Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 137



103 Ia 137

27. Auszug aus dem Urteil vom 13. Juli 1977 i.S. Ineichen und Konsorten
gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör im Strafprozess.

    In welchen Fällen muss dem Angeschuldigten nach der Aufhebung eines
kantonalen Strafurteils durch das Bundesgericht vor der Neubeurteilung
Gelegenheit zur Äusserung gegeben werden?

Sachverhalt

    A.- Am 11. Mai 1976 verurteilte das Obergericht des Kantons Luzern
als Appellationsinstanz Hans Ineichen, Jürg Bucher, Werner Jappert und
Jakob Kunz wegen verschiedener Delikte zu Freiheitsstrafen zwischen 6
Monaten Gefängnis und 2 1/2 Jahren Zuchthaus sowie zu Bussen zwischen
Fr. 500.-- und 500'000.--. Das Bundesgericht hob dieses Urteil auf
Nichtigkeitsbeschwerde hin auf (BGE 103 IV 27 ff.) und wies die Sache
zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen zurück. Den Erwägungen ist zu
entnehmen, dass das Bundesgericht den Schuldspruch hinsichtlich mehrerer
Delikte aufhob und die Strafzumessung aus verschiedenen Gründen der Kritik
unterzog. Am 30. März 1977 fällte das Obergericht des Kantons Luzern ein
neues Urteil und setzte die Freiheitsstrafen zwischen 6 Monaten Gefängnis
und zwei Jahren Zuchthaus und die Bussen zwischen Fr. 300.-- und 300'000.--
fest. Gegen diesen Entscheid führen die vier Verurteilten staatsrechtliche
Beschwerde, im wesentlichen mit der Begründung, das Obergericht des
Kantons Luzern habe nach der Rückweisung der Sache neu entschieden,
ohne den Parteien Gelegenheit zu geben, sich an einer Verhandlung zu
den durch das Bundesgericht aufgeworfenen Fragen auszusprechen. Das
Obergericht des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerden abzuweisen,
die Staatsanwaltschaft, sie abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das
Bundesgericht heisst die Beschwerden gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst
durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Wo sich dieser
kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung
des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein
bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten. Ob der
unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt
ist, prüft das Bundesgericht frei (BGE 101 Ia 170; 98 Ia 6, 131; 96 I 620).

    b) Die Beschwerdeführer stützen sich zunächst auf kantonales Recht. Sie
machen geltend, gemäss § 240 Abs. 1 in Verbindung mit § 168 StPO dürfe
ein Appellationsurteil nur auf Grund einer öffentlichen Verhandlung
gefällt werden. Dem halten das Obergericht und die Staatsanwaltschaft
im wesentlichen entgegen, das Bundesgericht habe nicht Verfahrensmängel
gerügt, sondern lediglich bestimmte Tatbestände als nicht erfüllt
betrachtet. Demnach behalte die bereits durchgeführte Berufungsverhandlung
ihre Gültigkeit; zu wiederholen sei nur die Urteilsberatung gewesen,
die nach gesetzlicher Vorschrift (§ 181 Abs. 1 StPO) geheim sei.

    Es trifft zu, dass nach den angeführten Bestimmungen der
Strafprozessordnung des Kantons Luzern die Verhandlungen in Strafprozessen
vor Obergericht ebenso wie vor der ersten Instanz öffentlich sind. Es
ist aber unbestritten, dass vor Ausfällung des durch das Bundesgericht
aufgehobenen Urteils eine öffentliche Hauptverhandlung durchgeführt
wurde, so dass § 168 StPO nicht verletzt ist. Aus dieser Bestimmung ist,
entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer, nicht abzuleiten, dass
ein Urteil nur unmittelbar im Anschluss an eine öffentliche Verhandlung
gefällt werden darf. Das Gesetz enthält keine entsprechende Vorschrift,
und es lässt insbesondere auch die Frage offen, ob nach der Aufhebung
eines Strafurteils durch das Bundesgericht vor der Ausfällung eines neuen
Urteils die Hauptverhandlung wiederholt werden muss. Eine Verletzung des
luzernischen Strafprozessrechtes liegt deshalb nicht vor.

