Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 47



103 Ia 47

10. Auszug aus dem Urteil vom 27. April 1977
i.S. Schweiz. Journalisten-Union und AG für Allgemeinen Rechtsschutz
gegen Wiegand, Gerichtspräsident IV von Bern und Appellationshof des
Kantons Bern Regeste

    Art. 31 BV und Art. 2 ÜbBest. BV; gewerbsmässige Parteivertretung
im Rechtsöffnungsverfahren.

    Die Kantone sind berechtigt, die gewerbsmässige Vertretung der
Parteien in gerichtlichen Zwischenverfahren der Schuldbetreibung den
patentierten Anwälten vorzubehalten; Art. 27 SchKG findet hier keine
Anwendung (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 10. August 1976 hat der Gerichtspräsident IV von
Bern das Begehren der Aktiengesellschaft für Allgemeinen Rechtsschutz
(AGAR) um Erteilung der provisorischen Rechtsöffnung für eine Forderung der
Schweizerischen Journalisten-Union (SJU) gegen Frau Wiegand "abgewiesen"
- in erster Linie unter Hinweis auf Art. 83 der Berner ZPO und Art. 12 des
bernischen Advokatengesetzes vom 10. Dezember 1840 (AdvG) wegen fehlender
Vertretungsbefugnis der AGAR. Gegen dieses Urteil haben die SJU und die
AGAR am 31. August 1976 eine Nichtigkeitsklage beim Appellationshof des
Kantons Bern und am 9. September 1976 eine staatsrechtliche Beschwerde beim
Bundesgericht eingereicht. Mit Entscheid vom 28. Oktober 1976 wies der
Appellationshof (II. Zivilkammer) die Nichtigkeitsklage ab, da die AGAR
im Rechtsöffnungsverfahren jedenfalls nicht den bernischen Vorschriften
über die Parteienvertretung genügt habe. Auch diesen Entscheid fochten
die beiden Beschwerdeführerinnen am 27. Januar 1977 mit staatsrechtlicher
Beschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Beschwerde vom 9. September 1976 wurde vor allem
vorgebracht, die AGAR unterstehe dem Recht des Kantons Zürich und sei
gemäss Art. 27 SchKG und dem zürcherischen Gesetz vom 16. Mai 1943
über die Geschäftsagenten, Liegenschaftsvermittler und Privatdetektive
zur Gläubigervertretung im Betreibungsverfahren - einschliesslich dem
Rechtsöffnungsverfahren - auch im Kanton Bern zuzulassen. Nach BGE 71 I
249 E. 4 und 52 III 107 E. 3 dürfe die Vertretung der Gläubiger auch
bei interkantonal verschiedenem Wohnsitz von Gläubiger und Schuldner
nicht durch kantonale Erlasse über die Tätigkeit von Geschäftsagenten
Beschränkungen unterworfen werden, die dem Sinn von Art. 27 SchKG
zuwiderliefen. Wenn das Gewerbe der Betreibungsvertretung in einem Kanton -
wie Bern - nicht ausdrücklich reglementiert sei, könne es nach BGE 66 III
6 E. 1 nicht auf dem Wege der Auslegung unter das Anwaltsgesetz subsumiert
werden. Der angefochtene Entscheid verstosse daher gegen Art. 31 BV und
das Prinzip der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2 ÜbBest. BV).

    a) Der Appellationshof hat demgegenüber in seinem Entscheid vom
28. Oktober 1976 erwogen, das fragliche Rechtsöffnungsbegehren sei von
der AGAR verfasst und einzig von L. A. Minelli als ihrem Vertreter -
nicht aber von der Gläubigerin, der SJU - unterschrieben worden. Der
Rechtsöffnungsrichter habe die Vertretungsbefugnis als Prozessvoraussetzung
von Amtes wegen überprüft. Laut Art. 306 der Berner ZPO fänden die
Bestimmungen des allgemeinen Teils und des ordentlichen Verfahrens,
somit auch Art. 83 ZPO, sinngemäss Anwendung auf summarische Verfahren
wie jenes der Rechtsöffnung. Nach Art. 83 Abs. 2 ZPO beurteile sich die
Fähigkeit, für einen andern im Prozess als Rechtsbeistand rechtsgültig zu
verhandeln, nach den Gesetzen über die Befähigung zur Anwaltschaft. Gemäss
Art. 12 AdvG könnten aber ausschliesslich die zur Berufsausübung im
Kanton Bern zugelassenen Fürsprecher (bzw. auswärtigen Anwälte) für
Dritte schriftliche Vorträge in Zivil- und Administrativsachen, welche
zu den wesentlichen Bestandteilen der Verhandlung gehören, verfassen
und unterschreiben. Es sei unbestritten, dass L. A. Minelli weder das
bernische noch ein anderes schweizerisches Fürsprecher- oder Anwaltspatent
besitze. Art. 27 SchKG beziehe sich nur auf die Gläubigervertretung im
eigentlichen Betreibungsverfahren (vor den Betreibungs- und Konkursämtern
sowie den entsprechenden Aufsichtsbehörden), nicht aber auf die Vertretung
in gerichtlichen Zwischenverfahren der Schuldbetreibung. Die von den
Beschwerdeführerinnen genannten Bundesgerichtsentscheide (BGE 52 III 106,
66 III 6 und 71 I 249), die alle das eigentliche Betreibungsverfahren
betreffen, hülfen ihnen daher nicht. Nach ständiger Praxis des
Appellationshofes (ZbJV 68/1932 S. 587 f., 69/1933 S. 169, 71/1935 S. 784
und 72/1936 S. 242) würden für die gerichtlichen Zwischenverfahren des
Betreibungsrechts, wie für andere gerichtliche Verfahren, die Art. 83
Abs. 2 ZPO und 12 AdvG gelten. Diese Praxis sei vom Bundesgericht in BGE
59 I 197 ff. ausdrücklich bestätigt worden.

