Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 455



103 Ia 455

68. Auszug aus dem Urteil vom 5. Oktober 1977 i.S. Hasler gegen Stadtrat
von Zürich Regeste

    Wohnsitzpflicht der Beamten.

    Die Wohnsitzpflicht der Beamten verstösst weder gegen Art. 45 BV noch
gegen Art. 8 EMRK (E. 4).

    Eine auf sachlichen Gründen beruhende Änderung der Bewilligungspraxis
(Bewilligung des auswärtigen Wohnsitzes) lässt sich mit Art. 4 BV
vereinbaren (E. 6a).

    Verletzung der Grundsätze von Treu und Glauben und der
Rechtsgleichheit? Frage im vorliegenden Fall verneint (E. 6b-d).

Sachverhalt

    A.- Im sogenannten Personalrecht der Stadt Zürich (PR), einer
Verordnung des Grossen Stadtrates (heute: Gemeinderat) über die Amts-
und Dienstverhältnisse der Beamten, Angestellten und Arbeiter der Stadt
Zürich, wird im Abschnitt über die Erfordernisse für die Anstellung
bestimmt (Art. 8 Abs. 1):

    "Die Beamten, Angestellten und Arbeiter, deren Dienstkreis nicht
   ausserhalb des Stadtkreises liegt, sind gehalten in der Stadt zu wohnen.

    Der Stadtrat ist berechtigt, Ausnahmen zu bewilligen."

    Die Bewilligung des auswärtigen Wohnsitzes wird durch den
Finanzvorstand erteilt, die Abweisung eines Gesuches erfolgt durch den
Stadtrat auf Antrag des Finanzvorstandes. Während der Hochkonjunktur
wurden - mit Rücksicht auf den Wohnungsmangel in der Stadt und die
Schwierigkeiten der Personalrekrutierung - in grosszügiger Weise Ausnahmen
von der Residenzpflicht gewährt. Im Laufe des Jahres 1976 entschloss
sich jedoch der Stadtrat in Anbetracht der veränderten Verhältnisse
(Entspannung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt), die Wohnsitzpflicht
der Beamten strenger zu handhaben und Ausnahmebewilligungen nur noch in
ausserordentlichen Fällen zu erteilen.

    Hans Hasler wurde am 13. Februar 1974 als Adjunkt (Verkehrsingenieur)
der Stadtpolizei Zürich gewählt. Am 9. August 1976 stellte er das Gesuch,
es sei ihm zu gestatten, seinen Wohnsitz von Zürich nach Meilen zu
verlegen, da seine Frau in Meilen ein Einfamilienhaus gekauft habe. Unter
Bezugnahme auf die eingeleitete Änderung der Bewilligungspraxis lehnte
der Stadtrat das Gesuch aus grundsätzlichen Überlegungen ab.

    Gegen den Beschluss des Stadtrates hat Hans Hasler staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und 45 BV sowie von Art. 8 EMRK
eingereicht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Art. 45 BV garantiert jedem Schweizer die
Niederlassungsfreiheit. Im Beamtenrecht der Kantone und Gemeinden
ist teilweise die Wohnsitzpflicht (Residenzpflicht) des Beamten am
Dienstort oder in dessen Umgebung oder im Kantonsgebiet vorgesehen
(vgl. Hinweise bei E. RICHNER, Umfang und Grenzen der Freiheitsrechte
der Beamten nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1951, S. 272;
E.M. JUD, Besonderheiten öffentlichrechtlicher Dienstverhältnisse nach
schweizerischem Recht ... Diss. Freiburg 1975, S. 104 f.). Auch das
Beamtengesetz des Bundes (BG vom 30. Juni 1927 über das Dienstverhältnis
der Bundesbeamten) verpflichtet in Art. 8 den Beamten, an dem ihm von
der Wahlbehörde zugewiesenen Dienstort zu wohnen. Für die Verlegung des
Wohnsitzes bedarf er der Ermächtigung der zuständigen Amtsstelle.

    In der Doktrin wird mit mehr oder weniger Nachdruck die Auffassung
vertreten, eine solche Residenzpflicht halte vor Art. 45 BV nur stand,
wenn dienstliche Gründe, wie die Notwendigkeit erhöhter oder ständiger
Dienstbereitschaft (Polizei, Katastrophendienst, Feuerwehr, usw.), einen
bestimmten Wohnsitz erfordern; bei der Mehrzahl der Dienstnehmer müsse
jedoch dem Grundrecht der Niederlassungsfreiheit der Vorrang eingeräumt
werden (so insbesondere JUD aaO S. 105). - In der schweizerischen Praxis
wurde bisher nicht angenommen, Art. 45 BV stehe einer beamtenrechtlich
fundierten Residenzpflicht entgegen und lasse eine Verpflichtung zu einem
bestimmten Wohnsitz nur zu, sofern dies für die richtige Erfüllung der
Dienstpflicht notwendig sei. AUBERT (Traité de droit constitutionnel
suisse, S. 701 Ziff. 1970) erwähnt die Residenzpflicht der Beamten ohne
Vorbehalt als eine der Ausnahmen von der Niederlassungsfreiheit.

