Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IV 110



103 IV 110

32. Urteil des Kassationshofes vom 25. März 1977 i.S. M. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Regeste

    1. Prüfungsbefugnis des Kassationshofes bei Erfahrungssätzen der
Wissenschaft (Erw. 3).

    2. Art. 91 Abs. 1 SVG; Fahren in angetrunkenem Zustand. Grundsätzliche
Annahme der Angetrunkenheit im Falle eines sog. Schluss-Sturz-Trunkes,
auch wenn der im Venenblut gefundene Alkoholspiegel 0,8%o nicht erreicht
(Erw. 2, 4).

Sachverhalt

    A.- M. wurde am 1. August 1974 ca. um 0.35 Uhr polizeilich angehalten,
nachdem er, auf der Heimfahrt nach Ebmatingen, mit seinem Auto in Zürich
von der Zollstrasse durch die Innenstadt bis zur Stadelhoferstrasse 25
gefahren war. In diesem Zeitpunkt wies er einen Blutalkoholgehalt von
0,7%o auf.

    Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte M. am 25. September 1975
des Fahrens in angetrunkenem Zustand schuldig und verurteilte ihn zu 21
Tagen Gefängnis.

    M. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichtet auf Gegenbemerkungen.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, ist ein Motorfahrzeugführer
dann ohne weitern Beweis als angetrunken im Sinne von Art. 91 Abs. 1
SVG zu betrachten, wenn der Alkoholgehalt in seinem Blut im Zeitpunkt
der kritischen Fahrt 0,8 Gewichtspromille oder mehr betragen hat. Doch
sind die 0,8%o keine absolute Grenze nach unten; vielmehr kann schon
ein Alkoholgehalt im Blut von etwa 0,5%o an bei gleichzeitig wirksamen
weiteren Umständen (wie Krankheit, Übermüdung oder Beeinträchtigung
durch beruhigende Medikamente) Folgen zeitigen, wie sie bei gesunden
ausgeruhten Menschen erst bei höheren Alkoholkonzentrationen auftreten
(BGE 98 IV 291; 90 IV 167, 226/7). Der Beweis der Angetrunkenheit kann
auch auf andere Weise als durch Gutachten erbracht werden (BGE 96 I 444).

    Nach den Feststellungen des Obergerichts fiel der Angeklagte der
Polizei nicht durch unsicheres Fahren auf. Bei der Blutentnahme um 1.30
Uhr stand er nach ärztlicher Beurteilung unter einer nicht merkbaren
bis leichten Angetrunkenheit. Dass der Angeklagte sich bereits bei den
ermittelten 0,7%o in angetrunkenem Zustand befand, nimmt die Vorinstanz
aufgrund seines Verhaltens gegenüber Polizei und Arzt sowie seiner
Fahrweise nicht als erwiesen an.

    Hingegen wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vor, er habe sich
infolge eines kurz vor Antritt der Fahrt eingenommenen doppelten Wodkas
in der sogenannten Alkoholanflutungsphase befunden, was zu ausgeprägteren
Störungen geführt habe, als dem gefundenen Blutwert entspräche, sodass ein
ausreichend sicheres Lenken eines Motofahrzeuges nicht mehr gewährleistet
gewesen sei.