    b) In der Tat hat das Bundesgericht im angeführten Entscheid
die Kantone für berechtigt erklärt, "die Vertretung der Parteien
in gerichtlichen Streitigkeiten, welche sich im Anschluss
an eine hängige Betreibung als Inzident derselben ergeben
(z.B. Rechtsöffnungsstreitigkeiten), den patentierten Anwälten
vorzubehalten"; Art. 27 SchKG finde hier keine Anwendung. Im Gegensatz
zur eigentlichen Schuldbetreibung sei der Rechtsgang vor dem Richter
im "summarischen Prozessverfahren betreffend Rechtsvorschläge und
Konkursbegehren" (Art. 25 Ziff. 2 SchKG) nicht durch Bundesrecht
geregelt; vielmehr werde seine Ordnung ausdrücklich der kantonalen
Gesetzgebung überlassen, soweit nicht das SchKG dann doch bei bestimmten
Rechtsinstituten gewisse Grundsätze darüber aufstelle. Zur Ordnung des
Verfahrens gehöre auch die Regelung der Bedingungen für die Stellvertretung
der Parteien im Prozesse. Die Kantone könnten somit die darauf bezüglichen
allgemeinen Bestimmungen ihrer Prozessordnung auch auf solche Streitsachen
anwendbar erklären (S. 200 E. 2).

    Dieser Entscheid wurde von der Lehre ohne Kritik übernommen (LEUCH,
Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. A., N. 3 zu § 83 ZPO;
PANCHAUD/CAPREZ, Die Rechtsöffnung, S. 67 N. 4 zu § 50).

    c) In der zweiten Beschwerde vom 27. Januar 1977 machen die
Beschwerdeführerinnen geltend, der genannte Bundesgerichtsentscheid sei
nicht massgeblich, weil darin nur von Verletzungen der Art. 27 SchKG und
Art. 5 ÜbBest. BV die Rede gewesen sei. Zu ihren Rügen wegen Verletzung
der Art. 31 und 33 BV sei darin nichts gesagt; auch der Appellationshof
habe hiezu nichts ausgeführt.

    Das Bundesgericht hat jedoch im angerufenen Entscheid mittelbar auch
über die Vereinbarkeit der bernischen Praxis mit den Art. 31 und 33 BV
entschieden: Der ausdrücklich angeführte Art. 5 ÜbBest. BV verweist auf
Art. 33 BV und hängt mit diesem eng zusammen; der Bundesgerichtsentscheid
ist denn auch unter der Rubrik "Ausübung der wissenschaftlichen
Berufsarten" in der Amtlichen Sammlung erschienen. Art. 33 BV
ermächtigt die Kantone, die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten
(z.B. Anwaltstätigkeit) von einem Fähigkeitsausweis abhängig zu machen,
und bildet daher eine Ausnahme von Art. 31 BV. Wenn jedoch nach BGE 59
I 200 E. 2 die Kantone die Parteivertretung im summarischen Verfahren
der Rechtsöffnung wie in andern Gerichtsverfahren (Art. 64 Abs. 3 und
Art. 64 bis Abs. 2 BV) frei - und ohne Bindung an Art. 27 SchKG - regeln
können, ist es ihnen auch nicht verwehrt, das Recht zur Einreichung
von Rechtsöffnungsbegehren im Namen des Gläubigers den patentierten
einheimischen und auswärtigen Anwälten vorzubehalten. Eine solche
Bestimmung verstösst weder gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 4 BV)
noch gegen die Handels- und Gewerbefreiheit (unveröffentlichtes Urteil
vom 14. Juni 1929 i.S. Lüscher E. 2). In BGE 95 I 335 E. 4, in dem
es gerade um die Verletzung von Art. 31 BV sowie Art. 27 SchKG ging,
hat das Bundesgericht übrigens seine in BGE 59 I 200 dargelegte Praxis
beiläufig bestätigt.

