Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 320



103 Ia 320

52. Urteil vom 14. November 1977 i.S. politische Gemeinde Horgen gegen
Regierungsrat des Kantons Zürich Regeste

    Gemeindeautonomie.

    Denjenigen zürcherischen Gemeinden, für welche die ausserordentliche
Gemeindeorganisation mit Urnenabstimmung im Sinne der §§ 116 und 117 des
zürcherischen Gesetzes über das Gemeindewesen gilt, steht hinsichtlich
der Frage, welche Materien durch die Gemeindeordnung der obligatorischen
Urnenabstimmung unterstellt werden können, keine Autonomie zu.

Sachverhalt

    A.- Die Stimmberechtigten der politischen Gemeinde Horgen nahmen in
der Urnenabstimmung vom 5. Dezember 1976 eine Reihe von Änderungen der
Gemeindeordnung an. Art. 9 der Gemeindeordnung wurde durch eine Ziffer
5 ergänzt, wonach die Festsetzung des kommunalen Gesamtplanes bzw. der
Teilrichtpläne sowie der Bau- und Zonenordnung und des Erschliessungsplanes
obligatorisch der Urnenabstimmung unterliegt. Mit Entscheid vom 16. Februar
1977 genehmigte der Regierungsrat des Kantons Zürich die Teilrevision
der Gemeindeordnung mit Ausnahme von Art. 9 Ziff. 5. Er schloss diese
Bestimmung von der Genehmigung aus, weil die Gemeinde Horgen nach dem
kantonalen Gesetzesrecht nicht befugt sei, in ihrer Gemeindeordnung
eine direkte Urnenabstimmung für die Grunderlasse der Ortsplanung
vorzuschreiben.

    Die politische Gemeinde Horgen führt gegen den regierungsrätlichen
Beschluss staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der
Gemeindeautonomie.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der angefochtene Entscheid, mit dem der Regierungsrat einer
revidierten Bestimmung der Gemeindeordnung Horgen die Genehmigung
verweigerte, berührt die Beschwerdeführerin in ihrer Eigenschaft als
Inhaberin der öffentlichen Gewalt. Sie ist daher legitimiert, mit
staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu
rügen. Ob die Gemeinde Horgen im betreffenden Bereich tatsächlich autonom
ist, ist eine Frage der materiellen Beurteilung der Beschwerde (BGE 100
Ia 202/3 E. 1, 282 E. 3 mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- Gemeindeautonomie auf dem Gebiete der Rechtsetzung ist
nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dort anzunehmen, wo die
Gemeinde zur Rechtsetzung ermächtigt ist, das kantonale Recht keine
abschliessende Regelung enthält und den Gemeinden eine relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit belässt (BGE 99 Ia 74 E. 2, 93 I 160, 432). Art. 48
der zürcherischen Kantonsverfassung (KV) räumt den Gemeinden die Befugnis
ein, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken der Verfassung und
Gesetze selbständig zu ordnen. Während Art. 52 KV die Aufgaben der Kirch-
und der Schulgemeinden kurz angibt, werden diejenigen der hier in Frage
stehenden politischen Gemeinde in der KV nicht aufgezählt. Der Umfang
der Autonomie der politischen Gemeinde im Kanton Zürich ergibt sich
somit aus dem kantonalen Gesetzesrecht, dessen Auslegung und Anwendung
durch die zuständige kantonale Behörde vom Bundesgericht im Rahmen einer
Autonomiebeschwerde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür überprüft wird
(BGE 102 Ia 168/9 E. 2a mit Hinweisen).

