Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IV 275



103 IV 275

76. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. November 1977 i.S. F.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau Regeste

    Art. 19a Ziff. 2 BetmG. Begriff des leichten Falles.

Sachverhalt

    A.- Der am 27. Mai 1975 zum Massnahmevollzug gemäss Art. 44 StGB
in die Klinik für Suchtkranke im Hasel in Gontenschwil eingewiesene F.
injizierte sich am 22. Juni 1975 einen "Schuss" eines ihm durch seine
Ehefrau beschafften Morphium-Heroin-Gemisches.

    B.- Das Obergericht des Kantons Aargau sprach F. deswegen am
17. Mai 1977 der Widerhandlung gegen Art. 19a Ziff. 1 BetmG schuldig und
verurteilte ihn zu einer Woche Haft und zu Fr. 100.-- Busse.

    C.- F. führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, das Urteil
des Obergerichts des Kantons Aargau sei aufzuheben und die Sache
zurückzuweisen, damit dieses unter Annahme eines leichten Falles im Sinne
von Art. 19a Ziff. 2 BetmG von Strafe, eventuell gemäss Art. 19a Ziff. 3
BetmG von einer Strafverfolgung absehe.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichtet auf die
Einreichung von Gegenbemerkungen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe den
Begriff des leichten Falles gemäss Art. 19a Ziff. 2 BetmG unrichtig
ausgelegt und ferner bei dessen Anwendung das ihr zustehende Ermessen
verletzt, wenn sie das Vorliegen eines solchen allein deshalb verneine,
weil er wegen Betäubungsmittelmissbrauchs und anderer damit in Zusammenhang
stehender Delikte mehrfach vorbestraft sei und sich im Massnahmevollzug
gemäss Art. 44 StGB befunden habe, als sich der zu beurteilende einmalige
Rückfall in den Drogenkonsum ereignete.

    a) Der Beschwerdeführer bringt zunächst vor, aus der
Entstehungsgeschichte von Art. 19a Ziff. 2 BetmG folge, dass in objektiver
Hinsicht die beiden von der Vorinstanz angeführten Umstände nicht
genügten, um die Annahme eines leichten Falles auszuschliessen. Während
nach dem bundesrätlichen Entwurf eine Verwarnung nur zulässig gewesen sei,
sofern der Täter vorher noch nie wegen einer Widerhandlung gegen das BetmG
verwarnt oder verurteilt wurde, habe sich schliesslich der weitergehende
nationalrätliche Kommissionsentwurf durchgesetzt, der für leichte Fälle
die Möglichkeit gebe, das Verfahren einzustellen oder von einer Strafe
abzusehen. Daraus dürfe gefolgert werden, dass auch bei Rückfällen in den
Konsum, sofern sie sich nur in bescheidenem Rahmen hielten und insbesondere
keine Folgekriminalität damit verbunden sei, die Annahme eines leichten
Falles nicht ausgeschlossen werde, sondern geradezu geboten sein könne.

    Ob bei unbefugtem vorsätzlichen Betäubungsmittelkonsum das Verfahren
eingestellt, von einer Strafe abgesehen oder verwarnt werden kann,
entscheidet sich nach der Gesetz gewordenen Fassung von Art. 19a
Ziff. 2 der nationalrätlichen Kommission danach, ob ein leichter Fall
vorliegt. Wann ein Fall als leicht in diesem Sinne zu betrachten ist,
kann weder dem Gesetz entnommen noch anhand der ihm vorausgegangenen
Beratungen ausgemacht werden. Auf eine nähere Eingrenzung ist anlässlich
derselben vielmehr bewusst verzichtet worden, um im Interesse einer
sachgerechten und persönlichkeitsangemessenen Beurteilung der zuständigen
Behörde im Konkreten Fall einen möglichst weiten Spielraum des Ermessens
zu belassen (vgl. Sten.Bull. NR 84 S. 1454, Votum Nationalrat Schmidt,
Berichterstatter; Sten.Bull. SR 84 S. 597/98, Votum Ständerat Dillier,
Berichterstatter). Aus dem Gang der Beratungen der nationalrätlichen
Kommission ergibt sich einzig dass der Rückfall in den Drogenkonsum
unter der Herrschaft von Art. 19a Ziff. 2 BetmG nicht, wie es nach dem
bundesrätlichen Entwurf der Fall gewesen wäre, notwendig zur Bestrafung
führen muss. Die Entstehungsgeschichte liefert demgegenüber aber keine
Anhaltspunkte für die weitergehende Annahme des Beschwerdeführers,
die Tatsache eines Rückfalles genüge generell nicht zur Verneinung
eines leichten Falles. Er zeigt auch keine solchen auf. Selbst wenn
eine vorausgegangene Verwarnung oder Verurteilung der Möglichkeit
zur Verfahrenseinstellung, Strafbefreiung oder Verwarnung nicht mehr
notwendigerweise entgegensteht, so folgt daraus keineswegs, bei Rückfall
liege regelmässig ein leichter Fall vor, die Tatsache des Rückfalls
allein vermöge einen Fall also nicht zu einem nicht mehr leichten zu
machen. Es kann vielmehr durchaus sein, dass gerade der Rückfälligkeit
eines Betäubungsmittelkonsumenten wegen ein Fall als nicht mehr leicht
erscheint, der ohne diesen Rückfall noch als leicht hätte gelten
können. Das dürfte insbesondere dann zutreffen, wenn jemand ungeachtet
früherer Verurteilungen immer wieder neu in den Drogenkonsum verfällt.