    c) Weiter ist zu prüfen, ob den Beschwerdeführern kraft Bundesrechts
ein Anspruch auf eine neue Verhandlung vor Obergericht zugestanden
habe. Es liegt nahe, eine diesbezügliche Bestimmung im Bundesgesetz über
die Bundesstrafrechtspflege (BStP) zu suchen, das besondere Bestimmungen
enthält für Bundesstrafsachen, die von kantonalen Behörden zu beurteilen
sind. Indessen sagt Art. 277ter BStP lediglich, wenn der Kassationshof
des Bundesgerichtes die Beschwerde im Strafpunkt für begründet halte,
so hebe er den angefochtenen Entscheid auf und weise die Sache zu neuer
Entscheidung an die kantonale Behörde zurück, die ihrer Entscheidung die
rechtliche Begründung der Kassation zugrunde zu legen habe. Darüber,
wie das kantonale Verfahren nach der Rückweisung auszugestalten sei,
enthält das Bundesstrafprozessrecht keine Vorschrift.

    d) Schliesslich stellt sich die Frage, ob die unmittelbar aus Art. 4
BV abgeleiteten Verfahrensregeln verletzt worden sind. Diese verfolgen
im Strafprozess vor allem den Zweck, die Wahrheitsfindung und die
Verwirklichung des materiellen Strafrechts in einer Weise herbeizuführen,
die den Angeschuldigten gegen die Gefahr staatlichen Machtmissbrauchs
und gegen die Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte schützt (BGE
101 Ia 170 E. 1 mit Hinweisen). Zu den fundamentalen, durch Art. 4 BV
gewährleisteten Verteidigungsrechten gehört insbesondere das Recht des
Angeschuldigten, sich zu allen wesentlichen Anklagepunkten zu äussern,
namentlich auch zur Strafzumessung (BGE 101 Ia 296 E. 1d; 97 I 617 mit
Hinweisen).

    Der Zweck des Anspruchs auf rechtliches Gehör legt nahe, je nach dem
Inhalt des Rückweisungsentscheides des Bundesgerichts verschiedene Lösungen
zuzulassen. So erscheint eine neue Verhandlung vor der kantonalen Instanz
von Bundesrechts wegen nicht als erforderlich, wenn die Erwägungen des
Rückweisungsentscheides eindeutige, verbindliche Weisungen enthalten,
die der kantonalen Instanz im Strafpunkt keinen Ermessensspielraum mehr
lassen, wie z.B. bei Rückweisung zur Freisprechung des Angeschuldigten
oder zur Verweigerung des bedingten Strafvollzuges. Einen Grenzfall
stellt die Rückweisung zur Gewährung des bedingten Strafvollzuges dar. Es
lässt sich die Auffassung vertreten, dass jedenfalls dann eine Verhandlung
anzusetzen sei, wenn das kantonale Gericht eine längere als die gesetzliche
Mindestprobezeit anzusetzen beabsichtigt, doch braucht diese Frage hier
nicht entschieden zu werden. Beurteilt jedoch der Kassationshof die
Sache im Schuldpunkt anders als die kantonale Instanz, so liegt eine neue
Sachlage vor, die es erforderlich macht, dem Angeschuldigten Gelegenheit zu
geben, sich nochmals zur Strafzumessung, zur Frage des bedingten Vollzuges
und zu allfällig in Betracht fallenden Massnahmen zu äussern. So hat das
Bundesgericht in BGE 101 Ia 170 ein Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern aufgehoben, weil dieses den Angeschuldigten, nachdem es ihn in
einem ersten Entscheid freigesprochen hatte, in Befolgung einer vom
Kassationshof des Bundesgerichts erteilten Weisung der Übertretung von
Strassenverkehrsvorschriften schuldig befunden hatte, ohne ihm vorher
Gelegenheit zu geben, sich zum Schuldpunkt zu äussern. In erhöhtem Masse
gilt dies, wenn nicht nur der Schuldpunkt neu zu beurteilen ist, sondern -
wie auch im zu beurteilenden Fall - ebenso die Strafzumessung auf Grund
bloss genereller Richtlinien des Bundesgerichts neu zu erfolgen hat,
also wiederum ein Ermessensentscheid zu treffen ist.

