Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 V 107



103 V 107

26. Urteil vom 22. September 1977 i.S. Printing Studio AG gegen
Ausgleichskasse der graphischen und papierverarbeitenden Industrie der
Schweiz (AGRAPI) und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Wiedererwägung der Verwaltungsverfügung nach Beschwerdeerhebung. Es
ist zumindest nicht bundesrechtswidrig, wenn die Kantone auf Grund von
ausdrücklichen prozessualen Vorschriften oder einer sinngemässen Praxis
ein dem Art. 58 VwVG entsprechendes Verfahren anwenden (Änderung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Nach einer Arbeitgeberkontrolle für die Jahre 1971 bis 1975, die
ein Revisor der Ausgleichskasse der graphischen und papierverarbeitenden
Industrie der Schweiz (AGRAPI) bei der Firma Printing Studio AG am
22./23. April 1976 durchgeführt hatte, wurde im Kontrollbericht vom 10. Mai
1976 eine Differenz aus paritätischen Beiträgen von Fr. ... zu Gunsten
der Ausgleichskasse festgestellt. Gestützt auf diesen Kontrollbericht
verfügte die Ausgleichskasse AGRAPI am 14. Juni 1976 die Nachzahlung
des Differenzbetrages. - Mit einer vom 30. April 1976 datierenden
"Korrektur-Nota" forderte die Kasse von der Printing Studio AG zudem
einen Betrag von Fr. 1'656.-- zu Gunsten der Personalfürsorgestiftung
des Schweizerischen Buchdruckervereins.

    B.- Die Printing Studio AG machte bei der AHV-Rekurskommission des
Kantons Zürich am 7. Juli 1976 beschwerdeweise geltend, einerseits sei
die "Korrektur-Nota" unrichtig, anderseits seien die Nachbelastungen
für die Jahre 1971 bis 1975 für R. C. falsch und willkürlich. In ihrer
Vernehmlassung vom 3. August 1976 zur Beschwerde führt die Ausgleichskasse
AGRAPI aus, zuständig für Streitigkeiten der Personalfürsorgestiftung sei
der Stiftungsrat des Schweizerischen Buchdruckervereins. Im übrigen hätte
sie im Sinne der Einwendungen in der Beschwerde alle im Kontrollbericht
belasteten Spesen des R. C. im Betrage von Fr. ... gutgeschrieben;
das ergebe sich aus der beigelegten Kreditnota vom 2. August 1976. - Mit
Präsidialverfügung vom 9. September 1976 trat die AHV-Rekurskommission des
Kantons Zürich auf die Streitsache bezüglich der Personalfürsorgestiftung
nicht ein und schrieb im übrigen die Beschwerde als gegenstandslos
ab. Die Printing Studio AG habe zwar fristgerecht Beschwerde eingereicht;
die Ausgleichskasse habe aber inzwischen den Beschwerdebegehren soweit
entsprochen, als sich die Parteien nicht einig gewesen seien, so dass
kein Streit mehr zwischen den Parteien bestehe.

    C.- Die Printing Studio AG erhebt gegen die kantonale
Präsidialverfügung vom 9. September 1976 rechtzeitig
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und verlangt sinngemäss die Rückweisung
der Sache an die Verwaltung zu erneuter Abklärung. Mit der Gutschrift
gebe die Ausgleichskasse zu, dass der Kontrollbericht fehlerhaft sei; sie
verlange deshalb, dass die Ausgleichskasse AGRAPI sie durch einen Beamten
aufsuchen lasse, "damit dieser den tatsächlichen Beweis antreten" könne,
"dass die verlangten Beträge wirklich geschuldet" würden.

    Während die Ausgleichskasse AGRAPI für die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eintritt, beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung Nichteintreten, da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
weder Antrag, in welcher Weise der angefochtene Entscheid abzuändern
sei, noch Begründung enthalte und damit den Anforderungen, denen eine
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu genügen habe, nicht entspreche. - In
Ergänzung des Schriftenwechsels wurde das Bundesamt für Sozialversicherung
eingeladen, zur Tragweite des Art. 58 VwVG Stellung zu nehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 58 VwVG kann die Vorinstanz bis zu ihrer
Vernehmlassung an die Beschwerdeinstanz die angefochtene Verfügung in
Wiedererwägung ziehen (Abs. 1). Sie eröffnet eine neue Verfügung ohne
Verzug den Parteien und bringt sie der Beschwerdeinstanz zur Kenntnis
(Abs. 2). Die Beschwerdeinstanz setzt die Behandlung der Beschwerde fort,
soweit diese durch die neue Verfügung der Vorinstanz nicht gegenstandslos
geworden ist (Abs. 3 Satz 1). Nach Art. 1 Abs. 3 VwVG, der sich mit dem
Geltungsbereich des Gesetzes befasst, finden auf das Verfahren letzter
kantonaler Instanzen, die gestützt auf öffentliches Recht des Bundes
nicht endgültig verfügen, lediglich die Art. 34 bis 38, 61 Abs. 2 und 3
sowie Art. 55 Abs. 2 und 4 VwVG Anwendung. Weil Art. 58 VwVG in Art. 1
Abs. 3 VwVG nicht angeführt ist, findet er somit auf das Verfahren letzter
kantonaler Instanzen grundsätzlich keine Anwendung.