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz macht sich diesen Vorwurf zu eigen.
Gestützt auf Untersuchungen deutscher Wissenschafter (insbesondere
MANGELSDORF/WITSCHEL/SCHWERD, "Schlusstrunk" und psychomotorische
Leistungsfähigkeit, in Blutalkohol 1970, 103 ff.; GOSTOMZYK/GYALOG/REULEN,
Anflutung und Verteilung von Alkohol bei oraler Resorption, in Beiträge
für gerichtliche Medizin 29 (1972), 359) führt sie über den sogenannten
Schlusstrunk - Trinken alkoholischer Getränke kurz vor Fahrtantritt
- bzw. dem Schluss-Sturz-Trunk - kurzfristiges Trinken grösserer
Alkoholmengen kurz vor Fahrtantritt - im wesentlichen folgendes
aus. Allgemein sei anerkannt, dass die Wirkung des Alkohols in der
Anflutungsphase stärker sei als bei gleich hoher Blutalkoholkonzentration
in der Ausscheidungsphase. Bei einem Schluss-Sturz-Trunk träten
Hirnleistungsstörungen auf, die einem höheren als dem kurz nachher im
Venenblut gefundenen Alkoholspiegel entsprächen. Die besonders starken
Ausfälle der Leistungsfähigkeit während der Anflutungsphase träten
unabhängig davon auf, ob ihr eine Nüchternheit oder eine bereits
längere Zeit bestehende relativ niedere Blutalkoholkonzentration
vorangehe. Die geringere Alkoholkonzentrationstoleranz während der
Anflutungsphase könne auf eine stärkere Alkoholanflutung im Gehirn
zurückgeführt werden. Die Ursache liege in der gegenüber dem peripheren
Venenblut überhöhten Alkoholkonzentration im arteriellen Blut und
einem schnellen Konzentrationsausgleich zwischen artierellem Blut
und Hirngewebe. Bei der Begutachtung der Trunkenheit werde in der
Regel von der Alkoholkonzentration im peripheren Venenblut auf den
Alkoholisierungsgrad geschlossen. Für die rechtliche Beurteilung der
Täter, die einen Schlusstrunk getätigt hätten, ergebe sich aus diesen
gesicherten medizinischen Erkenntnissen, dass bei einer Rückrechnung auch
ein Blutalkoholgehalt, der leicht, d.h. höchstens bis drei Zehntelpromille
unter dem Grenzwert von 0,8 Gewichtspromille liege, eine Fahruntüchtigkeit
bzw. eine Angetrunkenheit im Sinne von Art. 91 Abs. 1 SVG nachweise. Der
mittels der Rückrechnung festgestellte Blutalkoholgehalt liege in
einem solchen Falle nur zahlen mässig unter dem Grenzwert; die jenem
auf den ersten Blick nicht entsprechende verstärkte Herabsetzung der
Fahrtüchtigkeit sei eine Folge des zuletzt in kurzer Zeit genossenen
Alkohols.

    b) Aus diesen Erwägungen folgert die Vorinstanz, dass der Angeklagte
durch den gemäss seiner nicht widerlegbaren Behauptung unmittelbar vor
Antritt der Fahrt eingenommenen doppelten Wodka nicht entlastet, sondern
zusätzlich belastet werde, indem dessen Wirkung die Fahrtauglichkeit
über den von ihm anerkannten Blutalkoholgehalt von 0,7%o hinaus noch
weiter vermindert habe. Der für die Zeit der inkriminierten Fahrt
nachträglich errechnete Blutalkoholgehalt von 0,7 Gewichtspromille
liege nur geringfügig unter dem von Lehre und Rechtsprechung
festgelegten Grenzwert von 0,8%o. Dabei habe sich der Angeklagte
nach den unbestrittenen Feststellungen des gerichtlich-medizinischen
Gutachtens in der Alkoholanflutungsphase befunden, weshalb er in seiner
Fahrtüchtigkeit in einem über den gefundenen Alkoholwert hinausgehenden
Masse beeinträchtigt gewesen sei.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht hat sich bei seinem Entscheid auf Erfahrungssätze
der Wissenschaft gestützt. Die Stellung des Kassationshofes zu
den Erfahrungsgrundsätzen ist nicht die gleiche wie diejenige des
Sachrichters. Sie darf nicht zu einer appellatorischen Überprüfung
von Tatfragen überall dort führen, wo diese offen oder verborgen
unter Zuhilfenahme von Erfahrungsgrundsätzen entschieden wurden. Ein
Eingreifen durch das Bundesgericht in solchen Fällen würde den dem
Kassationshof eingeräumten Kompetenzbereich sprengen (vgl. Art. 114 BV,
Art. 269 und 277bis BStP). Aber auch dort, wo der Sachrichter seinen
Schluss losgelöst von den Umständen des Einzelfalles unmittelbar aus
einem Erfahrungsgrundsatz gezogen hat, wird der Kassationshof bei der
Überprüfung desselben Zurückhaltung üben. Eingreifen wird er hingegen
dort, wo der Sachrichter Inhalt und Tragweite des Erfahrungsgrundsatzes
offensichtlich unrichtig erfasst hat oder wo Gutachten oder Fachliteratur
verfügbar sind, die eine zuverlässigere Beurteilung erlauben (Urteil des
Kassationshofes vom 21. Mai 1976 i.S. F. gegen Zürich).

