Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IV 152



103 IV 152

45. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. Juli 1977 i.S. B. und
S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau Regeste

    1. Kognition des Kassationshofes (Erw. I 4).

    2. Art. 117 StGB. Fahrlässige Tötung in einer chemischen Fabrik?
Verantwortlichkeit der Betriebschemiker. Rückweisung zur Abklärung der
tatsächlichen Verhältnisse (Erw. I 1-5).

Sachverhalt

    A.- Heinz S., der in der Produktionsabteilung 2 (Entwicklung) der
Schweiz. Sprengstoff-Fabrik AG in Dottikon als Chemiker tätig ist, hatte im
Jahre 1971 nach einem von der Sandoz AG in Basel entwickelten Verfahren die
Herstellung von Tiophen-2-aldehyd im halbtechnischen Verfahren erprobt und
die Betriebsvorschrift für die industrielle Produktion verfasst. Als sich
bei der ersten und zweiten Charge der industriellen Herstellung, die in der
unter der Leitung von Paul B. stehenden Produktionsabteilung 1 erfolgt,
unerwünschte Nebenerscheinungen zeigten, liess Betriebsleiter Bruno
M. bei den folgenden Chargen nach Rücksprache mit S. und Orientierung
des B. u.a. das Eis anders als in der Betriebsvorschrift vorgesehen
zugeben. Bei der fünften Charge vom 3. Juli 1972 überschäumte plötzlich
nach begonnener Eiszugabe der Inhalt des Rührkessels, was bei fünf
Arbeitern zu Verätzungen der Haut und Vergiftung der Atmungsorgane führte,
an deren Folgen einer der Arbeiter starb.

    B.- Das Obergericht des Kantons Aargau sprach B. und S. - die
Untersuchung gegen M. war eingestellt worden - am 27. Januar 1977 der
fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte B. zu zehn, S. zu sieben
Tagen Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug.

    C.- Sowohl B. wie S. führen Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragen
Aufhebung des Urteils des Obergerichts und Rückweisung der Sache an dieses
zu ihrer Freisprechung.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau schliesst auf Abweisung
der Beschwerden.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    I.1.-  Beschwerde B.

    Die Vorinstanz führt in ihren Urteilserwägungen aus, der
Beschwerdeführer sei Leiter der Abteilung, in welcher das Tiophen-2-aldehyd
im industriellen Verfahren produziert wurde. Das dabei einzuhaltende
Verfahren sei nach entsprechenden Prüfungen durch den Mitangeklagten
S. bzw. die Produktionsabteilung 2 verbindlich festgelegt worden. Es stehe
ausser Frage, dass diese Betriebsvorschrift in der Produktionsabteilung 1
in einem wesentlichen Punkt, nämlich bezüglich der Eiszufuhr, abgeändert
wurde und dass gerade diese Änderung den Unfall verursachte. Wohl sei
diese Änderung durch den Betriebsleiter M. vorgenommen worden. Es stehe
aber fest, dass der Beschwerdeführer nach der dritten oder vierten Charge
orientiert wurde. Er hätte sich nicht mit dem Hinweis zufrieden geben
dürfen, man habe über diese Änderung mit dem Mitangeklagten S. gesprochen
und dieser habe keine Einwendungen erhoben. Vielmehr hätte ihn diese
Orientierung veranlassen müssen, vorerst die Fortsetzung der Produktion
nach dem abgeänderten Verfahren zu stoppen, womit auch die nochmalige
Abänderung in der Charge 5 verhindert worden wäre, und sich direkt mit dem
Mitangeklagten S. über diese Änderung des Verfahrens zu besprechen. Für
ihn wie für M. sei nach wie vor die übergebene Betriebsvorschrift
verbindlich gewesen, von der, aus welchen Gründen auch immer, nur
hätte abgewichen werden dürfen, wenn der betreffende Sachbearbeiter
(der Mitangeklagte S.) dies ausdrücklich angeordnet oder wenigstens
genehmigt hätte. In der Anklageschrift habe die Staatsanwaltschaft dem
Beschwerdeführer als weitere Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen,
die erforderlichen Sicherheitsvorkehren nicht eingehalten zu haben. In
der Hauptverhandlung sei jedoch klargestellt worden, dass für die
Anordnung dieser Vorkehren der Betriebsleiter M. direkt verantwortlich
war. Dem Beschwerdeführer könne lediglich vorgeworfen werden, in dieser
Hinsicht seiner Kontrollpflicht nicht nachgekommen zu sein. Aufgrund der
Betriebsvorschrift sei ihm bekannt gewesen oder hätte ihm bekannt sein
müssen, dass beim fraglichen Produktionsvorgang verschiedene hochgiftige
Chemikalien beteiligt seien. Bei seiner Ausbildung und Erfahrung sei für
ihn voraussehbar gewesen, dass chemische Verarbeitungsprozesse schwer
überblickbar seien und kleinste Unsorgfalt verheerende Folgen haben könne.

