Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 31



103 Ia 31

7. Auszug aus dem Urteil vom 30. März 1977 i.S.
Stockwerkeigentümergemeinschaft Schwanensee gegen Einwohnergemeinde
Engelberg und Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden Regeste

    Art. 4 und 22ter BV: Kanalisationsanschlussgebühr.

    1. Legitimation der Stockwerkeigentümergemeinschaft zur
staatsrechtlichen Beschwerde (E. 1c).

    2. Das Bundesgericht nimmt keine Substitution der Begründung vor,
wenn der dafür erhebliche Sachverhalt im kantonalen Verfahren nicht
beweismässig festgestellt wurde (E. 3a).

    3. Stehen dem unentgeltlichen Kanalisationsanschlussrecht
gleichwertige Leistungen des Pflichtigen gegenüber, liegt kein
Abgabevergünstigungsvertrag vor. Verhältnis des Vertrages zu einem später
erlassenen Kanalisationsreglement (E. 2).

    4. Welche Auswirkungen haben veränderte tatsächliche Verhältnisse
auf den Bestand öffentlich-rechtlicher Verträge? (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Am 27. Oktober 1953 und am 14. Januar 1955 schloss Otto Bolli
sel., Baumeister und Eigentümer der Parzellen Nr. 135, 378 und 379 in
Engelberg, mit der Einwohnergemeinde Engelberg zwei Verträge. Otto Bolli
verpflichtete sich, eine Kanalisationsleitung zu erstellen und einen
Drittel der Kosten selber zu übernehmen, der Gemeinde ein unentgeltliches
Kanalisationsdurchleitungsrecht durch die Parzelle Nr. 135 einzuräumen,
sowie 1600 m2 Land zur Erstellung einer Gemeindestrasse (Strassenparzelle
Nr. 806) unentgeltlich abzutreten. Als Gegenleistung sollten die
Parzellen Nr. 135 und 378 von den Kanalisationsanschlussgebühren befreit
sein. Für den Fall, dass einzelne Grundstücke von den beiden Parzellen
abgetrennt würden, sollte die Gebührenbefreiung auch für diese gelten. Das
unentgeltliche Kanalisationsanschlussrecht wurde als Dienstbarkeit zu
Gunsten der Parzellen Nr. 135 und 378 und zu Lasten der Strassenparzelle
Nr. 806 ins Grundbuch eingetragen.

    In der Folge wurde eine Parzelle (neu Nr. 1203) im Halte von 1093 m2
aus den Grundparzellen Nr. 135 oder 378 herausgelöst und am 25. August
1967 die Baubewilligung zur Erstellung einer Stockwerkbaute erteilt. Der
Anschluss dieser Parzelle an die Kanalisation erfolgte 1967/8. Spätestens
seit dem 11. September 1970 befindet sich die Parzelle Nr. 1203 im
Eigentum der Stockwerkeigentümergemeinschaft Schwanensee. Unter diesem
Datum liegt ein Auszug aus dem Grundbuch bei den Akten, welcher zu
Gunsten dieser Parzelle und zu Lasten der Parzelle "umschr. D. 410" -
offenbar handelt es sich um die frühere Strassenparzelle Nr. 806 - ein
unentgeltliches Kanalisationsanschlussrecht enthält.

    Am 30. Juli 1974 veranlagte die Einwohnergemeinde Engelberg
die Stockwerkeigentümergemeinschaft Schwanensee für eine
Kanalisationsanschlussgebühr von Fr. 33'039.60. Auf Beschwerde der
Stockwerkeigentümergemeinschaft Schwanensee ermässigte der Regierungsrat
die Gebühr um Fr. 6'400.-- und setzte sie neu auf Fr. 26'639.60 fest. Die
gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Obwalden mit Urteil vom 1. September 1976 ab, soweit es auf
sie eintrat.

