Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 531



103 Ia 531

78. Auszug aus dem Urteil vom 26. Oktober 1977 i.S. United Financial
Group Inc. gegen Warmbrunn und Kassationsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 4 BV; Vollstreckung ausländischer Zivilurteile; ordre public.

    Verstoss gegen den schweizerischen ordre public, wenn im ausländischen
Verfahren eine beim unzuständigen Gericht eingereichte Rechtsschrift
weder von Amtes wegen an das zuständige Gericht weitergeleitet noch an
den Absender retourniert wurde, obwohl sie noch innert Frist bei der
richtigen Behörde hätte eingereicht werden können?

Sachverhalt

    A.- Der in Deutschland wohnhafte Dr. Horst Warmbrunn wurde vom
US District Court of Oregon am 19. Januar 1975 auf Widerklage hin
verurteilt, der United Financial Group Inc. Dollars 1'105'883.-- zu
bezahlen. Dieses Urteil erwuchs nach Bescheinigung des District Court
in Rechtskraft. Am 31. Januar 1975 erwirkte die Gläubigerin in Zürich
einen Arrest zulasten Warmbrunns und anschliessend betrieb sie ihn für die
genannte Urteilssumme. Der von Warmbrunn erhobene Rechtsvorschlag machte
ein Rechtsöffnungsbegehren nötig, das der Einzelrichter am Bezirksgericht
Zürich unter Verweigerung der Vollstreckbarerklärung abwies, weil im
amerikanischen Verfahren gegen den schweizerischen ordre public verstossen
worden sei. Auf Rekurs der Gläubigerin hin erklärte das Obergericht des
Kantons Zürich das amerikanische Urteil für vollstreckbar und erteilte die
definitive Rechtsöffnung. Gegen diesen Entscheid führte Warmbrunn kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde, die das Kassationsgericht des Kantons Zürich am
3. März 1977 guthiess, im wesentlichen mit der Begründung, es stehe fest,
dass Warmbrunn nach Erhalt des amerikanischen Urteils fristgerecht beim
erkennenden Gericht Einspruch erhoben habe. Zwar hätte diese Eingabe
richtigerweise an den Circuit Court of Appeal gerichtet werden müssen,
doch dürfe Warmbrunn aus diesem Fehler kein Nachteil erwachsen. Es
widerspreche dem schweizerischen ordre public, wenn der District Court
die Rechtsschrift, die noch innert Frist bei der zuständigen Behörde
hätte eingereicht werden können, weder von Amtes wegen an den Court of
Appeal weitergeleitet noch an den Absender retourniert habe.

    Die United Financial Group Inc. erhebt staatsrechtliche Beschwerde
mit dem Antrag, der Entscheid des Kassationsgerichts sei aufzuheben. Sie
macht geltend, die Annahme eines Verstosses gegen den schweizerischen
ordre public sei willkürlich.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Vorbehalt des ordre public greift nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann Platz, wenn das einheimische
Rechtsgefühl durch die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen
Urteils in unerträglicher Weise verletzt würde, weil durch dieses Urteil
grundlegende Vorschriften der schweizerischen Rechtsordnung missachtet
werden. Ein Verstoss gegen den ordre public kann dabei nicht nur wegen
des materiellen Inhalts eines Urteils vorliegen, sondern auch wegen des
Verfahrens, in welchem es zustandegekommen ist. Dafür genügt indes nicht,
dass die einheimische Regelung, mit welcher das ausländische Verfahren in
Widerspruch steht, zwingendes Recht darstellt (vgl. BGE 100 II 112). Es
sind auch die Anforderungen an das einheimische Verfahren, die sich
aus Art. 4 BV ergeben, nicht in allgemeiner Weise als Bestandteil des
schweizerischen ordre public zu betrachten (BGE 101 Ia 530; vgl. auch 103
Ia 206, ferner BAUR, Einige Bemerkungen zum verfahrensrechtlichen ordre
public, in: Festschrift Guldener, S. 1 ff.). Ein Verstoss gegen diesen
liegt nur dann vor, wenn derart wesentliche Verfahrensgrundsätze in Frage
stehen, dass deren Missachtung zum schweizerischen Rechtsempfinden in einem
unerträglichen Widerspruch steht. Ganz allgemein gilt schliesslich, dass
der Anwendung der ordre public-Klausel mit Bezug auf die Vollstreckung
eines ausländischen Urteils engere Grenzen gesetzt sind als im Gebiet
der direkten Rechtsanwendung (BGE 103 Ia 204 mit Hinweisen).

