Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IV 299



103 IV 299

82. Urteil des Kassationshofes vom 21. Oktober 1977 i.S. M. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Regeste

    1. Art. 249 BStP: Schreibt das Gesetz die Erhebung bestimmter Beweise
vor, ist deren Ausschluss durch vorweggenommene Beweiswürdigung unzulässig;
in der Würdigung dieses Beweises bleibt der Richter frei (E. 1).

    2. Begutachtung der Blutanalyse zur Feststellung der Angetrunkenheit
(Art. 141 Abs. 3 und 4 VZV): Mitberücksichtigung des ärztlichen
Untersuchungsbefundes und des Polizeiberichtes; Anforderungen an die
Begründung (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Am Abend des 27. August 1976 missachtete M. in Horgen/Käpfnach
mit seinem Personenwagen eine auf Rot stehende Signalanlage und überholte
mehrere davor vorschriftsgemäss haltende Fahrzeuge. Deswegen sprach ihn
der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Horgen wegen Verletzung
von Verkehrsregeln schuldig. Gleichzeitig verurteilte er ihn gestützt
auf das Ergebnis der Blutprobe von mindestens 3,34%o wegen Fahrens in
angetrunkenem Zustand zu zwei Monaten Gefängnis unbedingt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 17. März 1977 eine
Berufung M.'s ab.

    C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt M., das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben, soweit es ihn des Fahrens in angetrunkenem
Zustande schuldig befunden und unbedingt zu einer 2monatigen
Gefängnisstrafe verurteilt hat, und die Sache sei zur Ergänzung der
Beweise und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Obergericht und Staatsanwaltschaft verzichten auf Gegenbemerkungen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer stellte im vorinstanzlichen Verfahren
verschiedene Beweisanträge. So verlangte er die Einvernahme der
Serviertochter und der Wirtsleute des Restaurants, in welchem er sich am
Abend des 27. August 1976 aufgehalten hatte. Sie sollten bezeugen, dass er
ausser einem Campari nichts Alkoholisches getrunken und keinerlei Anzeichen
von Angetrunkenheit hatte erkennen lassen. Sein Sohn sollte bezeugen,
dass er zu Hause praktisch keinen Alkohol trinke und zur fraglichen Zeit
kein Bier besass. Ferner verlangte er die Einvernahme und die Einholung
von Berichten von den Personen, die sich mit der Blutentnahme und deren
Begutachtung befassten.

    Diese Beweisanträge hat das Obergericht abgewiesen. Darin sieht der
Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 249 BStP.

    a) Die entscheidende Behörde hat die Beweise gemäss Art. 249 BStP frei
zu würdigen und ist an keine gesetzlichen Beweisregeln gebunden. Sie hat
daher die Beweiskraft der erhobenen und der angerufenen Beweise in jedem
einzelnen Falle anhand der konkreten Umstände zu prüfen und darf nicht
zum voraus und ohne Rücksicht auf die Verhältnisse des Einzelfalles
einem Beweismittel gegenüber einem andern den Vorzug geben (BGE 84 IV
174 f. E. 2). Das führt aber nicht dazu, dass der Richter schematisch
alle Beweismittel einander gleichstellt. Sprechen nicht besondere
Gründe dagegen, kann er sehr wohl einem Beweis, der nach allgemeiner
Erfahrung grössere Sicherheit bietet, gegenüber einem andern den Vorzug
geben. Er kann auch gestützt auf die besonderen Umstände des Falles die
Abnahme beantragter Beweise ablehnen, wenn er zur Überzeugung gelangt,
sie würde zu keinem andern zuverlässigen Ergebnis führen. Eine solche
vorweggenommene, freie Würdigung der Überzeugungskraft des Beweismittels
anhand der konkreten Umstände ist zwar vorsichtig zu handhaben, ist aber
immer noch freie Beweiswürdigung, an die der Kassationshof gebunden ist
(Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277bis Abs. 1 BStP; BGE 84 IV 176 f. E. 4). Anders
verhält es sich nur, wo das Gesetz, wie in Art. 13, 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB
oder Art. 138 ff. VZV, den Richter anhält, bei Feststellung einer Tatsache
sich gewisser Beweismittel zu bedienen. Dann darf er die Feststellung
nicht treffen, ohne den gesetzlich verlangten Beweis zu erheben und seine
Beweiskraft zu prüfen, selbst wenn er zum vorneherein diesen Beweis für
überflüssig hält. Unterlässt er es, verletzt er die Vorschrift, die ihn
zur Erhebung des Beweises verpflichtet. In der Würdigung dieses Beweises
aber bleibt der Richter frei (es sei denn, das Bundesrecht enthalte selber
eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung).

