Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 40



103 Ia 40

9. Auszug aus dem Urteil vom 26. Januar 1977 i.S. Ruh gegen Stadtrat
Schaffhausen sowie Regierungsrat und Obergericht (als Verwaltungsgericht)
des Kantons Schaffhausen Regeste

    Art 22ter BV; Baulinienplan.

    1. Ziehung von Baulinien zur Freihaltung des für einen künftigen
Strassenausbau benötigten Landes; öffentliches Interesse und
Verhältnismässigkeit des Baulinienabstandes (E. 3).

    2. Inwieweit sind beim Erlass eines solchen Baulinienplanes
Einwendungen zu prüfen, die sich auf die künftige Linienführung der
erweiterten oder korrigierten Strasse beziehen? (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Der Stadtrat von Schaffhausen legte im Jahre 1972 einen
Baulinienplan für das Gebiet "Lahn-Klus" auf, in welchem für die
Lahnstrasse im Hinblick auf einen künftigen Ausbau erweiterte Baulinien
mit einem Abstand von 21 m vorgesehen sind. Die Eheleute Ruh, deren
Wohngrundstück an die Lahnstrasse angrenzt und von der südlichen
Baulinie angeschnitten wird, fochten den Plan im wesentlichen ohne
Erfolg beim Stadtrat und beim Regierungsrat an. Das Obergericht (als
Verwaltungsgericht) des Kantons Schaffhausen wies eine Beschwerde der
Eheleute Ruh ab, in welcher unter anderem die Linienführung der zu
erweiternden Lahnstrasse und dementsprechend der Baulinien beanstandet
worden war. Es nahm an, die künftige Linienführung der Lahnstrasse sei
im jetzigen Verfahren nicht einlässlich zu prüfen, da der Baulinienplan
"Lahn-Klus" noch kein eigentliches Strassenausbauprojekt enthalte. Ein
solches Projekt und eine entsprechende Ergänzung des Baulinienplans seien
wiederum den Verfahrensvorschriften für den Erlass von Baulinienplänen
unterstellt. Die Beschwerdeführer hätten im künftigen Rechtsmittelverfahren
Gelegenheit, die gegen das Projekt gerichteten Einwände vorzubringen. Im
jetzigen Zeitpunkt seien sie lediglich durch ein teilweises Bauverbot
zur Sicherung des künftigen Strassenausbaus belastet. Dafür bestehe ein
hinreichendes öffentliches Interesse.

    Die Eheleute Ruh rügen mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 22ter BV, der Baulinienabstand von 21 m sei
unverhältnismässig und liege nicht im öffentlichen Interesse. Sie
beanstanden ferner die Baulinienführung mit der Begründung, eine
künftige Erweiterung der Lahnstrasse innerhalb dieser Baulinien würde
ihre Liegenschaft in unverhältnismässiger Weise belasten. Da der
jetzige Baulinienplan den späteren Strassenausbau präjudiziere, habe
das Obergericht die aufgeworfenen Fragen der Linienführung zu Unrecht
nicht geprüft.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Baulinien entlang der Lahnstrasse belegen die betroffenen
Grundstücke mit einem teilweisen Bauverbot und beschränken deshalb das
Grundeigentum der Beschwerdeführer. Eigentumsbeschränkungen müssen gemäss
Art. 22ter BV auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und im öffentlichen
Interesse liegen; sofern sie einer Enteignung gleichkommen, ist volle
Entschädigung zu leisten (BGE 101 Ia 218 mit Hinweisen). Im vorliegenden
Fall ist nicht streitig, dass für die beanstandete Eigentumsbeschränkung
in Art. 9 des Baugesetzes für den Kanton Schaffhausen vom 9. November 1964
(BauG) eine gesetzliche Grundlage besteht. Die Frage einer Entschädigung
ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Im hier zu beurteilenden
Fall steht einzig das Erfordernis des öffentlichen Interesses in Frage. Ob
für eine Eigentumsbeschränkung ein hinreichendes öffentliches Interesse
besteht und ob dieses das entgegenstehende private Interesse überwiegt,
prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei; ebenso die Verhältnismässigkeit
des Eingriffs. Dabei auferlegt es sich jedoch Zurückhaltung, soweit die
Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt,
welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das
Bundesgericht, und soweit sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen (BGE
101 Ia 219 E. 4; 99 Ia 714 E. 2, 583, 475 E. 3, 252 E. 2, 138, 38 E. 3a).

Erwägung 3

    3.- a) Die hier umstrittenen Baulinien sind mit Hinblick auf einen
künftigen Ausbau der Lahnstrasse gezogen worden. Wie aus den Akten
hervorgeht, ist beabsichtigt, das Gebiet "Gretzenäcker" im Falle einer
künftigen Überbauung durch die Lahnstrasse zu erschliessen. Unabhängig
von der Überbauung dieses Gebiets, die in absehbarer Zukunft noch
nicht zu erwarten sein soll, besteht nach Auffassung des Stadtrats
von Schaffhausen auf weite Sicht das Bedürfnis, die Lahnstrasse als
Sammelstrasse auszubauen. Weiter sei vorgesehen, einen Teil der Lahnstrasse
künftig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bedienen. Aus all diesen
Gründen sei auch erforderlich, Trottoirs zur Sicherheit der Fussgänger,
insbesondere der zahlreichen Kinder, zu erstellen.