    Die Stockwerkeigentümergemeinschaft Schwanensee führt gegen
dieses Urteil staatsrechtliche Beschwerde; sie rügt eine Verletzung
der Eigentumsgarantie und Willkür. Das Verwaltungsgericht und die
Einwohnergemeinde Engelberg beantragen Abweisung der Beschwerde, letztere,
soweit darauf einzutreten sei.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- c) Nach Art. 712 l Abs. 2 ZGB kann die Gemeinschaft der
Stockwerkeigentümer unter ihrem Namen klagen und betreiben sowie
am Orte der gelegenen Sache beklagt und betrieben werden. Sie muss
grundsätzlich auch zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert sein. Da
die Stockwerkeigentümergemeinschaft Schwanensee durch das Urteil des
Verwaltungsgerichts in ihren Rechten getroffen wird (Art. 88 OG), ist
sie zur Beschwerdeführung legitimiert.

Erwägung 2

    2.- Nach übereinstimmender Auffassung der Parteien und des
Verwaltungsgerichts kamen die Vereinbarungen zwischen Otto Bolli und der
Einwohnergemeinde Engelberg vom 27. Oktober 1953 und vom 14. Januar 1955
rechtsgültig zustande. Unbestritten ist auch, dass das als Dienstbarkeit
zu Gunsten der Parzelle Nr. 1203 der Beschwerdeführerin und zu Lasten der
Strassenparzelle der Gemeinde im Grundbuch eingetragene unentgeltliche
Kanalisationsanschlussrecht grundsätzlich Rechtswirksamkeit entfaltet.

    Das Verwaltungsgericht vertritt aber die Rechtsauffassung,
dass das unentgeltliche Anschlussrecht mit Inkrafttreten des
Kanalisationsreglementes der Einwohnergemeinde Engelberg vom 22. Mai
1966 (KR) dahingefallen sei, weil dieses das Rechtsverhältnis zwischen
der Einwohnergemeinde Engelberg und den Anschliessern abschliessend
regle; es bestehe kein Raum mehr für rechtsgeschäftlich vereinbarte
Abweichungen vom Reglement; das Gebot der rechtsgleichen Behandlung der
Rechtsunterworfenen verbiete die Privilegierung einzelner Anschliesser. Die
Beschwerdeführerin sieht in der Nichtbeachtung der dienstbarkeitlich
gesicherten Vereinbarungen eine Verfassungsverletzung.

    a) Die Vereinbarungen zwischen Otto Bolli und der Einwohnergemeinde
Engelberg betreffen unmittelbar die Erfüllung einer öffentliche Aufgabe,
nämlich die Bereitstellung der Gemeindekanalisation und den Bau einer
Gemeindestrasse; sie sind deshalb öffentlich-rechtlicher Natur (BGE 96 I
541 mit Hinweisen). Der Umstand, dass die Vereinbarungen grundbuchlich
gesichert wurden, vermag daran nichts zu ändern; der Rechtsgrund für
Grundbucheinträge kann durchaus öffentlich-rechtlicher Natur sein,
wie die häufigen Beispiele der Begründung von Dienstbarkeiten auf dem
Enteignungsweg zeigen.

    b) Mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass
Abgabepflichtigen Vergünstigungen im Grundsatz nur gewährt werden
dürfen, wenn und soweit der betreffende Abgabeerlass es zulässt,
denn Rechtsgeschäfte öffentlich-rechtlicher Natur sind nur möglich
und gültig, soweit das Gesetz für sie Raum lässt (BGE 86 II 78;
IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung I, S. 281/2,
387). Abgabevergünstigung bedeutet dabei, dass einem Abgabepflichtigen
eine von der gesetzlichen Regelung abweichende Sonderbehandlung gewährt
wird, die ihm wirtschaftliche Vorteile bringt. Keine eigentlichen
Abgabevergünstigungsverträge bilden deshalb die häufig vorkommenden
Abmachungen über Strassenbeiträge oder Erschliessungsgebühren, sofern
der Grundeigentümer Vorland für eine Strassenerweiterung unentgeltlich
oder zu einem wesentlich unter dem Enteignungswert liegenden Preis
abtritt und dafür keine Anstösserbeiträge zu entrichten hat (IMBODEN,
Der verwaltungsrechtliche Vertrag, ZSR 77/1958 II S. 188a). Es liegt
kein Verstoss gegen die Rechtsgleichheit vor, wenn im Grunde keine
privilegierende Vergünstigung sondern eine Verrechnung mit einer dem
Abgabebetrag entsprechenden Sach- oder Dienstleistung des Pflichtigen
anzunehmen ist.

