Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 501



103 Ia 501

75. Auszug aus dem Urteil vom 4. Mai 1977 i.S. Frei gegen Einwohnergemeinde
Oensingen und Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 4 BV; Baurecht (Fälligkeit von Perimeterbeiträgen).

    Auslegung und Anwendung einer Vorschrift, die einen unbestimmten
Rechtsbegriff enthält.

Sachverhalt

    A.- § 24 des solothurnischen Gesetzes über das Bauwesen vom 10. Juni
1906 (BauG) bestimmt, unter welchen Voraussetzungen die Gemeinde Beiträge
an die Kosten öffentlicher Anlagen erheben kann. Nach § 24 Abs. 2 Satz 1
BauG werden die Beiträge, soweit im Baureglement nichts anderes vorgesehen
ist, mit der Vollendung der Anlage fällig. § 24 Abs. 2 Satz 3 BauG lautet
wie folgt:

    "Anderseits ist bei der Festsetzung der Fälligkeit insbesondere darauf
Rücksicht zu nehmen, dass berufstätige Landwirte, solange sie das Land
landwirtschaftlich nutzen, nicht über Gebühr belastet werden."

    Die Einwohnergemeinde Oensingen verfügte, dass Walter Frei für die
Erschliessung eines Teils des Industriegebietes "Moos" Strassen- und
Kanalisationsbeiträge von insgesamt Fr. 152'807.80 zu bezahlen habe. Frei
erhob dagegen Einsprache mit dem Begehren, es sei festzustellen, dass
die Beiträge wegen der landwirtschaftlichen Nutzung seines Grundstückes
vorläufig nicht fällig würden. Der Gemeinderat wies die Einsprache
ab, gewährte Frei aber gewisse Zahlungserleichterungen. Die kantonale
Schätzungskommission stellte auf Beschwerde des Walter Frei fest, dass
die von diesem zu leistenden Perimeterbeiträge vorläufig nicht fällig
würden. Die Einwohnergemeinde Oensingen reichte gegen das Urteil der
Schätzungskommission Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons
Solothurn ein. Dieses hiess die Beschwerde teilweise gut und erkannte,
dass Frei den Betrag von Fr. 54'000.-- innert 60 Tagen nach Zustellung der
Rechnung zu bezahlen habe; für den Betrag von Fr. 98'807.80 gewährte es
ihm Stundung mit einer Verzinsung zu 3% ab 60 Tagen nach Rechnungsstellung.

    Walter Frei führt gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 7

    7.- Das Verwaltungsgericht hat sich nicht darauf beschränkt, § 24
Abs. 2 Satz 3 BauG auszulegen, d.h. darzulegen, was mit dieser Bestimmung
bezweckt werden wollte, sondern es stellte generelle Regeln über die
Frage auf, unter welchen Voraussetzungen den Landwirten eine Stundung
der Perimeterbeiträge zu bewilligen sei. Es legte fest, dass der Anspruch
auf Stundung entfalle, wenn das steuerbare Vermögen des Grundeigentümers
den geschuldeten Betrag um das Dreifache übersteige, aber wenigstens
Fr. 50'000.-- betrage, und dass dann, wenn das steuerbare Vermögen mehr
als Fr. 50'000.-- ausmache, aber nicht das Dreifache des Beitrages,
dieser in der Höhe eines Drittels des steuerbaren Vermögens sofort zu
leisten sei und der restliche Betrag für sieben Jahre gestundet werde,
sofern keine Veräusserung oder Zweckentfremdung des Landes erfolge. Das
Verwaltungsgericht hat damit Regeln erarbeitet, welche § 24 Abs. 2 Satz
3 BauG ergänzen. Es übte somit die Funktion des Gesetzgebers oder der mit
dem Verordnungsrecht betrauten Behörde aus, nachdem der Gesetzgeber keine
Vorschriften darüber erlassen hatte, wann die Belastung der Landwirte als
"über Gebühr" zu betrachten sei, und diesbezüglich auch der Regierungsrat,
der nach § 32 BauG zum Erlass der Ausführungsvorschriften zuständig ist,
keine Bestimmungen aufgestellt hatte.