    Die Beschwerdeführer machen geltend, ein Baulinienabstand
von 21 m zur Sicherung des künftigen Ausbaus der Lahnstrasse sei
unverhältnismässig. Eine Fahrbahn von 6 m Breite und ein einseitiges, 2
m breites Trottoir vermöchten den künftigen Verkehrsbedürfnissen und der
Verkehrssicherheit vollauf zu genügen. Es sei angesichts der baulichen
Entwicklung in den letzten Jahren nicht damit zu rechnen, dass je eine
Erschliessung des Gebiets "Gretzenäcker" über die Lahnstrasse aktuell
werde. Auch im bereits heute überbauten Gebiet seien keine weiteren
Überbauungen grösseren Stils und kein grösseres Verkehrsaufkommen zu
erwarten. Ein Baulinienabstand von 18 m (beidseitige Vorgärten von je 5
m Breite eingeschlossen) sei deshalb ausreichend.

    b) Diese Einwendungen der Beschwerdeführer lassen den Schluss nicht
zu, die Freihaltung eines Raumes von 21 m Breite zur Sicherung eines
künftigen Ausbaus der Lahnstrasse sei nicht durch ein hinreichendes
öffentliches Interesse gedeckt und verstosse gegen den Grundsatz
der Verhältnismässigkeit. Ob eine Strasse auf ihrem bestehenden
Ausbaugrad belassen oder ob sie im Interesse des Verkehrsflusses und
der Verkehrssicherheit künftig erweitert und ausgebaut werden soll,
haben weitgehend die kommunalen Behörden nach ihrem eigenen Ermessen
zu entscheiden. Dass ein künftiger Ausbau der Lahnstrasse entgegen
der jetzigen Annahme des Stadtrates von Schaffhausen unwahrscheinlich
sei und dass an der Freihaltung der entsprechenden Flächen deshalb
kein hinreichendes öffentliches Interesse bestehe, lässt sich nicht
sagen. Ebensowenig lässt sich feststellen, die kommunalen Behörden hätten
mit der Festlegung eines Baulinienabstandes von 21 m und der Annahme,
es sei Raum für eine Erweiterung der Fahrbahn auf 7 m und die Erstellung
beidseitiger Trottoirs von je 2 m freizuhalten, die ihnen zustehende
Gestaltungsfreiheit überschritten. Schon für Quartierstrassen werden heute
Baulinienabstände von 18-22 m festgesetzt (vgl. FRIEDRICH/SPÜHLER/KREBS,
Bauordnung der Stadt Winterthur, N. 2 zu § 14). Solche Abstände sind erst
recht dann nicht unverhältnismässig, wenn damit zu rechnen ist, dass die
fragliche Strasse sich früher oder später zu einer Sammelstrasse entwickeln
wird. Dem Baulinienplan für die Lahnstrasse liegen daher hinsichtlich der
Verkehrsfläche, der Trottoirs und der Vorgärten vertretbare Vorstellungen
über einen künftigen Strassenausbau zugrunde. Es lässt sich deshalb
nicht sagen, es fehle ein hinreichendes öffentliches Interesse für die
Festlegung eines Baulinienabstandes von 21 m. Das private Interesse der
Beschwerdeführer an einer unbeschränkten Nutzung ihres Grundeigentums
vermag dieses Interesse nicht zu überwiegen.

Erwägung 4

    4.- a) Die Beschwerdeführer beanstanden indes nicht nur den
Baulinienabstand als solchen, sondern auch die Baulinienführung. Sie machen
geltend, eine künftige Erweiterung der Lahnstrasse innerhalb dieser
Baulinien würde ihre Liegenschaft unverhältnismässig belasten. Mit
Rücksicht auf ihre privaten Interessen sei eine Linienführung in
Betracht zu ziehen, die weiter nördlich als diejenige verlaufe, die
dem Baulinienplan zugrunde liege. Dies müsse schon bei der Ziehung der
Baulinien berücksichtigt werden, da andernfalls der künftige Verlauf der
erweiterten Strasse für die Beschwerdeführer ungünstig präjudiziert werde.

    b) Werden Baulinien gezogen, um die erforderlichen Flächen für die
Erstellung oder den Ausbau einer Strasse freizuhalten, so setzt diese
Planungsmassnahme bereits gewisse Vorstellungen über das Strassenbauprojekt
voraus. Fehlen solche, so ist die Eigentumsbeschränkung nicht durch ein
hinreichendes öffentliches Interesse gedeckt.