    b) Die Vorinstanz hat in Abwägung der konkreten Umstände (keine
Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Blutentnahme oder mögliche Verfälschung
des klinischen Befundes durch Ernüchterungsschock und Beherrschung, keine
hinreichende Beweiskraft der angerufenen Zeugen usw.) auf die Blutanalyse
von Prof. B. und deren Bestätigung durch Dr. G. abgestellt. Sie gab
diesem wissenschaftlichen Beweis den Vorzug vor dem klinischen Befund
von Dr. K. und hat damit eine vom Kassationshof gemäss Art. 273 und
Art. 277bis BStP nicht überprüfbare tatsächliche Feststellung getroffen.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt ausserdem eine Verletzung von Art. 4
Abs. 3 und 4 des Bundesratsbeschlusses vom 14. Februar 1968 über die
Feststellung der Angetrunkenheit von Strassenbenützern. Diese Bestimmungen
wurden am 1. Januar 1977 abgelöst durch die gleichlautenden Vorschriften
von Art. 141 Abs. 3 und 4 VZV (Verordnung über die Zulassung von Personen
und Fahrzeugen zum Strassenverkehr vom 27. Oktober 1976, SR 741.51),
so dass der Rechtszustand zur Zeit der Beurteilung durch das Obergericht
nicht geändert hat.

    a) Nach diesen Vorschriften ist zum Ergebnis der Blutanalyse auf
Verlangen des Verdächtigten und in Zweifelsfällen das Gutachten eines
gerichtlich-medizinischen Sachverständigen einzuholen (Abs. 3). Der
Sachverständige hat den ärztlichen Untersuchungsbefund und den Bericht der
Polizei mitzuberücksichtigen und seine Schlussfolgerungen zu begründen.
Nötigenfalls sind die Zuverlässigkeit der Blutanalyse und die Möglichkeit
von Fehlerquellen durch einen Fachmann (Chemiker) zu begutachten (Abs. 4).

    b) Im vorliegenden Fall wurde die Blutanalyse des Gerichtschemikers
Prof. B. vom Oberarzt Dr. med. G. vom Gerichtlich-medizinischen Institut
der Universität Zürich bestätigt. Zur Begründung verweist Dr. G. auf die
vorgedruckten Bemerkungen Nr. 2, 3 und 6 auf der Rückseite des Formulars.

    c) Die Blutanalyse wurde also von einem gerichtlich-medizinischen
Sachverständigen, Oberarzt Dr. med. G., bestätigt. Das allein genügt
indessen nicht. Der Sachverständige hat "seine Schlussfolgerungen zu
begründen". Er muss angeben, gestützt auf welche Überlegungen er zu
seinen Schlüssen gelangt ist (BGE 102 IV 123 E. c). Inhalt und Umfang der
Begründung richten sich nach dem Einzelfall. Oft kann eine Verweisung auf
vorgedruckte Begründungen genügen. Doch trifft dies nicht immer zu. Vorab
darf der Gerichtsmediziner nicht stillschweigend über offensichtliche
Widersprüche oder Auffälligkeiten hinweggehen. Mindestens muss er darauf
hinweisen und nötigenfalls anregen, die Zuverlässigkeit der Blutanalyse und
mögliche Fehlerquellen durch einen Chemiker begutachten zu lassen. Doch
kann es nicht seine Aufgabe sein, Erhebungen anzustellen, anzuregen oder
zu veranlassen, die den Rahmen der Gerichtsmedizin und der gerichtlichen
Chemie sprengen.

    d) Der Beschwerdeführer beanstandet, einerseits werde festgestellt,
die geltend gemachten Medikamente (Valium) könnten die Alkoholwirkung
wesentlich verstärken und es könne der Blutgehalt wegen des kurz vor
dem kritischen Ereignis genossenen Alkohols möglicherweise zur rechtlich
relevanten Zeit nicht wesentlich höher gewesen sein als der Analysenwert,
da Alkoholabbau und Nachresorption sich kompensiert haben könnten. Entgegen
letzterer Feststellung sei aber für die rechtlich relevante Zeit von einem
im Vergleich zu den gefundenen Analysenwerten geringeren Blutalkoholgehalt
ausgegangen worden.

