Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 V 126



103 V 126

30. Auszug aus dem Urteil vom 24. November 1977 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Peter und Rekurskommission der AHV/IV für die
im Ausland wohnenden Personen Regeste

    Art. 97 AHVG. Auch die Wiedererwägung einer formell rechtskräftigen
Rentenverfügung setzt u.a. voraus, dass sie sich als zweifellos unrichtig
erweist.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Der am 27. Mai 1934 geborene und am 21. September 1968 verstorbene
österreichische Staatsangehörige Günter Peter hielt sich vom 25. Mai
1954 bis 3. August 1956 zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der
Schweiz auf. Nach seinem Tode sprach die Schweizerische Ausgleichskasse
seinen beiden Kindern mit Wirkung ab 1. Januar 1969 (Inkrafttreten
des schweizerisch-österreichischen Abkommens über soziale Sicherheit
vom 15. November 1967) je eine einfache Waisenrente (Verfügungen vom
20. Oktober 1969) und - auf Beschwerde hin - der geschiedenen Ehefrau
Brigitte Peter eine Witwenrente zu (Verfügung vom 15. Mai 1970). Auf Grund
eines durchschnittlichen Jahresbeitrages beider Ehegatten von Fr. 430.--
aus zwei Jahren und drei Monaten setzte die Kasse die Witwenrente auf
Fr. 38.-- und die Waisenrenten auf je Fr. 20.-- im Monat fest; ab 1. Januar
1973 betrugen die Witwenrente Fr. 79.-- und die Waisenrenten je Fr. 40.--
monatlich.

    Mit Verfügung vom 21. Juni 1973 setzte die Ausgleichskasse die
Renten unter Annahme einer Beitragsdauer von einem Jahr und acht
Monaten neu auf Fr. 24.-- ab 1. Januar 1969 und Fr. 27.-- ab 1. Januar
1971 für die Witwe und je Fr. 12.-- bzw. Fr. 14.-- für die Waisen
fest. Gleichzeitig eröffnete sie der Rentenbezügerin, bei der Ermittlung
der massgebenden Rentenskala sei irrtümlicherweise auch die Beitragszeit
berücksichtigt worden, welche der Versicherte vor dem auf die Vollendung
des 20. Altersjahres folgenden Kalenderjahr zurückgelegt habe.

    B.- Beschwerdeweise ersuchte Brigitte Peter um Weitergewährung der
Renten in der bisherigen Höhe.

    Mit Entscheid vom 9. Dezember 1976 hiess die Rekurskommission für
die im Ausland wohnenden Personen die Beschwerde gut und verpflichtete
die Ausgleichskasse, Brigitte Peter ab 1. August 1973 weiterhin eine
Witwenrente von Fr. 79.-- und zwei Waisenrenten von je Fr. 40.-- im
Monat auszurichten. Die Rekurskommission stellte fest, die Renten seien
mit der angefochtenen Verfügung richtig berechnet worden, doch seien die
Voraussetzungen zu einer Wiedererwägung der früheren Verfügungen mangels
offensichtlicher Unrichtigkeit nicht erfüllt gewesen.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung, der vorinstanzliche
Entscheid sei aufzuheben und die Rentenverfügung vom 21. Juni 1973
wiederherzustellen. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung gelangt das
Bundesamt zum Schluss, angesichts der klaren Rechtslage bleibe auch im
vorliegenden Fall kein Raum für eine andere Lösung als die Berichtigung
der Renten gemäss Kassenverfügung vom 21. Juni 1973.

    Brigitte Peter hat sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Anlässlich der Rentenverfügungen vom 20. Oktober 1969 und 15. Mai
1970 ist die Ausgleichskasse von einer Beitragsdauer von zwei Jahren und
drei Monaten ausgegangen. Der Ehemann der Beschwerdegegnerin hat seit
dem 1. Januar des der Vollendung des 20. Altersjahres folgenden Jahres (
1. Januar 1955) aber nur während eines Jahres und acht Monaten Beiträge
geleistet. Dass die Kasse die Renten auf dieser Grundlage nachträglich
zutreffend festgesetzt hat, kann als unbestritten gelten. Streitig ist
dagegen, ob sie befugt war, auf die früheren Verfügungen zurückzukommen.