    Dass die Beschwerdeführerin Nr. 2 in andern Kantonen zur
Parteivertretung im Rechtsöffnungsverfahren zugelassen worden ist, ändert
nichts; die recht unterschiedliche Ausgestaltung dieses Verfahrens in den
Kantonen (vgl. F. THORMANN, Die prozessuale Ordnung betreibungsrechtlicher
Streitigkeiten in den kantonalen Rechten, Diss. Bern 1930, S. 41 ff.) ist
darauf zurückzuführen, dass das Bundesrecht für die den Zivilgerichten
übertragenen betreibungsrechtlichen Streitigkeiten nur einzelne
Bestimmungen aufgestellt hat und im übrigen durch sein Stillschweigen das
kantonale Zivilprozessrecht in Geltung gelassen oder die Kantone beauftragt
hat, für einzelne Fälle besondere Verfahren aufzustellen (E. BLUMENSTEIN,
Handbuch des Schuldbetreibungsrechtes, S. 14 ff.).

    d) An der Rechtsprechung von BGE 59 I 200 E. 2 ist
festzuhalten. Obschon das summarische Verfahren für Rechtsöffnungen durch
das SchKG vorgesehen ist, handelt es sich bei ihm um ein gerichtliches
Verfahren, das sich vor einem von den Kantonen bezeichneten Richter
abspielt (Art. 22 SchKG) und das durch die Kantone geregelt ist
(Art. 25 Ziff. 2 SchKG). Wenn es auch ein Zwischenverfahren der
Betreibung darstellt, so wird seine Ausgestaltung doch den Kantonen
überlassen (BLUMENSTEIN, aaO S. 118 und 264; FAVRE, Droit des poursuites,
3. A. S. 83), unter Vorbehalt einiger weniger, im SchKG selbst enthaltener
Bestimmungen (Art. 77, 84, 181, 184 und 185). Es handelt sich also im
wesentlichen um ein kantonales Verfahren. Es besteht auch kein Grund,
den Kantonen das Recht abzusprechen, für dieses Verfahren Regeln über
die Vertretungsbefugnis aufzustellen; hiezu sind die Kantone auch für
die andern kantonalen gerichtlichen Verfahren befugt. Es rechtfertigt
sich nicht, auf die Parteienvertretung im Rechtsöffnungsverfahren
allein deshalb Art. 27 SchKG anzuwenden, weil dieses Verfahren vom SchKG
vorgesehen ist. Art. 27 SchKG ist nur auf das vom Bundesrecht geregelte
eigentliche Vollstreckungsverfahren anwendbar, nicht aber auf die damit
zusammenhängenden kantonalen Gerichtsverfahren. Indem der Appellationshof
aufgrund des bernischen Prozessrechts die berufsmässige Parteivertretung
im Rechtsöffnungsverfahren allein den patentierten Anwälten zugesteht,
hat er somit keine verfassungsmässigen Rechte verletzt.

    e) Da sowohl die AGAR wie ihr Unterzeichner Minelli den bernischen
Vorschriften über die Parteivertretung nicht genügen, hat der
Gerichtspräsident IV von Bern das bei ihm gestellte Rechtsöffnungsbegehren
ohne Verletzung verfassungsmässiger Rechte aus formellen Gründen
"abweisen" dürfen; richtigerweise hätte er auf das an einem formellen
Mangel leidende Begehren "nicht eintreten" sollen. Das ändert aber
nichts daran, dass das erstinstanzliche Urteil und dementsprechend auch
der Rechtsmittelentscheid des Appellationshofes jedenfalls deswegen vor
der Bundesverfassung standhalten, weil das Rechtsöffnungsgesuch schon
mangels Vertretungsbefugnis des Unterzeichners nicht bewilligt werden
konnte. Auf die Rüge der Beschwerdeführerinnen gegen die zusätzliche
Erwägung des Gerichtspräsidenten IV über die fehlende Vollmacht und
auf die materiellrechtlichen Einwände gegen das erstinstanzliche Urteil
braucht unter diesen Umständen nicht mehr eingegangen zu werden.

    Die Behauptung der Beschwerdeführerinnen schliesslich, der
Gerichtspräsident IV hätte das Rechtsöffnungsbegehren kraft der
Parteimaxime ohne Prüfung bewilligen müssen, hält einer Überprüfung
nicht stand. Selbstverständlich kann der Rechtsöffnungsrichter die
Vertretungsbefugnis als formelle Prozessvoraussetzung von Amtes wegen
prüfen und er ist sogar bei Ausbleiben bzw. Stillschweigen des Schuldners
verpflichtet, das Vorliegen eines gehörigen Rechtsöffnungstitels von
Amtes wegen abzuklären (BLUMENSTEIN, aaO S. 284 und 302).