    Bildet das geplante Strassenbauprojekt Bestandteil des Baulinienplans,
wie Art. 9 BauG dies als Möglichkeit vorsieht, so können gegen den
Baulinienplan ohne Einschränkung alle Einwendungen vorgebracht werden,
die sich auf die Linienführung der projektierten Strasse beziehen. Dies
gilt insbesondere deshalb, weil Einwendungen gegen die Linienführung in
einem späteren Enteignungsverfahren nicht mehr zulässig sind und sich
das Verfahren dannzumal nur noch auf die Behandlung der angemeldeten
Forderungen bezieht (Art. 13 Abs. 1 BauG). Bildet das Strassenbauprojekt
nicht Bestandteil des Baulinienplans, was vor allem dann zutreffen wird,
wenn die Baulinien den Raum für eine künftige Erweiterung oder Korrektur
der Strasse freihalten sollen, so kann es sich nicht gleich verhalten. Die
Erreichung dieses Zwecks würde in erheblichem Masse erschwert oder
gar verunmöglicht, wenn schon bei der Ziehung der Baulinien sämtliche
Einwendungen zu prüfen wären, die sich auf die künftige Linienführung
der erweiterten oder korrigierten Strasse beziehen. In welchem Umfang
auf derartige Einwendungen beim Erlass des Baulinienplans einzugehen
ist, braucht hier nicht abschliessend beurteilt zu werden. Es genügt die
Feststellung, dass sie im gebotenen Umfang jedenfalls dann geprüft werden
müssen, wenn an einem bestimmten Ort praktisch nur zwei Möglichkeiten für
die Linienführungen bestehen und die vorgesehenen Baulinien die künftige
Wahl der Linienführung in erheblichem Masse präjudizieren könnten. So
verhält es sich im vorliegenden Fall.

    c) Die Lahnstrasse verläuft im hier interessierenden Teil zwischen
den beiden Grundstücken Nr. 1921 und 1957, an deren nordöstlicher Ecke
das Wohnhaus der Beschwerdeführer steht, und den Parzellen Nr. 1370
und 1371, die beide von der Strasse aus gegen Norden ansteigen. Es
besteht im Falle eines Ausbaus der Lahnstrasse nach dem Vorhaben des
Stadtrates nur die Möglichkeit, die Stützmauer des Wohnhauses auf
dem Grundstück Nr. 1957 zu entfernen oder die Strassenachse nordwärts
zu verschieben und die Erweiterung auf den nordseitigen Grundstücken
vorzunehmen. Die Auffassung des Obergerichts trifft nicht zu, innerhalb
der umstrittenen Baulinien könne sowohl ein Ausbau der Lahnstrasse nach
dem Projekt der kommunalen Behörden als auch nach den Vorstellungen der
Beschwerdeführer verwirklicht werden. Eine Verschiebung der Strassenachse
nach Norden, wie die Beschwerdeführer verlangen, wäre innerhalb der heute
streitigen Baulinien nur dann möglich, wenn das ihnen zugrunde liegende
Strassenbauprojekt vermindert würde. Es müsste im Projekt entweder die
Strassenbreite (7 m), das nordseitige Trottoir (2 m) oder der nordseitige
Grünstreifen (5 m) reduziert werden. Es mag sein, dass die Beschwerdeführer
mit einer solchen Änderung des Bauvorhabens einverstanden wären. Dies
ändert indes nichts daran, dass die kommunalen Behörden dem Baulinienplan
ein weitergehendes Ausbauprojekt zugrunde gelegt haben.

    Den Akten ist sodann zu entnehmen, dass sich der Direktor der
städtischen Wasserversorgung an der obergerichtlichen Referentenaudienz vom
25. September 1975 die Erweiterung des Wasserreservoirs auf der Parzelle
Nr. 1370 vorbehalten hat. Würden solche Erweiterungsbauten ausgeführt, so
müsste dies den späteren Entscheid über die Linienführung der erweiterten
Lahnstrasse zweifellos beeinflussen. Es besteht daher Grund zur Annahme,
die künftige Linienführung der Lahnstrasse werde durch den Verlauf der
umstrittenen Baulinien präjudiziert.

    Bei dieser Sachlage musste sich das Obergericht mit dem Einwand der
Beschwerdeführer materiell auseinandersetzen, die Achse der Lahnstrasse
sei bei einer künftigen Erweiterung nordwärts zu verlegen und es fehle aus
diesem Grunde ein hinreichendes öffentliches Interesse für die beanstandete
Baulinienführung. Das Obergericht hat im heutigen Zeitpunkt zumindest
einen groben Vergleich hinsichtlich der Verkehrstauglichkeit der beiden
Varianten, ihrer ungefähren Kosten, der Auswirkungen auf die Liegenschaft
der Beschwerdeführer (Beeinträchtigung der Stützmauer und der Fundamente
des Wohnhauses) und der Grundstücke nördlich der Lahnstrasse (Gefährdung
des Wasserreservoirs, Interesse nach einer allfälligen Erweiterung des
Reservoirs) anzustellen. Lassen sich ohne unverhältnismässige Weiterungen
keine zuverlässigen Schlüsse für die eine oder andere Variante ziehen, so
ist unter Umständen - um eine Präjudizierung der künftigen Strassenführung
zu verhindern - die Baulinie auf der Seite der Parzellen Nr. 1370 und
1371 nach Norden zu verschieben, ohne die südseitige Baulinie zu ändern.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen, soweit
darauf einzutreten ist, und der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Schaffhausen (als Verwaltungsgericht) vom 12. Dezember 1975 aufgehoben.