werden (Rz. 1098 der Wegleitung über die Renten vom
1. Januar 1971). Diese Praxis hat auch auf den vorliegenden Fall Anwendung
zu finden. Sie steht im Einklang mit der Regelung, wie sie hinsichtlich
der Aufteilung der Ehepaarrenten der AHV und Invalidenversicherung auf
Verlangen der Ehefrau gilt (Art. 44 Abs. 2 AHVV und Art. 29quater Abs. 2
IVV). Unter den gegebenen Umständen ist nicht zu beanstanden, dass die
Ausgleichskasse auf den Zeitpunkt der Gesuchseinreichung (17. Februar 1976)
abgestellt und den Beginn der Auszahlung der Kinderrente an den Vormund
auf den 1. März 1976 festgesetzt hat. Nachdem die Rente für die Monate März
bis Juli 1976 (Abschluss der Ausbildung des Andrea H.) dem Vormund bereits
ausbezahlt worden ist, hat der Beschwerdeführer nichts mehr nachzufordern.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
der vorinstanzliche Entscheid aufgehoben und die Kassenverfügung
vom 18. Februar 1976 bestätigt. Im übrigen wird die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.