    Art. 45 BV hindert den öffentlichrechtlichen Arbeitgeber nicht,
im Rahmen der gesetzlichen Regelung des Dienstverhältnisses auch
Vorschriften über den Wohnsitz der Beamten aufzustellen. Das öffentliche
Interesse an einer Residenzpflicht des Beamten besteht nicht nur dann,
wenn die Art des Dienstes (besondere Dienstbereitschaft, Pikettdienst)
es dringend erfordert, dass der Beamte am Arbeitsort wohnt. Für eine
Verpflichtung des Beamten zur Wohnsitznahme im Gebiet des Gemeinwesens,
in dessen Dienst er steht, können eine Reihe sachlicher Gründe angeführt
werden. Nach schweizerischer Auffassung ist eine gewisse Verbundenheit
des Beamten mit der Bevölkerung anzustreben, was bei einzelnen Stellen
auch in der Volkswahl zum Ausdruck kommt. Die Verwurzelung des Beamten
in der Gemeinschaft, für welche er arbeitet, ist besser gewährleistet,
wenn der Beamte in diesem Gemeinwesen wohnt, denn die Beziehung zum
Wohnort ist in der Regel eine wesentlich intensivere als die Beziehung
zum blossen Dienstort. Dass der Zugehörigkeit eines Beamten zur
Wohnbevölkerung seines Dienstortes bei einem Lehrer, Gemeindeschreiber
oder Finanzverwalter eines kleinen Ortes grösseres Gewicht zukommt als
bei einem Verkehrsingenieur der Stadt Zürich, ist offensichtlich. Aber
auch eine sehr grosse Stadt hat ein durchaus legitimes Interesse daran,
dass seine Beamten die Probleme des Gemeinwesens nicht nur aus amtlicher,
sondern auch aus privater Sicht kennen und sich als Bewohner der Stadt
mit ihr verbunden fühlen. Das in kommunalpolitischen Diskussionen immer
wieder vorgebrachte Argument, die Gemeinde müsse sich die Steuern der
von ihr besoldeten Beamten sichern, erscheint dagegen eher kleinlich;
doch ist es von der Verfassung her dem Gemeinwesen als Arbeitgeber nicht
verwehrt, auch aus solchen fiskalischen Überlegungen die Beamten zur
Wohnsitznahme am Dienstort zu verpflichten. Auf jeden Fall steht Art. 45
BV einer beamtenrechtlichen Residenzpflicht nicht entgegen. Auch kann aus
dieser Verfassungsbestimmung nicht abgeleitet werden, dass der Wohnsitz am
Dienstort nur dort vorgeschrieben werden könne, wo der Beamte zu erhöhter
oder ständiger Dienstbereitschaft verpflichtet sei.

    b) Gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK hat jedermann "Anspruch auf
Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines
Briefverkehrs". In Art. 8 Ziff. 2 werden die Voraussetzungen umschrieben,
unter denen gesetzliche Massnahmen, welche in den Wohnbereich eingreifen,
zulässig sind.

    Mit diesen Bestimmungen wird u.a. der Schutz der Wohnung
vor ungesetzlichen Eingriffen statuiert. Irgendein Anspruch auf
Niederlassungsfreiheit oder ein Verbot der Residenzpflicht von Beamten
kann dagegen aus Art. 8 EMRK nicht abgeleitet werden, tangiert doch
die Verpflichtung eines Beamten zu einem bestimmten Wohnsitz weder die
Integrität seiner Wohnung, noch wird dadurch sein Anspruch auf Achtung
seines Privat- oder Familienlebens verletzt.

Erwägung 5

    5.- ... (Grundlage der Residenzpflicht im Beamtenrecht der Stadt
Zürich.)

