Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 II 102



103 II 102

16. Urteil der I. Zivilabteilung vom 17. Mai 1977 i.S. Kind gegen
Neuhäusler Regeste

    Art. 102 Abs. 1 und Art. 107 OR.

    1. Der Gläubiger darf dem Schuldner schon mit der Mahnung eine
Nachfrist zur Erfüllung ansetzen; Rechtsfolgen der Mahnung (E. 1a).

    2. Fristansetzung und Ausübung des Wahlrechts durch den Gläubiger;
Angemessenheit der Nachfrist (E. 1b).

    3. Schweigen auf eine vorzeitige Kündigung darf nicht als Zustimmung
ausgelegt werden, wenn der Empfänger einer Aufforderung, die in der
Kündigung enthalten ist, nicht nachkommt (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Durch Vereinbarung vom 9. März 1973 räumte Max Neuhäusler gegen
eine prozentuale Umsatzbeteiligung dem Felix Kind das ausschliessliche
Recht ein, in der von ihm betriebenen Gaststätte in Rorschach eine
Musikbox, einen Flipperkasten, ein Tischfussballspiel und einen
Geldspielautomaten aufzustellen. Die Vereinbarung sollte fünf Jahre gelten.

    Mit Schreiben vom 29. November 1974 kündigte Neuhäusler den Vertrag
auf den 30. November des gleichen Jahres, weil Kind entgegen übernommener
Verpflichtungen Betriebsstörungen in Apparaten nicht innert 24 Stunden
beheben und sein Kundendienst angeblich auch sonst sehr zu wünschen übrig
liess. Er fügte bei, dass sämtliche Apparate spätestens bis 31. Dezember
1974 zu entfernen seien.

    Kind liess in einem Schreiben seines Anwaltes vom 14. Januar 1975 die
gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestreiten. Zugleich forderte er Neuhäusler
auf, die Apparate innert zwei Tagen wieder in Betrieb zu nehmen und die
Erklärung abzugeben, den Vertrag künftig einzuhalten, ansonst er für die
restliche Dauer von 39 Monaten rund Fr. 50'000.-- Schadenersatz zahlen
müsste. Da Neuhäusler der Aufforderung nicht nachkam, holte Kind die
Apparate später ab.

    B.- Im März 1975 klagte Kind gegen Neuhäusler auf Zahlung von
Fr. 45'000.-- nebst 5% Zins ab 4. Februar 1975.

    Das Bezirksgericht Rorschach und auf Appellation hin am 23. September
1976 auch das Kantonsgericht St. Gallen wiesen die Klage ab.

    Das Kantonsgericht führt insbesondere aus, die Frist zur nachträglichen
Erfüllung gemäss Art. 107 Abs. 1 OR setze voraus, dass der Schuldner
sich in Verzug befinde. Diese Wirkung sei hier erst zwei Tage nach dem
Empfang des Mahnschreibens vom 14. Januar 1975 eingetreten. Auch liege
kein besonderer Fall gemäss Art. 108 Ziff. 1 OR vor, wo die Nachfrist
sich erübrige. Der Kläger habe den Beklagten daher nicht mahnen und ihm
gleichzeitig eine Nachfrist ansetzen, sondern seinem Schreiben nur die
Wirkung einer Mahnung geben können. Indem er dann die Apparate abholte,
habe er der Auflösung des Vertrages durch den Beklagten zugestimmt.

    C.- Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Er
beantragt, es aufzuheben und die Klage gutzuheissen oder die Sache zur
neuen Beurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.

    Der Beklagte verweist auf die Entscheide der kantonalen Gerichte und
beantragt, die Berufung abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Kläger wirft dem Kantonsgericht vor, es nehme zu Unrecht
an, die in seinem Schreiben vom 14. Januar 1975 enthaltene Frist zur
nachträglichen Erfüllung sei wirkungslos geblieben; die Annahme der
Vorinstanz verletze Bundesrecht, insbesondere Art. 102 Abs. 1 und 107
Abs. 1 OR.