    Dem Standpunkt des Obergerichtes und der Staatsanwaltschaft, wonach die
Gelegenheit zu einer Stellungnahme schon vor dem ersten kantonalen Urteil
bestanden habe, kann deshalb nicht beigepflichtet werden, weil sich die
persönlichen Verhältnisse des Angeschuldigten in der Zwischenzeit in einer
für die Strafzumessung erheblichen Weise verändert haben können. So ist es
möglich, dass der Angeklagte erkrankt ist, dass er - was bei Geldbussen in
Betracht fällt - erhebliche finanzielle Verluste erlitten hat oder dass er
tätige Reue bekundet, insbesondere bei Vermögensdelikten den gestifteten
Schaden ganz oder teilweise wieder gutgemacht hat. Die Beispiele liessen
sich vermehren. Wird das neue Urteil ohne Anhörung des Angeschuldigten
gefällt, so entgeht ihm die Möglichkeit, Strafmilderungs- oder
Herabsetzungsgründe dieser Art dem Richter vorzutragen. Das Urteil ergeht
somit nicht in voller Kenntnis der zur Zeit seiner Fällung massgebenden
Tatsachen, was dem Sinn des Strafrechts widerspricht. Ob im vorliegenden
Falle neue Tatsachen der erwähnten Art hätten vorgebracht werden können,
ist angesichts der formellen Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör
nicht zu untersuchen (BGE 101 Ia 303; 100 Ia 10 mit Hinweisen).

    Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht berufen sich zur
Stützung ihrer Gegenmeinung auf ein nicht veröffentlichtes Urteil des
Bundesgerichts i.S. A. vom 28. Juni 1974. Dort war der Angeschuldigte
in einem ersten Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern zu einer
Freiheitsstrafe und zu den Verfahrenskosten verurteilt worden. Zugleich
verfügte das Obergericht die Einziehung mehrerer unechter Gemälde. Der
Angeklagte erhob staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verurteilung und die
Kosten, nicht aber gegen die Einziehung der Gemälde. Nach der teilweisen
Gutheissung der Beschwerde durch das Bundesgericht wegen willkürlicher
Beweiswürdigung wurde der Angeschuldigte im zweiten kantonalen
Verfahren zwar freigesprochen, jedoch wurde die Einziehung der unechten
Gemälde bestätigt und dem Angeschuldigten ein Teil der Verfahrenskosten
auferlegt. Das Obergericht musste damals nicht notwendigerweise eine zweite
Hauptverhandlung durchführen, wie das Bundesgericht auf staatsrechtliche
Beschwerde hin entschied. Soweit der Angeschuldigte freigesprochen wurde,
war er nicht mehr beschwert, weshalb ein Anspruch auf rechtliches Gehör in
diesem Punkt ohnehin nicht bestand. Was die Einziehungsverfügung der Bilder
betrifft, handelte es sich im wesentlichen um die Bestätigung des ersten,
vom Angeschuldigten in diesem Punkt nicht angefochtenen und deshalb vom
Bundesgericht nicht aufgehobenen Urteils, weshalb das Obergericht auf Grund
des Kassationsentscheides keine Veranlassung hatte, den Angeschuldigten
diesbezüglich nochmals anzuhören. Und was schliesslich die Kostenfrage
betrifft, zu der sich der Angeschuldigte schon im ersten kantonalen
Verfahren äussern konnte, genügt diese allein nicht, um eine neue,
wiederum Kosten verursachende Verhandlung zu rechtfertigen. Aus diesem
Entscheid lässt sich deshalb für den hier zu beurteilenden Sachverhalt
nichts ableiten.

    Es ist somit festzustellen, dass das Obergericht durch sein Vorgehen
im vorliegenden Falle den unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Anspruch
der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör verletzt hat, was die Aufhebung
des angefochtenen Urteils zur Folge hat.