    a) Gemäss § 41 Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes über das Gemeindewesen
vom 6. Juni 1926 (GG) sind die politischen Gemeinden verpflichtet und
befugt, über Fragen ihres Bestandes und ihrer Organisation sowie über
die Aufgaben der einzelnen Organe eine Gemeindeordnung zu erlassen. Der
zürcherische Gesetzgeber stellt den Gemeinden verschiedene Formen der
Organisation zur Verfügung, nämlich die ordentliche Gemeindeorganisation
mit der Gemeindeversammlung als oberstem Organ (§§ 40 ff. GG),
die ausserordentliche Gemeindeorganisation mit Grossem Gemeinderat
(§§ 88 ff. GG) und die ausserordentliche Gemeindeorganisation mit
Urnenabstimmung (§§ 116 f. GG). Die letztgenannte Organisationsform
gilt für die Gemeinde Horgen, die mehr als 2000 Einwohner aufweist,
jedoch keinen Grossen Gemeinderat kennt. In Gemeinden, die - wie die
Beschwerdeführerin - mehr als 2000 Einwohner zählen, die Organisation
mit Grossem Gemeinderat (Gemeindeparlament) aber nicht eingeführt haben,
unterstehen Erlass und Änderung der Gemeindeordnung von Gesetzes wegen
der obligatorischen Urnenabstimmung (§ 116 Abs. 1 Satz 1 GG). Solche
Gemeinden können überdies durch die Gemeindeordnung bestimmen, dass
die Anträge der Gemeindevorsteherschaft über Krediterteilungen für neue
jährlich wiederkehrende oder neue einmalige Ausgaben oder entsprechende
Ausfälle in den Einnahmen, sofern sie einen durch die Gemeindeordnung
zu bestimmenden Betrag übersteigen, an Stelle der Gemeindeversammlung
durch die Urnenabstimmung erledigt werden (§ 116 Abs. 1 Ziff. 1 GG). Die
Geschäfte, die in den Gemeinden der erwähnten Kategorie der obligatorischen
Urnenabstimmung unterstehen (Erlass und Änderung der Gemeindeordnung)
oder unterstellt werden können (Krediterteilungen für grössere Ausgaben)
sind in § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 1 Ziff. 1 GG abschliessend
aufgezählt. Den Gemeinden, für welche die ausserordentliche Organisation
mit Urnenabstimmung gilt, steht daher hinsichtlich der Frage, welche
Materien durch die Gemeindeordnung der direkten Urnenabstimmung unterstellt
werden können, keine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu. Anders
verhält es sich bei den Gemeinden mit Grossem Gemeinderat. Diese sind
befugt, über den gesetzlichen Mindestumfang hinaus in der Gemeindeordnung
weitere Geschäfte der obligatorischen Urnenabstimmung zu unterstellen
(§ 91 Ziff. 3 GG). Die Gemeinde Horgen gehört jedoch - wie erwähnt -
nicht zu den Gemeinden, welche die Organisation mit Grossem Gemeinderat
eingeführt haben. Auf Grund des zürcherischen Gesetzes über das
Gemeindewesen steht demnach der Beschwerdeführerin in bezug auf die hier
streitige Frage, welche Materien durch die Gemeindeordnung der direkten
Urnenabstimmung unterbreitet werden können, keine Autonomie im Sinne der
bundesgerichtlichen Definition zu.

    b) Die Gemeinde Horgen anerkennt denn auch, dass sie gemäss § 116
GG nicht befugt sei, die Festsetzung des kommunalen Gesamtplans bzw. der
Teilrichtpläne sowie der Bau- und Zonenordnung und des Erschliessungsplanes
der direkten Urnenabstimmung zu unterwerfen. Hingegen macht sie
geltend, dass die §§ 32, 88 Abs. 1 und 95 des zürcherischen Gesetzes
über die Raumplanung und das öffentliche Baurecht vom 7. September
1975 (Planungs- und Baugesetz - PBG) ihr die Möglichkeit einräumten,
die Grunderlasse der Ortsplanung der obligatorischen Urnenabstimmung
zu unterbreiten. Nach diesen Bestimmungen des PBG werden der kommunale
Gesamtplan, die Bau- und Zonenordnungen sowie der Erschliessungsplan
"je nach der Gemeindeordnung von der Gemeindeversammlung, vom Grossen
Gemeinderat oder durch Urnenabstimmung" festgesetzt. Die Beschwerdeführerin
ist der Ansicht, die genannten Vorschriften stünden im Widerspruch zu § 116
GG. Nach dem Grundsatz, dass in einem solchen Falle das spezielle Gesetz
dem allgemeinen bzw. das jüngere Gesetz dem älteren vorgehe, durchbreche
die im PBG für die Festsetzung der Planungsinstrumente vorgesehene
Möglichkeit der Urnenabstimmung die allgemeine Beschränkung des § 116 GG.