    b) Der Beschwerdeführer wendet sodann ein, aus der bei den Beratungen
des revidierten BetmG erkennbar zum Ausdruck gekommenen Tendenz,
Drogenabhängige nicht in erster Linie der Bestrafung zuzuführen, sondern
sie zu betreuen und wieder in die menschliche Gemeinschaft einzugliedern,
ergebe sich, dass bei Ausfällung einer Strafe gemäss Art. 19a Ziff. 1
BetmG gegenüber der Anwendung von Ziff. 2 bis 4 das "ultima ratio Prinzip"
zu gelten habe. Erst sofern unter Berücksichtigung therapeutischer und
sozial-präventiver Momente zur Behebung der Drogensucht oder -krankheit
eine der in Ziff. 2 bis 4 vorgesehenen Massnahmen nicht angebracht
erscheine, sei eine Strafe auszufällen. Die im aufgezeigten Sinne
vorgenommene Grundwertung habe zudem vorrangig in die Auslegung des
unbestimmten Rechtsbegriffes des leichten Falles einzufliessen.

    Der Beschwerdeführer verkennt, dass im Verhältnis von Art. 19a Ziff. 1
zu Ziff. 2 BetmG Ziff. 1 die Grundsatz- und Ziff. 2 die Ausnahmebestimmung
ist. Der vorsätzliche unbefugte Konsum von Betäubungsmitteln bleibt auch
nach der Revision des BetmG prinzipiell strafbar, weil die Freigabe des
Drogenkonsums eine verheerende Auswirkung haben müsste (Sten.Bull. NR 84
S. 1417, Votum Nationalrat Welter, Berichterstatter), und führt gemäss
Ziff. 2 auch ohne Einschränkung zu einer Bestrafung des Täters, sofern
nicht ein leichter Fall vorliegt und deshalb von Gesetzes wegen die
Möglichkeit zur Verfahrenseinstellung, Strafbefreiung oder Verwarnung
besteht. Ob ein leichter Fall vorliegt, beurteilt sich weder unter
Berücksichtigung therapeutischer und sozial-präventiver Momente -
sie gaben zur Vorschrift des Art. 19a Ziff. 3 BetmG Anlass - noch
danach, ob "eine der in Ziff. 2 bis 4 vorgesehenen Massnahmen nicht
angebracht erscheint", sondern einzig auf Grund der gesamten Umstände
des konkreten Falles. Die in den Beratungen zur Revision des BetmG
vorherrschende Meinung, dem Drogenproblem sei mit der Bestrafung der
Konsumenten nicht beizukommen, viel wichtiger sei deren Betreuung und
Wiedereingliederung in die menschliche Gesellschaft (Sten.Bull. NR 84
S. 1417. Votum Nationalrat Welter, Berichterstatter), Drogenabhängige
seien nicht in erster Linie einer Strafe, sondern fürsorgerischer
Betreuung und ärztlicher Behandlung zuzuführen (Sten.Bull. NR 84 S. 1454,
Votum Nationalrat Welter, Berichterstatter), vermag an der in Art. 19a
Ziff. 2 BetmG getroffenen klaren Regelung, es könne nur das Verfahren
eingestellt oder von Strafe abgesehen oder verwarnt werden, wenn ein
leichter Fall vorliege, nichts zu ändern. Ein Grundsatz des Inhaltes,
es dürfe erst nach erfolgloser Ausschöpfung aller übrigen zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten, also gleichsam als ultima ratio gestraft werden,
hat in diese vom Beschwerdeführer als durch den angefochtenen Entscheid
verletzt betrachtete Bestimmung keinen Eingang gefunden.

