Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 6



103 Ia 6

2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Februar 1977 i.S. C.
gegen Staatsanwaltschaft und Kantonsgericht von Graubünden Regeste

    Willkür im Strafprozess. - Anklageprinzip (Art. 89 Abs. 2 Ziff. 2
StPO-GR); Begriff, Tragweite, insbesondere hinsichtlich des subjektiven
Tatbestands.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- b) Gemäss Art. 89 Abs. 2 Ziff. 2 der Bündner StPO hat die
Anklageschrift des Staatsanwalts die Darstellung und die rechtliche
Qualifikation des Straftatbestandes zu enthalten. Damit ist im kantonalen
Verfahrensrecht das Anklageprinzip verankert und wird folglich das Recht
des Angeklagten gewährleistet, aus der Anklageschrift zu ersehen, wessen er
angeklagt ist und wie sein Verhalten strafrechtlich qualifiziert wird. Das
bedingt eine zureichende Umschreibung der Tat, so dass der Angeklagte
sich in seiner Verteidigung richtig vorbereiten kann und nicht der Gefahr
von Überraschungen ausgesetzt ist (s. C. LUDWIG, Die Anklageschrift,
ZStR 1945 S. 221; H.F. PFENNINGER, Anklage, Urteil und Rechtskraft, SJZ
1942/43 S. 353; A. SCHMID, Die Staatsanwaltschaft im bündnerischen Recht,
Diss. Zürich 1966, S. 115). Wieweit in concreto jene Individualisierung
gehen muss, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Allgemein kann
gelten, dass sich die Anklage auf das Notwendigste beschränken und auf
Weitschweifigkeiten verzichten kann und auch soll, um zu vermeiden, dass
durch eine zu ausführliche Darstellung und Erörterung das Gericht zum
Nachteil des Angeklagten beeinflusst werde (PFENNINGER, op.cit. S. 354).

    d) Im übrigen bringt der Beschwerdeführer einzig vor, die Vorinstanz
habe in verschiedenen Fällen auf Vorsatz bzw. Eventualvorsatz erkannt,
obschon in der Anklageschrift zumeist weder sein Wissen um den wahren
Sachverhalt noch der Wille nachgewiesen sei. Diese Rüge verkennt, dass das
Anklageprinzip nur eine Darstellung des Sachverhalts in tatsächlicher
und rechtlicher Beziehung, nicht aber auch eine Begründung fordert
(SCHMID, op.cit. S. 116). Der Beweis des dargestellten Sachverhalts ist
in der Beweisverhandlung zu führen (Art. 112 ff. Bündner StPO), nicht in
der Anklageschrift. Entsprechend ist es auch erst Sache des Richters zu
ermessen, ob genügend sichere Anhaltspunkte für eine eventualvorsätzliche
Begehung sprechen.

    Was sodann die Erwähnung der Vorsatzelemente in der Anklage anbelangt,
so ist es nicht willkürlich, den jeweiligen Hinweis auf den gesetzlichen
Straftatbestand im Anschluss an den Einzelfall als zureichende Umschreibung
jener subjektiven Merkmale gelten zu lassen, wenn der betreffende
Tatbestand nur als Vorsatzdelikt erfüllbar ist. Dadurch wird nämlich für
den Angeklagten - wie übrigens auch für den Richter - jeder Irrtum darüber,
ob jenem Fahrlässigkeit oder vorsätzliche Begehung zur Last gelegt werde,
ausgeschlossen (s. WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, S. 304)
und folglich dem Anklageprinzip Genüge getan. In diesem Sinne aber ist
die Staatsanwaltschaft durchwegs verfahren, indem sie eingangs oder am
Schluss der jeweiligen Umschreibung des Einzelfalles namentlich und unter
Angabe des Gesetzesartikels den in Betracht fallenden Straftatbestand
erwähnt hat. Dass sie daneben nicht immer Wissen und Willen des Täters
noch besonders hervorhob, war daher kein Mangel im Sinne eines Verstosses
gegen das Anklageprinzip, über den die Vorinstanz schlechterdings nicht
hätte hinweggehen dürfen.