    Der Regierungsrat stellte im angefochtenen Entscheid fest,
die Kompetenzregelung im PBG wolle lediglich die Mitwirkung der
Stimmberechtigten bzw. ihrer Vertreter im Grossen Gemeinderat
sicherstellen und damit verhindern, dass grundlegende Beschlüsse der
Ortsplanung an die Behörden delegiert würden. Sowohl aus dem Wortlaut
der §§ 32 und 88 Abs. 1 PBG wie auch aus den Materialien zu diesem
Gesetz lasse sich schliessen, dass nicht die Absicht bestanden habe,
für die Kompetenzen im Planungsrecht eine Sonderregelung zu treffen,
welche dem Gemeindegesetz vorgehe und die Vorschriften der §§ 116
und 117 GG über die Organisation mit Urnenabstimmung durchbreche.
Nach wie vor gelte, dass in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern in
Gemeindeangelegenheiten keine Urnenabstimmung stattfinde. In Gemeinden
mit mehr als 2000 Einwohnern müsse die Gemeindeordnung und könnten
Ausgabenbeschlüsse der direkten Urnenabstimmung unterstellt werden. Alle
übrigen Geschäfte, für welche die Stimmberechtigten zuständig seien,
würden von der Gemeindeversammlung behandelt und könnten lediglich auf
dem Weg der nachträglichen Urnenabstimmung diesem Verfahren unterworfen
werden. Nur die Gemeinden mit Grossem Gemeinderat hätten gestützt auf §
91 Ziff. 3 GG die Möglichkeit, in ihrer Gemeindeordnung eine direkte
Urnenabstimmung für die Grunderlasse der Ortsplanung vorzuschreiben.

    Dass der Regierungsrat die von der Beschwerdeführerin angerufenen
Bestimmungen des PBG in einer unhaltbaren Weise ausgelegt habe,
kann nicht gesagt werden. Es lässt sich mit Grund die Auffassung
vertreten, der in den §§ 32 und 88 Abs. 1 PBG enthaltene Hinweis auf die
Gemeindeversammlung, den Grossen Gemeinderat und die Urnenabstimmung
sei lediglich in dem Sinne zu verstehen, dass der Gesetzgeber mit
Rücksicht auf die grosse Bedeutung der Planungsgrundlagen für deren
Festsetzung die Mitwirkung der Stimmberechtigten bzw. ihrer Vertreter
im Grossen Gemeinderat habe sicherstellen und damit eine allfällige
Kompetenzübertragung an eine Verwaltungsbehörde habe ausschliessen
wollen. Ginge man mit der Beschwerdeführerin davon aus, die Gemeinden
könnten auf Grund der §§ 32, 88 Abs. 1 und 95 PBG frei entscheiden,
ob die Grunderlasse der Ortsplanung durch die Gemeindeversammlung,
den Grossen Gemeinderat oder durch Urnenabstimmung festzusetzen seien,
so wären die mehr als 2000 Einwohner, aber kein Gemeindeparlament
aufweisenden Gemeinden befugt, ihre Planungserlasse der obligatorischen
Urnenabstimmung zu unterbreiten, obgleich sie diese nach § 116 GG nur
für Ausgabenbeschlüsse einführen können, und selbst die Gemeinden mit
weniger als 2000 Einwohnern, denen gemäss § 116 GG die Einführung der
Urnenabstimmung in Gemeindeangelegenheiten nicht gestattet ist, könnten
ihre Planungsgrundlagen der direkten Urnenabstimmung unterstellen. Hätte
der zürcherische Gesetzgeber den erwähnten Bestimmungen des PBG tatsächlich
diesen von der Beschwerdeführerin behaupteten Sinn beilegen wollen,
so hätte er - wie ohne Willkür angenommen werden kann - das Gesetz über
das Gemeindewesen dementsprechend abgeändert. Das GG wird aber unter dem
2. Abschnitt des VII. Titels des PBG, wo sämtliche mit dem Inkrafttreten
des PBG erforderlichen Aufhebungen und Änderungen des bisherigen Rechts
angegeben sind, nicht erwähnt. Der Regierungsrat verstiess nach dem
Gesagten nicht gegen das Willkürverbot, wenn er die Ansicht vertrat, dass
die §§ 32, 88 Abs. 1 und 95 PBG keine Änderung des § 116 GG bewirkten. Da
diese Vorschrift die Materien abschliessend aufzählt, welche in den
mehr als 2000 Einwohner, aber keinen Grossen Gemeinderat aufweisenden
Gemeinden der direkten Urnenabstimmung unterstellt werden können, steht
der Gemeinde Horgen in der streitigen Frage keine Autonomie zu, und die
staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb abzuweisen.