    Das Kantonsgericht wertet die Vereinbarung der Parteien vom 9. März
1973 zutreffend als Vertrag eigener Art, der den allgemeinen Bestimmungen
des Obligationenrechtes untersteht. Es anerkennt sodann, dass der
Kläger den Beklagten am 14. Januar 1975 nicht bloss gemahnt, sondern
ihm gleichzeitig eine Nachfrist zur Erfüllung des Vertrages angesetzt
hat. Das Kantonsgericht hält das Vorgehen der Klägerin mit Bezug auf
die Frist aber für unwirksam, weil diese erst angesetzt werden könne,
wenn der Schuldner sich in Verzug befinde, der hier zwei Tage nach dem
Empfang des Mahnschreibens eingetreten sei.

    a) Diese Auffassung ist schon im Ausgangspunkt richtigzustellen. Gewiss
bedingt die Ansetzung einer Nachfrist gemäss Art. 107 Abs. 1 OR in der
Regel, dass die Leistung fällig ist und der Schuldner sich in Verzug
befindet. Das hindert den Gläubiger jedoch nicht daran, die Fristansetzung
mit der Mahnung zu verbinden. Das versteht sich schon deshalb, weil
auch in der Fristansetzung eine Mahnung liegt und der Gläubiger den
Schuldner im einen wie im andern Fall zur Erfüllung anhalten will, also
den gleichen Zweck verfolgt. Die beiden Rechtsbehelfe können nicht bloss
zeitlich zusammenfallen, sondern der Fälligkeit sogar vorausgehen, wenn
deren Termin bereits feststeht (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 13 zu Art. 107 OR;
VON TUHR/ESCHER, OR II S. 137 und 149; GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 228).

    Dass der Schuldner durch die Mahnung in Verzug gesetzt wird, und
bei Geldforderungen nachher Verzugszins schuldet, sind vom Willen des
Gläubigers unabhängige Rechtsfolgen;, sie brauchen vom Gläubiger weder
gewollt zu sein noch sich aus seiner Erklärung zu ergeben. Die Mahnung
bedarf auch keiner Befristung; sie wird mit ihrem Eintreffen beim Schuldner
wirksam, wenn die Leistung bereits fällig ist (VON TUHR/ESCHER, aaO S. 136
und 138). Diese Voraussetzung war hier erfüllt. Gemäss dem Mahnschreiben
des Klägers hatte der Beklagte die Erfüllung des Vertrages seit dem
1. Januar 1975 unterbrochen. Seine Verpflichtung, die Apparate während
der Öffnungszeiten der Gaststätte dauernd eingeschaltet zu lassen, blieb
aber fällig. Die Vorinstanz nimmt denn auch selber an, der Kläger habe
den Beklagten mit seiner Aufforderung vom 14. Januar 1975, die Apparate
als Einnahmequelle wieder in Betrieb zu setzen, wirksam gemahnt.

    Fehl geht das Kantonsgericht dagegen mit der weiteren Erwägung, durch
die Mahnung sei der Beklagte erst zwei Tage nach Erhalt des Schreibens
in Verzug gesetzt worden. Dafür ist weder dem Wortlaut, noch dem Sinn und
Zweck des Schreibens etwas zu entnehmen. Insbesondere ist nicht zu ersehen,
welches Interesse oder welchen Anlass der Kläger gehabt haben könnte, die
Vertragserfüllung durch den Schuldner selber noch weiter zu verzögern. Er
forderte den Beklagten übrigens nicht auf, die Apparate erst nach Ablauf,
sondern "innert zwei Tagen" wieder in Betrieb zu nehmen. Sein Schreiben
kann nach Treu und Glauben nur dahin verstanden werden, dass er den
Schuldner mahnen und ihm gleichzeitig für die gewünschte Vertragserfüllung
eine äusserste Nachfrist von zwei Tagen einräumen wollte. Die Mahnung
wurde daher schon wirksam, als der Beklagte sie erhielt.

    b) Die Ansetzung der Nachfrist gemäss Art. 107 Abs. 1 OR hat für
sich allein keine Wirkung. Sie ist bloss Voraussetzung dafür, dass der
Gläubiger nach fruchtlosem Ablauf der Frist zwischen den in Art. 107
Abs. 2 OR aufgezählten Möglichkeiten wählen darf. Dazu gehört auch,
dass er selbst nachher noch auf der Erfüllung des Vertrages beharren und
dem Schuldner neuerdings eine Nachfrist im Sinne von Art. 107 Abs. 1
OR ansetzen kann. Das gilt sogar für Fälle gemäss Art. 108 OR, da der
Gläubiger diesfalls wohl berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, von
der Ansetzung einer Nachfrist abzusehen (BGE 76 II 303 E. 1 mit Zitaten).