    b) Die neuere Bundesgesetzgebung sieht vor, dass Eingaben
und Rechtsmittel, die innert Frist bei einer unzuständigen Behörde
eingereicht werden, als rechtzeitig anzusehen und von Amtes wegen an
die zuständige Behörde weiterzuleiten sind (Art. 107 Abs. 2 OG für das
Verwaltungsgerichts-, Art. 21 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 VwVG
für das Verwaltungsverfahren). Es liegt diesen Vorschriften der Gedanke
zugrunde, dass der Rechtssuchende nicht ohne Not wegen eines Formfehlers
um die materielle Beurteilung seines Rechtsbegehrens gebracht werden soll
(BGE 103 Ia 55). Dasselbe gilt zum Teil auch für ältere Bestimmungen
des Bundesrechts (vgl. BGE 100 III 9 E. 2). Indes ist der Grundsatz,
dass eine Eingabe als rechtzeitig entgegenzunehmen ist, wenn sie innert
Frist bei einer unzuständigen Behörde eingereicht wurde, nicht im gesamten
Bundesrecht verwirklicht. Er erleidet insbesondere dann eine Einschränkung,
wenn eine Rechtsschrift, die beim Bundesgericht einzureichen ist,
bei einer kantonalen Behörde eingelegt wurde. In diesem Falle gilt die
Rechtsvorkehr nur dann als rechtzeitig, wenn sie durch Vermittlung der
kantonalen Behörde noch vor Ablauf der Frist beim Bundesgericht einlangt
oder noch innerhalb der Frist zur Weiterleitung an das Bundesgericht
der Post übergeben wird (Art. 32 Abs. 2 OG; vgl. BGE 103 Ia 53 ff. für
die staatsrechtliche Beschwerde; 91 II 142 f. für die zivilrechtliche
Anschlussberufung; 86 II 286 für die Berufungsantwort; 78 IV 131 E. 1
für die Begründung der strafrechtlichen Nichtigkeitsbeschwerde).

    Aus dem Bundesrecht folgt sodann auch für das kantonale Verfahren keine
allgemeine Verpflichtung, eine innert Frist bei einer unzuständigen Behörde
eingereichte Eingabe als rechtzeitig zu erachten und von Amtes wegen an
die zuständige Behörde weiterzuleiten. Soweit keine bundesrechtlichen
Sondervorschriften bestehen (vgl. BGE 100 III 9 E. 2 für die Beschwerde
nach Art. 17 Abs. 1 SchKG), ist hiefür die Regelung des kantonalen Rechts
massgebend, und die Rückweisung einer Eingabe, die zwar rechtzeitig an
eine unzuständige, aber verspätet an die kompetente Behörde gelangte,
verstösst nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur dann gegen das
Bundesverfassungsrecht, wenn die kantonale Gesetzgebung eine Pflicht zur
Weiterleitung und Entgegennahme derartiger Eingaben enthält (BGE 101 Ia
115; 96 I 318 f.; nicht veröffentlichtes Urteil vom 22. Dezember 1976
i.S. Faessler).

    c) Welche Regelung das amerikanische Recht in dieser Hinsicht kennt,
steht im vorliegenden Falle dahin. Die Frage braucht auch nicht näher
abgeklärt zu werden, da das Kassationsgericht einen Verstoss gegen den
ordre public nicht deswegen annahm, weil der District Court gegen sein
eigenes Verfahrensrecht verstossen habe, sondern davon ausging, das
befolgte Verfahren stehe an sich mit dem schweizerischen ordre public in
Widerspruch. Zwar sei nicht zu beanstanden, dass eine Eingabe als verspätet
erachtet werde, wenn sie zwar rechtzeitig bei einer unzuständigen Stelle
eingegangen sei aber nicht mehr innert Frist an die zuständige Behörde
weitergeleitet werden könne. Es liege jedoch eine Verletzung von Treu und
Glauben und damit ein Verstoss gegen den schweizerischen ordre public
vor, wenn die Weiterleitung unterbleibe, obwohl die Rechtsmittelfrist
noch nicht verstrichen sei. Da im vorliegenden Fall bis zum Ablauf der
Frist noch mindestens fünfzehn Tage geblieben seien, hätte der District
Court den Einspruch entweder von Amtes wegen dem zuständigen Gericht
übermitteln oder aber Warmbrunn telegrafisch darüber verständigen müssen,
dass seine Rechtsschrift nicht entgegengenommen werden könne. Warmbrunn
wäre es aufgrund eines solchen Hinweises möglich gewesen, das Rechtsmittel
noch innert Frist beim zuständigen Gericht einzureichen.