Erwägung 6

    6.- a) Unter welchen Voraussetzungen Ausnahmen von der Wohnsitzpflicht
bewilligt werden können, wird in Art. 8 PR nicht umschrieben.
Unbestritten ist, dass während der Hochkonjunktur Ausnahmen ohne
Anwendung strenger Kriterien bewilligt wurden, und dass die hier
angefochtene Verweigerung einer Ausnahmebewilligung auf einer bewussten
Verschärfung der Bewilligungspraxis beruht. Die Wohnungsknappheit in der
Stadt und die Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung haben in den
vergangenen Jahren zu einem weitgehenden Verzicht auf die Einhaltung der
Residenzpflicht geführt. Dass jetzt auf dem Arbeitsmarkt und in geringerem
Masse auch auf dem Wohnungsmarkt eine Entspannung eingetreten ist, darf
als erwiesen angenommen werden, ohne auf die eingereichten statistischen
Angaben näher einzutreten. Die aus sachlichen Gründen - im Hinblick auf
die Änderung der Konjunkturlage - vom Stadtrat angestrebte Beschränkung der
Ausnahmen von der Wohnsitzpflicht ist eine verfassungsrechtlich zulässige
Praxisänderung, welche Art. 4 BV nicht verletzt. Dass es wohl nach wie vor
schwierig sein dürfte, in Zürich eine grössere Wohnung zu einem tragbaren
Zins zu finden, und dass der Erwerb eines Einfamilienhauses einem Beamten
auf Stadtboden kaum möglich ist, bildet keinen verfassungsrechtlichen
Grund, um dem Stadtrat die prinzipielle "Rückkehr" zum Grundsatz der
in Art. 8 PR festgelegten Residenzpflicht zu untersagen. Wer sich als
Beamter der Stadt Zürich wählen lässt, nimmt neben den Vorteilen einer
solchen Stellung auch die Nachteile auf sich, und als Nachteil mag mancher
Bewerber gerade die Wohnsitzpflicht empfinden, da sie mit Schwierigkeiten
bei der Wohnungssuche und mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden
sein kann. Wenn der Stadtrat heute unter Hinweis auf die Änderung der
Konjunkturlage die Wohnsitzpflicht wieder strikte durchsetzen und seine
grosszügige Bewilligungspraxis aufgeben will, so verstösst dies auf jeden
Fall nicht gegen Art. 4 BV. Über die Opportunität des Vorgehens hat sich
das Bundesgericht nicht zu äussern.

    b) Der Beschwerdeführer beruft sich in gewissem Sinn auf
Vertrauensschutz. Er macht geltend, es sei ihm vor dem Eintritt
in den städtischen Dienst erklärt worden, der auswärtige Wohnsitz
sei zwar grundsätzlich bewilligungspflichtig, es handle sich dabei
aber um eine Formalität; da in seinem Fall kein dienstlicher Grund
die Ortsansässigkeit erfordere, könne er ohne weiteres mit der
Erteilung der Bewilligung rechnen. Dass der Beschwerdeführer 1974
- entsprechend der damaligen Bewilligungspraxis - in diesem Sinne
orientiert wurde, ist unbestritten. Der Beschwerdeführer kannte also
die grundsätzliche Wohnsitzpflicht von Anfang an. Er konnte zwar auf
Grund der wahrheitsgemässen Orientierung annehmen, er habe bei der
Erteilung der Ausnahmebewilligung - ohne Änderung der Praxis - kaum mit
ernstlichen Schwierigkeiten zu rechnen. Eine eigentliche Zusicherung,
dass ihm der auswärtige Wohnsitz gegebenenfalls bewilligt werde, gab ihm
sein Verhandlungspartner nicht; er war dazu offensichtlich auch nicht
zuständig. Der Beschwerdeführer begnügte sich mit dieser für ihn relativ
günstigen Auskunft.

    Aus der zutreffenden Orientierung über die Rechtslage und die
damals geltende grosszügige Bewilligungspraxis kann der Beschwerdeführer
keinen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmebewilligung ableiten. Dass die
grundsätzliche Wohnsitzpflicht allgemeiner Natur ist und sich nicht auf
die Fälle der dienstlich bedingten Ortsansässigkeit beschränkt, blieb ihm
nicht verborgen. Die blosse Hoffnung, dass die zur Zeit seines Eintritts
in den städtischen Dienst geübte Bewilligungspraxis nicht geändert und
gegebenenfalls auch ihm zugute kommen werde, geniesst keinen rechtlichen
Schutz. Da eine verbindliche Zusicherung der zuständigen Behörde fehlt,
kann offenbleiben, ob das angebliche Vertrauen in die Möglichkeit eines
auswärtigen Wohnsitzes für den Entschluss des Beschwerdeführers, die Stelle
eines Verkehrsingenieurs anzunehmen, wirklich von entscheidender Bedeutung
war (vgl. über die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes BGE 99 Ib 101).