    Der Schuldvorwurf der Fahrlässigkeit treffe ihn daher zu Recht. Der
adäquate Kausalzusammenhang zwischen seinem Verhalten und dem eingetretenen
Tod eines Mitarbeiters sei unbestritten und aufgrund der Akten ebenfalls
erwiesen.

    Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe in Verletzung von
Bundesrecht das Vorliegen eines fahrlässigen und für die eingetretene
Todesfolge ursächlichen Verhaltens angenommen.

Erwägung 2

    I.2.- Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer als für den Tod eines
Arbeiters kausale Sorgfaltspflichtverletzung in erster Linie vor, die
Fortsetzung der Produktion im abgeänderten Verfahren nach der Orientierung
durch M. nicht gestoppt und sich direkt mit S. über die Änderung des
Verfahrens besprochen zu haben. Für ihn wie für M. sei nach wie vor die
übergebene Betriebsvorschrift verbindlich gewesen, von der nur im Falle
ausdrücklicher Anordnung oder der Genehmigung durch den Sachbearbeiter
hätte abgewichen werden dürfen.

    Diesem Schuldvorwurf entzieht die Vorinstanz selber den Boden, indem
sie in tatsächlicher Hinsicht feststellt, S. habe gegen die Abänderung
des Verfahrens keine Einwendungen erhoben (Erwägungen betreffend B.), er
habe, als er von M. um Rat gefragt worden sei, eine Beschleunigung der
Eiszufuhr im Sinne der in der Produktionsabteilung 2 angestellten Versuche
als zulässig bezeichnet, sofern die Reaktionstemperatur von 40o eingehalten
werde, er habe sein Placet erteilt (Erwägungen betreffend S.). Darin
lag eine grundsätzliche Genehmigung des gegenüber der Betriebsvorschrift
veränderten, bereits praktizierten Verfahrens durch den Sachbearbeiter,
wie sie die Vorinstanz für eine zulässige Abweichung von derselben
voraussetzt. Wenn S. sie mit einer gewissen Einschränkung erteilte,
so konnte das den Beschwerdeführer nicht berühren, weil die Vorinstanz
nicht feststellt, er habe durch M. von ihr Kenntnis erhalten.

    Sich nicht direkt mit S. über die Verfahrensänderung besprochen
zu haben, geht als Schuldvorwurf fehl. Die Versäumnis einer solchen
Besprechung wäre im Rahmen von Art. 18 Abs. 3 StGB nur von Belang, wenn
aufgrund von ihr vom Beschwerdeführer gewisse Vorkehren zu treffen gewesen
wären, deren Unterlassung als pflichtwidrig erschiene. Dahin geht der
Vorwurf der Vorinstanz indessen nicht, und sie führt in tatsächlicher
Beziehung auch nicht an, was diesbezüglich eine Fahrlässigkeit des
Beschwerdeführers begründen könnte.

Erwägung 3

    I.3.- Den zweiten Schuldvorwurf, der Beschwerdeführer habe in bezug
auf die Einhaltung der erforderlichen Sicherheitsvorkehren seiner
Kontrollpflicht nicht genügt, hat die Vorinstanz in keiner Weise
konkretisiert, und sie hat insbesondere offen gelassen, auf welche
tatsächlichen Grundlagen er sich abstützt. Ob dem Beschwerdeführer in
dieser Hinsicht zu Recht Fahrlässigkeit vorgeworfen wird, lässt sich
unter diesen Umständen nicht nachprüfen. Eine Aufhebung des angefochtenen
Entscheides in Anwendung von Art. 277 BStP ist unausweichlich. Die
Vorinstanz hat im übrigen auch nicht dargelegt, inwiefern ein Ungenügen
des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Überwachungspflicht für die
eingetretene Todesfolge kausal gewesen wäre.