    Bei den Vereinbarungen aus dem Jahre 1953 und 1955 handelte
es sich - jedenfalls im Zeitpunkt des Vertragsschlusses -
nicht um Abgabevergünstigungsgeschäfte. Dem unentgeltlichen
Kanalisationsanschlussrecht entsprachen erhebliche Leistungspflichten. Die
vertraglichen Leistungen der Parteien waren offenbar als gleichwertig
betrachtet worden. Die Verträge wurden mit dem Erlass des KR nicht
ungültig; sie hätten auch nach dem Inkrafttreten des KR abgeschlossen
werden dürfen und können daher fortbestehen.

    c) Gültig begründete subjektive öffentliche oder private Rechte
fallen aber selbst dann nicht eo ipso dahin, wenn eine gesetzliche
Regelung geschaffen wird, mit der sie sich nicht vertragen (IMBODEN,
Der verwaltungsrechtliche Vertrag, ZSR 77/1958 II S. 100a ff.; GYGI,
Verwaltungsrecht und Privatrecht, Bern 1956, S. 53 f.; BGE 91 II 342
E. 4a). Selbst wenn es sich um einen seinerzeit gültig begründeten
Abgabevergünstigungsvertrag handeln würde, genösse er den Schutz der
wohlerworbenen Rechte (BGE 94 I 448 mit Hinweisen); der Schutz ist
umsomehr gerechtfertigt, wenn es sich um eine vertragliche Regelung
mit gleichwertigen Leistungen handelt. Es kann dahingestellt bleiben,
ob eine Ablösung dieser Rechte auf dem Weg der formellen Enteignung
stattzufinden hat (IMBODEN, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, ZSR 77/1958
II S. 101a) oder ob die Abgabebefreiung nicht besser oder einfacher
solange weiterdauern soll, als das Recht nach richtiger Auslegung
Geltung beanspruchen kann. Eine Ablösung würde eine formelle Enteignung
voraussetzen und damit grundsätzlich vorgängige Entschädigung bedingen
(BGE 93 I 143; vgl. auch 102 Ib 173). In diesem Fall kann das Recht erst
mit der Festsetzung und Leistung der Entschädigung untergehen. Nach diesen
Ausführungen ist die vom Verwaltungsgericht vorgetragene Begründung seines
Urteils nicht haltbar. Das gültig begründete Rechtsverhältnis ist mit
dem Inkrafttreten des KR nicht eo ipso untergegangen.