    c) Aus den Akten ergibt sich, dass nach Einführung der restriktiven
Bewilligungspraxis durch den Stadtrat der Finanzvorstand in einzelnen
Fällen noch den auswärtigen Wohnsitz bewilligte, obschon bei konsequenter
Anwendung der neuen strengern Kriterien eher eine Ablehnung der Gesuche in
Betracht gefallen wäre. Eine gewisse Inkonsequenz in der Übergangszeit mag
wohl zum Teil auf die merkwürdige Spaltung der Zuständigkeit zur Behandlung
der Gesuche zwischen Finanzvorstand und Stadtrat zurückzuführen sein. Es
ist aber nicht dargetan, dass es der Stadtrat mit seiner Praxisänderung
und der versuchten Durchsetzung der Residenzpflicht nicht ernst meine,
sondern willkürlich in Einzelfällen einen strengern Massstab anlege. In
den Vergleichsfällen liess sich zum grössten Teil wegen erheblicher
sachlicher Unterschiede (Beibehaltung eines bisherigen auswärtigen
Wohnsitzes, Einzug in ein schon bisher einem Familienglied gehörendes Haus,
Verheiratung weiblicher Angestellter nach auswärts, Berücksichtigung
der beruflichen Situation der Frau) eine Bewilligung rechtfertigen;
in andern Fällen mag die lange Dauer des Bewilligungsverfahrens zur
Beachtung der inzwischen gutgläubig getroffenen Dispositionen geführt
haben. Dass wirklich gleichartige Fälle vom Stadtrat in klarer Weise
ungleich behandelt worden wären, ist nicht belegt. Es besteht kein Grund,
am Willen des Stadtrates zur rechtsgleichen Durchsetzung der restriktiven
Bewilligungspraxis zu zweifeln. Wenn in der Übergangszeit noch nicht
alle Verfügungen des Finanzvorstandes der angestrebten neuen Auslegung
von Art. 8 PR überzeugend entsprechen, so kann dies keinen Anlass zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheides bilden.

    d) Zwischen den Beamten, denen unter der bisherigen Rechtsprechung
ein auswärtiger Wohnsitz bewilligt wurde, und jenen, welche in der
Stadt wohnen und jetzt wirklich nur noch ausnahmsweise ihr Domizil
nach auswärts verlegen können, besteht eine gewisse Ungleichheit. Diese
Ungleichheit zwischen Nutzniessern der früheren grosszügigen Praxis und
späteren Gesuchstellern, welche der neuen restriktiven Interpretation
einer Ausnahmeklausel unterliegen, bildet aber in keinem Fall einen
Grund zur Fortführung der bisherigen, heute als unrichtig und dem Sinn
der Vorschrift nicht entsprechend erkannten Praxis. Eine Ungleichheit,
die durch eine sachlich begründete Praxisänderung zwischen früheren und
späteren Gesuchstellern entsteht, verletzt Art. 4 BV nicht. Wäre dem so,
so hätte Art. 4 BV ja praktisch eine weitgehende Bindung an die einmal
gewählte Interpretation zur Folge.

Erwägung 7

    7.- Der Stadtrat hat es unterlassen, seine für die betroffenen Beamten
sehr einschneidende Änderung der Bewilligungspraxis in allgemeiner Form
bekanntzugeben, um Interessenten von der Wohnungssuche ausserhalb des
Stadtgebietes abzuhalten. Über die Bewilligungspflicht als solche konnte
zwar kein Zweifel bestehen. Die Eheleute Hasler gingen deshalb ein Risiko
ein, als Frau Hasler in Meilen ein Einfamilienhaus kaufte, bevor ihrem Mann
der auswärtige Wohnsitz bewilligt war. Allerdings ist es verständlich,
dass der Beschwerdeführer gestützt auf die Orientierung vor dem Eintritt
in den städtischen Dienst und die ihm bekannte Bewilligungspraxis keine
ernstlichen Schwierigkeiten erwartete. Der Stadtrat anerkennt in seiner
Vernehmlassung selbst, dass eine unbefriedigende Situation entstanden
sei, indem die neue, verschärfte Bewilligungspraxis eingeführt worden
sei, bevor die entsprechenden Vorschriften und Anweisungen abgeändert
und ohne dass die Dienstchefs über die neue Praxis orientiert worden
waren. Dem Stadtrat wird deshalb nahegelegt, bei der Behandlung der in
diese Übergangszeit fallenden Gesuche die besondere Lage der durch die
Praxisänderung Betroffenen zu berücksichtigen.