    Anders verhält es sich, wenn die Fristansetzung - was zulässig ist (BGE
86 II 235 Nr. 37, 50 II 19, 44 II 174 mit Hinweisen) - mit der Erklärung
verbunden wird, der Gläubiger werde auf die Erfüllung des Vertrages
verzichten und Schadenersatz verlangen, falls der Schuldner die Frist
nicht einhalten sollte. Eine solche Erklärung lag hier vor. Der Kläger
liess in seinem Mahnschreiben vom 14. Januar 1975 beifügen, dass der
Beklagte für die restliche Vertragsdauer Schadenersatz zu leisten habe,
wenn er sich weigere, die Apparate innert zwei Tagen wieder in Betrieb
zu nehmen. Das konnte nur heissen, dass der Kläger nach fruchtlosem
Ablauf der Frist auf die Erfüllung des Vertrages verzichte und Ersatz
des Vertragsinteresses verlangen werde.

    Fragen kann sich bloss, ob die dem Beklagten angesetzte Frist
von zwei Tagen als angemessen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 OR gelten
darf. Das entscheidet sich nicht allgemein, sondern hängt von den
Umständen des einzelnen Falles, namentlich von der Art der Leistung und
dem Interesse des Gläubigers an der baldigen Erfüllung ab. Je grösser
dieses Interesse und je leichter die Leistung zu erbringen ist, um so
kürzer darf die Frist bemessen sein, und umgekehrt (VON TUHR/ESCHER,
aaO S. 149; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 14 zu Art. 107 OR). Danach ist hier
die Angemessenheit der Frist ohne weiteres zu bejahen, ging es doch
einzig darum, die aufgestellten Apparate wieder einzuschalten. Ist
die angesetzte Frist aber nicht zu beanstanden, so hat der Kläger nach
deren unbenütztem Ablauf auf die weitere Erfüllung des Vertrages im Sinne
von Art. 107 Abs. 2 OR verzichtet. Das ergibt sich aus dem Wortlaut und
Zweck seines Schreibens vom 14. Januar 1975, wonach er vom Beklagten für
den Fall der Nichterfüllung Schadenersatz verlangen wollte.

Erwägung 2

    2.- Das Kantonsgericht übergeht die vom Bezirksgericht aufgeworfene
Frage, ob die vorzeitige Kündigung des Vertrages durch den Beklagten am
29. November 1974 als vom Kläger genehmigt zu betrachten sei, weil dieser
längere Zeit geschwiegen habe. Das ist zu verneinen. Der Kläger hat vor
dem 14. Januar 1975, wenn nicht mündlich oder schriftlich so jedenfalls in
der Weise reagiert, dass er dem Verlangen des Beklagten, die Apparate bis
spätestens 31. Dezember 1974 zu entfernen, nicht entsprochen hat; er hat
sie erst nach dem fruchtlosen Ablauf der Nachfrist abgeholt. Sein Verhalten
kam einer Weigerung gleich, weshalb der Beklagte aus seinem Schweigen
nicht in guten Treuen schliessen durfte, die Gegenpartei habe sich mit
der Kündigung abgefunden; er durfte dies um so weniger tun, als ihm auch
die Unzulässigkeit des eigenen Vorgehens nicht entgehen konnte. Hat er
aber den Vertrag gebrochen, so ist er grundsätzlich Schadenersatzpflicht.

    Das Urteil des Kantonsgerichts, das die Haftung des Beklagten zu
Unrecht verneint hat, ist daher gestützt auf Art. 64 Abs. 1 OG aufzuheben
und die Sache zur Ermittlung und Berechnung des Schadens an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des
Kantonsgerichts St. Gallen vom 23. September 1976 aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen wird.