    Die bisherige Rechtsprechung hat angenommen, dass der Verwaltung
die Verfügung über einen Streitgegenstand entzogen sei, sobald
er beim kantonalen Richter rechtshängig geworden ist; denn mit der
Rechtshängigkeit werde die Verwaltung, welche die angefochtene Verfügung
erlassen hat, Partei mit allen rechtlichen Konsequenzen dieser prozessualen
Eigenschaft. Eine nach Rechtshängigkeit erlassene formelle Verfügung der
Verwaltung habe unter diesen Umständen lediglich den Charakter eines
Antrags an den Richter (BGE 96 V 24; EVGE 1968 S. 117, 1963 S. 179,
1962 S. 157; ZAK 1964 S. 95, 1962 S. 485).

    b) Wie das Bundesamt für Sozialversicherung in seiner Vernehmlassung
vom 20. Juni 1977 ausführlich darlegt, findet diese Rechtsprechung nicht
ungeteilte Zustimmung. Ihr werde vielfach nicht oder doch nur rein formell
nachgelebt, indem die Rekursbehörden bei Erfüllung der Beschwerdebegehren
durch die Kasse zwar einen Entscheid fällten, eine eingehende materielle
Prüfung der Sache aber unterliessen. Dieses Vorgehen vertrage sich
nicht mit der Vorschrift des Art. 85 Abs. 2 lit. c und d AHVG, der eine
eingehende Behandlung der Streitsache durch die Rekursbehörden verlange;
es sei aber insofern verständlich, als die Rekursbehörden oft erhebliche
Arbeit auf sich nehmen müssten, obwohl die Sache praktisch gegenstandslos
geworden sei.

    Auch bei der Verwaltung zeitigten sich Nachteile. Namentlich auf dem
Gebiet der Invalidenversicherung seien die Tatbestände häufig komplex
und ihre Wertung aus medizinischer Sicht nicht immer eindeutig. Bei der
heutigen Praxis sei es der Verwaltung, welche oft nach langwierigen
Abklärungen verfüge, nicht möglich, im Beschwerdeverfahren auf Grund
geltend gemachter oder zutage getretener neuer Verhältnisse auf ihre
Verfügung zurückzukommen. Sie habe den Entscheid des Richters abzuwarten
und dann - nach verhältnismässig langer Zeit - sich neu mit der Sache zu
befassen. Diese Tatsachen stünden im Widerspruch zu Art. 85 Abs. 2 lit. a
AHVG, wonach das Verfahren einfach und rasch sein müsse.

    c) Den vom Bundesamt für Sozialversicherung angeführten Tatsachen
mag eine gewisse Tragweite nicht abgesprochen werden, sie sind indessen
nicht entscheidend. Wesentlich ist vielmehr, dass eine kantonale
Prozessvorschrift nicht als dem Bundesrecht widersprechend bezeichnet
werden kann, wenn das Bundesrecht selber dies nicht ausdrücklich
verlangt und es seinerseits in seinem Verfahrensrecht (Art. 58 VwVG)
eine analoge Bestimmung kennt. Nach dem Beschluss des Gesamtgerichts ist
es daher zumindest nicht bundesrechtswidrig, wenn die Kantone auf Grund
von ausdrücklichen prozessualen Vorschriften oder einer sinngemässen
Praxis ein dem Art. 58 VwVG entsprechendes Verfahren anwenden. Damit
wird Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG, wonach das von den Kantonen zu regelnde
Verfahren einfach und rasch sein muss, konkretisiert und inhaltlich
erweitert. Zur Frage, ob die Wiedererwägung im Sinne von Art. 58 VwVG
als Ausdruck eines allgemeinen Bundesrechtsgrundsatzes zu verstehen sei,
an den sich die Kantone zwingend zu halten hätten und der allenfalls auch
im Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht sinngemäss anwendbar wäre,
ist heute nicht abschliessend Stellung zu nehmen.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall erteilte die Ausgleichskasse der
Beschwerdeführerin zusammen mit ihrer Vernehmlassung an die Vorinstanz
am 2. August 1976 Gutschrift über alle im Kontrollbericht belasteten,
noch streitigen Spesen. Soweit die Vorinstanz demzufolge das Verfahren als
gegenstandslos abschrieb, folgte sie einer dem Art. 58 VwVG entsprechenden
Praxis. Ihr Entscheid erweist sich somit nicht als bundesrechtswidrig,
so dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen ist.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.