Erwägung 4

    I.4.- Der Kassationshof prüft sämtliche innerhalb der gestellten
Anträge sich ergebenden Fragen eidgenössischen Rechts von Amtes wegen (BGE
89 IV 119/20; BIRCHMEIER, S. 569). Er ist dabei weder an die Begründung der
Rechtsbegehren durch die Parteien gebunden (Art. 277bis Abs. 2 BStP) noch
auf die von der Vorinstanz vorgenommene rechtliche Würdigung der für ihn
verbindlich festgestellten tatsächlichen Verhältnisse (Art. 277bis Abs. 1
BStP) eingeschränkt. Wenn zu entscheiden ist, ob ein Täter fahrlässig
handelte, kann er sich demzufolge nicht damit begnügen, zu prüfen, ob die
von der Vorinstanz erhobenen Vorwürfe, rechtlichen Inhaltes vor Art. 18
Abs. 3 StGB haltbar seien, sondern er hat die Prüfung ohne Bindung an
diese umfassend dahin vorzunehmen, ob nicht überhaupt, d.h. auch aus
andern als den angeführten Gründen nach dem festgestellten Sachverhalt
eine Fahrlässigkeit vorliege. Dasselbe gilt hinsichtlich der Adäquanz
des Kausalzusammenhanges.

    Eine derartige Prüfung des angefochtenen Urteils auf die richtige
Anwendung von Bundesrecht durch die Vorinstanz ist deshalb unmöglich, weil
es an hiefür wesentlichen Feststellungen tatsächlicher Natur gebricht. Es
steht vor allem nicht fest, welches die Ursache der unerwarteten
und schlagartigen Reaktion der Unglückscharge war, in welcher Weise
bei den in Abweichung von der Betriebsvorschrift produzierten oder zu
produzieren begonnenen Chargen im einzelnen vorgegangen wurde, ob einzig
die Eiszufuhr und wie diese geändert oder ob noch weitere Änderungen
vorgenommen und inwiefern bei der 5. anders als bei der 3. und 4. Charge
verfahren wurde. Bereits im Berufungsverfahren war geltend gemacht worden,
die schlagartige Reaktion sei ausschliesslich auf die durch M. selbständig
vorgenommene weitere Verfahrensänderung bei der 5. Charge zurückzuführen,
zu welchem Einwand tatsächlicher Natur die Vorinstanz überhaupt nicht
Stellung genommen hat. Erst gestützt auf genaue Ermittlungen werden die
einzige oder allenfalls die mehreren Unfallursachen und ihr Verhältnis
untereinander auszumachen sein.

    Sodann ist der Inhalt der Unterhaltung zwischen Betriebsleiter
M. und dem Beschwerdeführer nicht genau bestimmt, da deren Aussagen
hiezu auseinandergehen. Wesentlich ist insbesondere, in welcher Weise
der Beschwerdeführer durch M. orientiert wurde, wie ihm dieser die ganze
Situation darlegte, was er allenfalls fragte, was der Beschwerdeführer
ihm zur Antwort gab und was sonst noch ausgeführt wurde.

    Es fehlt schliesslich an tatsächlichen Feststellungen hinsichtlich
der gesamten Umstände und der persönlichen Verhältnisse sowohl
des Beschwerdeführers wie des M., die für die Beurteilung, ob eine
Fahrlässigkeit vorliege, von Gesetzes wegen entscheidend sind.

    Weil die ungenügende Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse durch
die Vorinstanz die Überprüfung der von ihr vorgenommenen Gesetzesanwendung
nicht zulässt, ist das angefochtene Urteil in Anwendung von Art. 277 BStP
aufzuheben. Zur Abklärung der tatsächlichen Verhältnisse wird teilweise
besonderes Fachwissen erforderlich sein ebenso wie zur Erarbeitung der
für die Beantwortung der Rechtsfrage notwendigen Grundlagen, ob der
Beschwerdeführer jene Vorsicht ausser acht liess, zu der er nach den
Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet war,
und ob der eingetretene Erfolg vorausgesehen werden konnte. Der Beizug
eines Experten dürfte sich daher als unumgänglich erweisen.

Erwägung 5

    I.5.- Die Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolges wird
entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht danach zu beurteilen sein,
ob chemische Verarbeitungsprozesse schwer überblickbar sind und auch
kleinste Unsorgfältigkeiten verheerende Folgen haben können, also nach
ausschliesslich allgemeinen und abstrakten Kriterien, sondern vielmehr
nach den gesamten konkreten, noch festzustellenden Umständen des Falles.