    a) Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts
kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht
Gegenstand einer gerichtlichen Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung
ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher
Bedeutung ist (BGE 102 V 17 Erw. 3a mit Hinweisen). Bei der Beurteilung,
ob eine Wiedererwägung wegen zweifelloser Unrichtigkeit zulässig sei, ist
vom Rechtszustand auszugehen, wie er im Zeitpunkt des Verfügungserlasses
bestanden hat, wozu auch die seinerzeitige Rechtspraxis gehört; eine
Praxisänderung vermag aber kaum je die frühere Praxis als zweifellos
unrichtig erscheinen zu lassen (BGE 100 V 25 Erw. 4b).

    Die für die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen
massgebenden Voraussetzungen gelten auch mit Bezug auf die Rückerstattung
zu Unrecht bezogener Geldleistungen der AHV und IV (Art. 47 Abs. 1 AHVG
und Art. 49 IVG). Eine gesetzwidrige Rentenberechnung hat indessen
regelmässig als zweifellos unrichtig zu gelten, und es stellt sich in
diesen Fällen lediglich die Frage, ob die Berichtigung der Verfügung von
erheblicher Bedeutung ist. Diese Voraussetzung erfüllt in der Regel schon
eine geringfügige Korrektur des monatlichen Rentenbetrages.

    b) Die Vorinstanz ist unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Eidg.
Versicherungsgerichts der Auffassung, im vorliegenden Fall sei eine
Wiedererwägung nicht zulässig, weil die früheren Verfügungen "angesichts
des keineswegs eindeutigen Gesetzestextes nicht als offensichtlich
unrichtig gelten" könnten.

    In BGE 98 V 194 hat das Eidg. Versicherungsgericht festgestellt, dass
der Rechtszustand, wonach die vor dem 1. Januar des der Volljährigkeit
folgenden Kalenderjahres zurückgelegten Beitragszeiten bei der
Ermittlung der für die Wahl der Rentenskala massgebenden Beitragsdauer
nicht berücksichtigt werden könnten, unbefriedigend sei. Das Gericht
hat auch Gründe genannt, die eine ersatzweise Anrechnung von früheren
Beitragszeiten als berechtigt erscheinen liessen. Entscheidend ist jedoch,
dass die eingehenden rechtlichen Erwägungen zum einzig möglichen Schluss
geführt haben, dass das geltende Recht keine Ausfüllung von Lücken in der
Beitragsdauer des Versicherten mit dessen Beitragszeiten als Minderjähriger
zulässt. Dieser seit Einführung der AHV bestehende Rechtszustand ist auch
für den Richter verbindlich und könnte lediglich vom Gesetzgeber selbst
geändert werden. Eine solche Änderung schlägt der Bundesrat im Rahmen
der 9. AHV-Revision vor (BBl 1976 III 54 f. und 96).

    Bei Entstehung des Rentenanspruchs konnte kein Zweifel über die
Rechtslage hinsichtlich der hier streitigen Frage bestehen. Hieran
vermag nichts zu ändern, dass die Verfügungen, auf welche die Kasse
zurückgekommen ist, vor Veröffentlichung der genannten Rechtsprechung
des Eidg. Versicherungsgerichts ergangen sind. Entgegen dem in BGE 100
V 20 beurteilten Sachverhalt ergibt sich der massgebende Rechtszustand
unmittelbar aus der gesetzlichen Ordnung und nicht aus einer diese
ergänzenden Rechtspraxis (vgl. hiezu BGE 98 V 201 Erw. 5). Die
Kassenverfügungen vom 20. Oktober 1969 und 15. Mai 1970, welche der
gesetzlichen Regelung widersprechen, haben daher als zweifellos unrichtig
zu gelten. Weil die Berichtigung offensichtlich von erheblicher Bedeutung
ist (Kürzung der Rente um mehr als die Hälfte bei voraussichtlich langer
Bezugsdauer), sind die Voraussetzungen zu einer Wiedererwägung erfüllt. Die
Kassenverfügung vom 21. Juni 1973 ist folglich zu Recht ergangen.