    Gemäss Art. 1 Abs. 2 ZGB soll der Richter dann, wenn dem Gesetz
keine Vorschrift entnommen werden kann, nach der Regel entscheiden,
die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Art. 4 ZGB bestimmt, dass der
Richter seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen habe,
wenn das Gesetz ihn auf sein Ermessen oder auf die Würdigung der Umstände
oder auf wichtige Gründe verweise. Im zu beurteilenden Fall kann nicht
von einer Gesetzeslücke gesprochen werden. Eine echte Gesetzeslücke liegt
nur dann vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was
er hätte regeln sollen, und dem Gesetz weder nach seinem Wortlaut noch
nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen
werden kann (BGE 100 Ib 157). Selbst im Falle einer Gesetzeslücke steht es
dem Richter nicht zu, eine generelle Regel aufzustellen, deren Tragweite
über den konkreten Einzelfall hinausgeht (GMÜR, Die Anwendung des Rechts,
Bern 1908, S. 110 und 129; GENY, Méthode d'interprétation, 2. Aufl. Paris
1919, Bd. II S. 318 und 327; GIACOMETTI, Allgemeine Lehren, S. 206). Im
vorliegenden Fall handelt es sich - wie erwähnt - um einen unbestimmten
Rechtsbegriff, der nach Ansicht gewisser Autoren eine Lücke intra legem
darstellt (GERMANN, Kommentar zum StGB, N. 13 ff. zu Art. 1; MEIER-HAYOZ,
Kommentar zum ZGB, N. 262 ff. zu Art. 1, d.h. der Gesetzgeber wollte eine
Frage vollständig regeln, aber dem Gesetzeswortlaut kann mangels genügender
Bestimmtheit keine unmittelbar anwendbare Regel entnommen werden. Dem
Richter steht in einem solchen Falle ein gewisser Beurteilungsspielraum
zu. Er hat die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und darf sich
nicht nur auf eine generell abstrakte Regel stützen, zu deren Erlass er
nicht zuständig ist (MEIER-HAYOZ, aaO N. 46 zu Art. 4 ZGB).

    Nachdem das Verwaltungsgericht vom Grundgedanken des § 24 Abs. 2
Satz 3 BauG ausgegangen war, wonach man vermeiden wolle, dass der
Landwirt, der sein Land landwirtschaftlich nutze, wegen der Fälligkeit
der Perimeterbeiträge zu einem Landverkauf gezwungen werde, stellte
es hinsichtlich der genannten Vorschrift eine schematische, auf dem
steuerbaren Vermögen beruhende Auslegungsregel auf. Entgegen seiner
Erklärung, dass für allfällige Sonderfälle weiter zu differenzieren sei,
wandte es diese generelle Regel auf den vorliegenden Fall an, wobei
es nicht untersuchte, inwieweit der Beschwerdeführer zur Bezahlung
der Beiträge in der Lage wäre ohne sein ganzes Grundstück verkaufen
zu müssen, oder in welchem Umfang ihm allenfalls ein Teilverkauf seines
Grundstückes zuzumuten wäre. Freilich kann der Richter, damit er die Lösung
in Sonderfällen leichter findet und um eine rechtsungleiche Behandlung
zu vermeiden, bei der Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung generelle
Regeln erarbeiten, von denen er sich bei der Anwendung der betreffenden
Bestimmung leiten lässt. Im zu beurteilenden Fall war es jedoch unhaltbar,
dass das Verwaltungsgericht nicht prüfte, ob der Beschwerdeführer wirklich
"über Gebühr belastet" im Sinne des § 24 Abs. 2 Satz 3 sei, sondern die
Abklärung dieser Frage allein auf Grund der schematischen Regel vornahm,
wie wenn es sich bei dieser um Vollziehungsverordnungsrecht handeln würde,
zu dessen Erlass das Gericht nach dem in Art. 4 Abs. 1 der Solothurner
KV ausgesprochenen Grundsatz der Gewaltentrennung nicht zuständig ist
(vgl. GIACOMETTI, aaO S. 207). Indem das Verwaltungsgericht seinen
Entscheid im Falle des Beschwerdeführers ausschliesslich in Anwendung
generell abstrakter Regeln traf, zu deren Erlass es nicht zuständig
war, und es unterliess, die individuell konkreten Verhältnisse des
Beschwerdeführers unter dem Gesichtspunkt des § 24 Abs. 2 Satz 3 BauG
zu würdigen, hat es gegen das Willkürverbot verstossen und Art. 4 BV
verletzt. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben, soweit er den
Beschwerdeführer betrifft. Das Verwaltungsgericht wird über die Beschwerde
des Walter Frei erneut zu befinden und dabei die konkrete Situation des
Beschwerdeführers zu berücksichtigen haben, was nicht notwendigerweise
bedeutet, dass das Gericht danach zu einer andern als der hier getroffenen
Lösung gelangen muss.