Erwägung 4

    4.- a) Der angefochtene Entscheid stützt sich, was die Auswirkungen
eines sogenannten Schlusstrunkes auf die Fahrtüchtigkeit anbelangt,
ausschliesslich auf die Ergebnisse der deutschen medizinischen
Wissenschaft. Der Kassationshof beschloss daher, ergänzend auch die Ansicht
der schweizerischen Fachkreise zu hören und so abzuklären, ob die von
der Vorinstanz herangezogenen Elemente als gesicherte wissenschaftliche
Erkenntnisse gelten können. Dabei ergab sich, dass das Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement bereits ein Gutachten bei den Gerichtsmedizinern
Prof. H. P. Hartmann, Zürich, und Prof. H. Thélin, Lausanne, in Auftrag
gegeben hatte, in dessen Rahmen auch die hier zu entscheidende Frage
behandelt werden sollte. Dieses Gutachten ist im Januar 1977 erstellt
worden und im März 1977 beim Bundesgericht eingetroffen.

    b) Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Erkenntnisse
der deutschen medizinischen Wissenschaft sind im wesentlichen durch das
Gutachten HARTMANN/THÉLIN bestätigt worden (S. 17 ff.). Von Bedeutung
ist die Feststellung, dass beim Schlusstrunk einer Alkoholmenge,
die einem Werte von mehr als 0,3 Gewichtspromillen entspricht, ein
sogenannter Schluss-Sturz-Trunk vorliegt, bei dem unter Vorbehalt ganz
vereinzelter Extremsituationen wegen der Überflutung des Gehirns mit
Alkohol von einer generellen Verkehrsuntauglichkeit auszugehen ist. In
einer ergänzenden Auskunft hat Prof. Hartmann erläutert, dass es sich
bei einer Extremsituation namentlich um den Fall handelt, in welchem der
Führer wenige Minuten nach dem Trunk sich ans Steuer setzt, also zu einer
Zeit fährt, während welcher die Überflutung sich noch nicht auszuwirken
vermochte (Beginn der Überflutung ca. 10 Minuten nach Trinkende,
Gutachten S. 19).

    c) Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer nach seinen eigenen
Angaben um 0.15 Uhr einen doppelten Wodka getrunken, welche Alkoholmenge
nach der Berechnung des Gerichtlich-medizinischen Instituts der Universität
Zürich vom 16. September 1974 0,34%o entsprach. Da der Beschwerdeführer
um 0.35 Uhr auf der Fahrt polizeilich angehalten wurde, fuhr er demnach
in einem Zeitpunkt, in welchem sich der Schluss-Sturz-Trunk auf das Gehirn
auswirkte. Er befand sich somit nicht in einer Extremsituation.

    d) Angesichts des vom Gerichtlich-medizinischen Institut unter
Berücksichtigung eines Nachresorptionswertes errechneten Blutalkoholgehalts
für die rechtlich relevante Zeit von 0,7%o und in Berücksichtigung
der Tatsache der Überschwemmung des Gehirns durch Alkohol infolge des
15 bis 20 Minuten vor der Fahrt liegenden Schluss-Sturz-Trunks ist die
Annahme der Vorinstanz, dass die Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit des
Beschwerdeführers den Wirkungen eines Blutalkoholgehalts von mindestens
0,8%o entsprochen habe, zutreffend. Die Beschwerde ist abzuweisen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.