    Diese Auffassung des Kassationsgerichts ist nicht haltbar. Ist
nicht davon auszugehen, dass das amerikanische Verfahrensrecht selber
eine Weiterleitungspflicht vorsieht, so kann klarerweise nicht von einem
Verstoss gegen den schweizerischen ordre public gesprochen werden, wenn
der District Court den bei ihm erhobenen Einspruch nicht von Amtes wegen
dem zuständigen Gericht übermittelte. Eine derartige Pflicht hätte ohne
entsprechende Vorschrift auch für ein schweizerisches Gericht nicht
bestanden. Zwar ist richtig, dass diese rechtliche Ordnung heute kaum
mehr befriedigt und dass eine Änderung der massgebenden Vorschriften als
wünschbar erscheint (vgl. BGE 103 Ia 55). Solange der heutige Rechtszustand
andauert, lässt sich jedoch offensichtlich nicht sagen, das einheimische
Rechtsgefühl werde durch die Vollstreckung des amerikanischen Urteils in
unerträglicher Weise verletzt, weil die beim District Court eingereichte
Eingabe nicht von Amtes wegen an das zuständige Gericht weitergeleitet
wurde. Ob der District Court die Rechtsschrift noch innerhalb der
Rechtsmittelfrist hätte weiterleiten können, oder ob die Frist für die
Einreichung bei der zuständigen Stelle bereits abgelaufen war, kann in
Anbetracht der schweizerischen Rechtslage keinen Unterschied machen.

    Zu prüfen bleibt, ob ein Verstoss gegen den schweizerischen ordre
public vorliegt, weil der District Court die bei ihm eingegangene
Rechtsschrift nicht wenigstens an Warmbrunn zurücksandte. Es ist anerkannt,
dass der Grundsatz von Treu und Glauben nicht nur im Privatrecht,
sondern auch im öffentlichen und namentlich im Prozessrecht gilt. Er
findet Anwendung, soweit es um das Verhalten der Prozessparteien geht
(BGE 101 Ia 44), gilt aber auch für das Verhalten der Gerichtsbehörden
und gewährt dem Bürger Anspruch auf den Schutz berechtigten Vertrauens
(BGE 101 Ia 330 99 mit Hinweisen; 96 III 99). In der Rechtsprechung
des Bundesgerichts wurde bisher noch nicht entschieden, ob sich der
Rechtssuchende mit Erfolg auf diesen Grundsatz berufen könne, wenn ein bei
der unzuständigen Behörde eingereichtes Rechtsmittel weder weitergeleitet
noch an ihn zurückgesandt wurde, obwohl für die fristgerechte Einreichung
bei der zuständigen Behörde noch genügend Zeit vorhanden war. Wie es
sich damit verhält, braucht auch hier nicht entschieden zu werden,
und es kann dahingestellt bleiben, zu welchen Vorkehren die Behörde
allenfalls verpflichtet wäre und innert welcher Frist sie zu handeln
hätte. Selbst wenn man mit dem Kassationsgericht annehmen wollte, das
Verhalten des District Court habe Treu und Glauben verletzt, so wäre dieser
Verfahrensmangel klarerweise nicht derart schwer, dass die Vollstreckung
des amerikanischen Urteils mit dem einheimischen Rechtsempfinden in
unerträglichem Widerspruch stände. Ein solcher Verstoss gegen Treu und
Glauben liesse sich offensichtlich nicht mit den Mängeln vergleichen, bei
denen nach Rechtsprechung und Lehre eine Verletzung des schweizerischen
ordre public angenommen wird, so bei unterbliebener oder nicht gehöriger
Vorladung, bei Verweigerung des rechtlichen Gehörs, bei Vorliegen eines
Widerspruchs zu einer inländischen Entscheidung in der gleichen Sache oder
bei offensichtlicher Rechtsbeugung. Er müsste vielmehr denjenigen Fällen
gleichgestellt werden, in welchen ein Widerspruch zum schweizerischen ordre
public verneint wurde, so bei Urteilen, welchen jede Rechtsmittelbelehrung
fehlte oder bei denen nur eine unvollständige Rechtsmittelbelehrung gegeben
wurde und selbst entsprechende Anfragen der Partei unbeantwortet blieben
(BGE 101 Ia 157; 96 I 399). Dass ein Verstoss gegen den schweizerischen
ordre public im hier zu beurteilenden Falle klarerweise nicht vorliegt,
ergibt sich schliesslich daraus, dass Warmbrunn über die massgebende
amerikanische Verfahrensordnung und über die Einreichung von Berufungen
beim Court of Appeal schon vor der Erhebung seines Einspruchs orientiert
worden war, wie unwiderlegt festgestellt ist.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 3. März 1977 aufgehoben.