    Es ist dem Beschwerdeführer zuzugeben, dass der zusammenhanglose
Verweis auf verschiedene vorgedruckte Bemerkungen Unklarheiten
schafft. Doch ist nicht einzusehen, inwiefern diese Unklarheiten für die
Beurteilung erheblich sein könnten. Der durch die Analyse ausgewiesene
Blutalkoholgehalt von ca. 3,4%o ist so hoch, dass eine kleine Differenz
nach unten oder oben für die Beurteilung unerheblich ist. Hinzu kommt,
dass der Beschwerdeführer sich nicht beklagen kann, wenn - entgegen
dem, was die Begründung erwarten lässt - der für die massgebliche Zeit
angenommene Alkoholgehalt unter und nicht über dem gemessenen Alkoholgehalt
angegeben wird.

    e) Nach dem klinischen Befund von Dr. K. über die medizinisch
feststellbaren Anzeichen von Angetrunkenheit (Art. 3 BRB bzw. Art. 140
VZV) stand der Beschwerdeführer nicht merkbar unter Alkoholwirkung. Sein
Verhalten war ruhig; der Test Romberg über Gleichgewicht, Gehversuch und
Fingerprobe verlief negativ; die Sprache war unauffällig, die Stimmung
normal; es bestand keine Amnesie.

    Der Beschwerdeführer rügt, dass Oberarzt Dr. G. zu diesem Befund nicht
Stellung genommen hat. Tatsächlich ist dieser Befund mit der Blutanalyse
nur schwer zu vereinbaren und hätte daher einer näheren Erörterung
durch Oberarzt Dr. G. gerufen. Denn nach Art. 4 Abs. 4 des BRB vom
14. Februar 1968 bzw. Art. 141 Abs. 4 VZV hat der gerichtlich-medizinische
Sachverständige den ärztlichen Untersuchungsbefund mitzuberücksichtigen und
darf ihn folglich, wenn er wesentlich von der Blutanalyse abweicht, nicht
stillschweigend übergehen. Das Gutachten war daher in einem wesentlichen
Punkte unvollständig.

    Das Obergericht ist unter Berufung auf zwei Gutachten der
Gerichtsmedizinischen Institute in Zürich und Bern aus dem Jahre
1975 über die Diskrepanz zwischen Blutanalyse und klinischem Befund
hinweggegangen. In diesen Gutachten wird festgestellt, dass das klinische
Bild und der Blutalkoholgehalt oft nicht übereinstimmen. Auch wenn diese
Feststellung als Erfahrungstatsache betrachtet werden kann (BGE 103 IV
113 E. 3; 103 IV 273 E. 3), genügt sie im vorliegenden Falle nicht, um die
Diskrepanz zwischen klinischem Befund und Blutanalyse zu erklären, zumal
auch die Verordnung gestützt auf Art. 55 Abs. 3 SVG eine individuelle
Begutachtung in Zweifelsfällen vorsieht (Art. 141 Abs. 3 VZV; BGE 101
IV 233).

    Da der vom Gesetzgeber dem Beschuldigten gewährte Anspruch auf
gutachtliche Überprüfung des Ergebnisses der Blutanalyse sich seiner
Natur nach in den Rahmen des rechtlichen Gehörs im weitern Sinn einfügt,
ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Einholung
einer ergänzenden Expertise und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen unbekümmert darum, ob Aussicht besteht, dass die Behebung
des Mangels zu einer sachlichen Änderung des angefochtenen Urteils führen
wird (BGE 102 IV 124).

Erwägung 3

    3.- Die Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand ist
daher aufzuheben. Je nach der neuen Beurteilung dieses Anklagepunktes
wird auch die Strafe neu zuzumessen und über den bedingten Strafvollzug
neu zu befinden sein.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts - I. Strafkammer - des Kantons Zürich vom 17. März 1977,
soweit die Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustande betreffend,
aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.