Erwägung 3

    3.- Die Einwohnergemeinde Engelberg hatte bereits im kantonalen
Verfahren ausgeführt und macht auch in ihrer Vernehmlassung an das
Bundesgericht geltend, die kommunale Leistung des Jahres 1955 habe im
Bau von zwei Abwasserkanälen (I und II) bestanden. Das unentgeltliche
Anschlussrecht an diese beiden Kanäle sei als Entgelt für die Abtretung
des Landstücks, für die Einräumung des unentgeltlichen Durchleitungsrechts
sowie für die Übernahme eines Drittels der Baukosten des durch Otto Bolli
errichteten Abwasserkanals zu betrachten. Kanal II, der die ungereinigten
Abwässer in den Erlenbach abgeleitet habe, sei aus gewässerpolizeilichen
Gründen längst aufgehoben worden, so dass diesbezüglich die Vereinbarung
und die Dienstbarkeit gegenstandslos geworden seien. Diese bezögen
sich nur noch auf Kanal I, wie er vor 20 Jahren gebaut worden sei.
Kanal I führe aber heute nur mehr in den neuerstellten Kanal 85 - 85a
- 85b, welcher die Abwässer durch die Klosterstrasse in die zentrale
Abwasserreinigungsanlage leite. Nach einem Kanalisationsreglementsentwurf,
der jedoch nie in Kraft getreten sei, hätte nach Auffassung der Gemeinde
Engelberg die Anschlussgebühr an den vor 20 Jahren erstellten Kanal
Fr. 6'400.-- betragen. Dieser Betrag sei von der in Rechnung gestellten
Anschlussgebühr von Fr. 33'039.60 in Abzug gebracht und die Gebühr
somit auf Fr. 26'639.60 festgesetzt worden. Im übrigen werde durch die
Überbauung mit Stockwerkeinheiten eine viel grössere Abwassermenge in
das Kanalisationsnetz eingeführt, als im Jahre 1955 vorauszusehen gewesen
sei. Es sei aber nie der Wille der Parteien gewesen, für alle Zeiten und
ungeachtet der künftigen Entwicklung eine Gebührenfreiheit zu vereinbaren.

    a) Das angefochtene Urteil enthält keine urteilsmässigen Feststellungen
darüber, wie das Abwasser mittels der anscheinend vor rund 20 Jahren
erstellten Kanalisationen aus den Liegenschaften des Otto Bolli abgeleitet
wurde und wie das nun mit den Abwässern der Stockwerksbaute geschieht. Ob
die Darstellung der Einwohnergemeinde Engelberg zutrifft, dass der Kanal
II - nach den Plänen zu schliessen der Hauptkanal - nicht mehr existiert,
kann dem kantonalen Urteil nicht entnommen werden. Ebensowenig kann
als bewiesener Sachverhalt gelten, dass der von Otto Bolli erstellte
Zuleitungskanal I nunmehr in einen neuen Kanal führt, welcher die
Abwässer in die Reinigungsanlage leitet. Ferner kann nicht als erwiesen
gelten, dass die Abwasserreinigungsanlage gebaut und in Betrieb ist. Wenn
Sachverhaltsfeststellungen im Urteil des Verwaltungsgerichts weitgehend
fehlen, kann es nicht Sache des Bundesgerichts als Kassationsbehörde
sein, den Tatbestand für eine möglicherweise substituierbare Begründung
beweismässig abzuklären, wie gross auch die Wahrscheinlichkeit ist,
dass die Ausführungen der Gemeinde richtig sind (vgl. Art. 2-6 KR;
BGE 96 I 528).

    b) Sollte sich der Sachverhalt, wie er von der Gemeinde
dargestellt wird, als richtig erweisen, wären die öffentlichrechtlichen
Vereinbarungen von 1953 und 1955 auf die Frage hin auszulegen, ob sich
die übereinstimmende gegenseitige Willensäusserung der Parteien nur auf
die damals bestehenden und geplanten Verhältnisse bezog oder ob die
zukünftige Entwicklung im verwirklichten Umfang berücksichtigt wurde
und werden konnte. Es wäre auf Grund einer sorgfältigen Auslegung der
Vereinbarungen und unter Anwendung der Regeln über die clausula rebus sic
stantibus zu entscheiden, ob sich eine Änderung oder Aufhebung der Verträge
rechtfertige (vgl. dazu auch GRÄTZER, Die clausula rebus sic stantibus
beim öffentlich-rechtlichen Vertrag, Diss. Zürich 1953, insb. S. 84 ff.).

    Jedenfalls ist die staatsrechtliche Beschwerde insoweit unbegründet,
als sie annimmt, dass wegen des vor mehr als 20 Jahren begründeten
unentgeltlichen Anschlussrechts unter allen Umständen ausgeschlossen
sei, dass die Beschwerdeführerin mit Anschlussgebühren belastet werden
dürfe. Auch ein im Grundbuch eingetragenes unentgeltliches Anschlussrecht
vermag veränderten Verhältnissen nicht in jedem Fall zu widerstehen.