    c) Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, der beschränkte
einmalige Rückfall in den Drogenkonsum während des Massnahmevollzuges
stelle trotz einschlägiger Vorstrafen objektiv und, da sein Verschulden
angesichts der schweren Opiatsucht, wie sie der vorgelegte ärztliche
Bericht bescheinige, nur als geringfügig erscheine, auch subjektiv noch
einen leichten Fall dar. In Berücksichtigung seiner momentanen Situation
erscheine eine Bestrafung aus therapeutischen und sozial-präventiven
Gründen geradezu als kontraindiziert.

    Ob ein leichter Fall vorliegt, entscheidet sich nach der Gesamtheit der
objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles (BGE 101 IV 13 E. 1;
98 IV 249). Weil der Rechtsbegriff des leichten Falles ein unbestimmter
ist, lässt seine Anwendung im konkreten Fall dem Sachrichter einen
Spielraum, der sich von der Betätigung des Ermessens nicht scharf trennen
lässt. Nach ständiger Rechtsprechung legt sich der Kassationshof daher
bei der Überprüfung solcher Entscheide eine gewisse Zurückhaltung auf
(BGE 101 IV 13 E. 1 mit Verweisen). Etwas anderes ergibt sich auch aus
dem vom Beschwerdeführer angerufenen Entscheid (BGE 100 Ib 386) nicht,
wo festgestellt wird, das Vorliegen eines unbestimmten Rechtsbegriffes
räume der Verwaltung bei der Gesetzesauslegung keinen die Kognition des
Richters einengenden Beurteilungsspielraum ein, der Richter sei vielmehr
in der Beurteilung der Rechtsfrage frei, ob ein bestimmter Sachverhalt
als diesem unbestimmten Rechtsbegriff entsprechend zu werten sei; denn
darüber, wie es in dieser Hinsicht zu halten sei, wenn der Kassationshof
ein Urteil des kantonalen Sachrichters im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde
auf eine Bundesrechtsverletzung zu prüfen hat, ist diesem Entscheid nichts
zu entnehmen.

    Die Vorinstanz hat den ihr bei der Wertung, ob der zu beurteilende
Betäubungsmittelkonsum des Beschwerdeführers noch als leichter
Fall im Sinne von Art. 19a Ziff. 2 BetmG betrachtet werden könne,
zustehenden Spielraum nicht überschritten, wenn sie dies in Würdigung
der gesamten Umstände verneinte. Der Beschwerdeführer ist sowohl
wegen Vermögensdelikten, Delikten gegen die Freiheit, wie auch wegen
Widerhandlung gegen das BetmG mehrfach vorbestraft. Er liess sich selbst
durch drei Entziehungskuren jeweils nicht davon abhalten, wiederum
Drogen zu konsumieren. Anlässlich seiner letzten Verurteilung vom 24
April 1975 wurde er unter Aufschub des Strafvollzuges in eine Anstalt für
Rauschgiftsüchtige eingewiesen. Als seine Ehefrau ihn dort am 27. Mai 1975
besuchte, forderte er sie auf, ihm Betäubungsmittel zu verschaffen. Aus
einem ihm von dieser später überbrachten Morphium-Heroingemisch injizierte
er sich in der Folge einen "Schuss". Dieser Betäubungsmittelkonsum ist
nach alldem, was vorausging, jedenfalls in objektiver Hinsicht nicht mehr
leicht zu nehmen. In subjektiver Hinsicht hätte von dem im Massnahmevollzug
befindlichen, zurechnungsfähigen Beschwerdeführer erwartet werden müssen,
dass nicht wiederum er selber ausschliesslich die Ursache zu weiterem
Drogenkonsum setze. Insofern konnte seine Verfehlung auch subjektiv als
nicht mehr leicht betrachtet werden.

    Ob eine Bestrafung des Beschwerdeführers in Berücksichtigung seiner
gegenwärtigen Situation aus therapeutischen und sozial-präventiven Gründen
geradezu als kontraindiziert erscheint, ist, wenn kein leichter Fall
vorliegt, im Rahmen von Art. 19a Ziff. 2 BetmG belanglos.