Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 103 IA 1



103 Ia 1

1. Urteil vom 25. Januar 1977 i.S. X. gegen Instruktionsrichter des
Appellationsgerichts Basel-Stadt Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltlicher Rechtsbeistand im Strafverfahren.

    Unhaltbare Auslegung einer kantonalrechtlichen Bestimmung betreffend
die Beiordnung eines Offizialverteidigers (E. 1).

    Unmittelbar aus Art. 4 BV ergibt sich - unbekümmert um die Frage
der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Straffalles -
im allgemeinen schon dann ein Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung,
wenn der Angeklagte mit einer Strafe zu rechnen hat, für welche wegen
ihrer Höhe die Gewährung des bedingten Vollzuges ausgeschlossen ist (E. 2).

Sachverhalt

    A.- X. ist einer der Hauptangeklagten in einem bedeutenden
Strafprozess, der vor dem Basler Strafgericht durchgeführt wurde. Er
wurde mit Urteil vom 3. Dezember 1975 des betrügerischen Konkurses, der
Urkundenfälschung und des wiederholten Betruges schuldig erklärt und
mit zwei Jahren Gefängnis bestraft (unter Einrechnung der vom 4. März
bis 24. Oktober 1968 erstandenen Sicherheitshaft). X. appellierte neben
andern Angeklagten gegen das Urteil. Er ist finanziell nicht in der Lage,
die Kosten der Verteidigung selbst aufzubringen. Im Verfahren vor dem
Strafgericht hatte er auf die Beiordnung eines Offizialverteidigers
verzichtet. Wie aus den Akten zu schliessen ist, stellte er am
27. Mai 1976 das Begehren, es sei ihm für das Appellationsverfahren
ein Offizialverteidiger zu bestellen. Der Instruktionsrichter des
Appellationsgerichtes wies das Begehren am 6. Dezember 1976 ab.

    Gegen diese Verfügung reichte X. am 3. Januar 1977 gestützt auf
Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde ein. Der Instruktionsrichter
des Appellationsgerichts verzichtete unter Hinweis auf eine ergänzende
Verfügung vom 9. Dezember 1976 auf eine Beschwerdeantwort. Am 9. Dezember
hatte er verfügt, das Gesuch um Beigabe eines Offizialverteidigers
sei gemäss § 10 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt (StPO)
abgewiesen worden, weil eine Strafe von mehr als fünf Jahren Zuchthaus
nie in Frage gekommen sei, weil kein Antrag auf Verwahrung gemäss Art. 42
des schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) gestellt worden sei und
weil schliesslich die Sach- und Rechtslage im Appellationsverfahren
nicht mehr besonders verwickelt sei und der Appellant seine Interessen
zum mindesten gleich gut vertreten könne wie vor erster Instanz, wo er
auf einen Offizialverteidiger ausdrücklich verzichtet habe.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- In der ergänzenden Verfügung des Instruktionsrichters vom
9. Dezember 1976 wird die nicht motivierte Verfügung vom 6. Dezember
bestätigt und begründet. Einer gesonderten Anfechtung dieser zweiten
Verfügung bedurfte es nicht.

    Das Appellationsgericht teilte dem Bundesgericht mit, dass es
die umfangreichen Strafakten zur Zeit selbst benötige. Wegen der
zeitlichen Dringlichkeit muss die Beschwerde auf Grund der vorhandenen,
unvollständigen Unterlagen entschieden werden.

    Es steht ausser Zweifel, dass der Beschwerdeführer nicht in der
Lage ist, die Kosten eines Verteidigers selber zu übernehmen. Der
Instruktionsrichter hat das in der angefochtenen Verfügung, vor allem
aber in der Verfügung vom 9. Dezember 1976 implizite anerkannt.

    Ob ein unbemittelter Angeklagter Anspruch auf unentgeltliche
Verteidigung hat, bestimmt sich zunächst nach den Vorschriften des
kantonalen Rechts. Nur wenn dieses keine Vorschriften enthält oder die
bestehenden Normen nicht genügen, um dem Bürger die wirksame Wahrung
seiner Rechte im Prozess zu sichern, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV
hergeleiteten Regeln ein, die dem Bürger ein Mindestmass an Rechtsschutz
und damit an Verteidigungsmöglichkeiten gewährleisten (AUBERT, Traité de
droit constitutionnel suisse, II, S. 653 mit Hinweis). Die Anwendung des
kantonalen Gesetzesrechts kann das Bundesgericht als Staatsgerichtshof
nur auf Willkür hin überprüfen. Steht dagegen der unmittelbar aus Art. 4
BV hergeleitete Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege in Frage (bei
Ungenügen des kantonalen Rechts), dann steht dem Bundesgericht freie
rechtliche Prüfungsbefugnis zu.

    Der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Verfahren vor
dem Strafgericht auf die Beiordnung eines Offizialverteidigers
verzichtet hatte, hinderte ihn nicht daran, ein solches Begehren
für das Appellationsverfahren zu stellen. Die StPO sieht diese
Möglichkeit ausdrücklich vor (§ 10 Abs. 4). Es ist denn auch nicht
rechtsmissbräuchlich, erst im Appellationsverfahren einen amtlichen
Verteidiger zu verlangen. Ein Angeklagter kann sehr wohl zunächst
annehmen, er könne sich selber genügend verteidigen, und erst nach der
erstinstanzlichen Verhandlung und Beurteilung zur Überzeugung gelangen,
dass er des Beistands eines Verteidigers bedürfe. Wenn ein Angeklagter
die Beiordnung eines Offizialverteidigers erst im Appellationsverfahren
verlangt, hat er nach der StPO keinen Anspruch auf Verschiebung der
Hauptverhandlung. Der Sinn der Vorschrift ist offenbar der, dass
das Begehren nach Möglichkeit so rechtzeitig zu stellen ist, dass ein
Offizialverteidiger bestellt werden kann, ohne dass wegen der Mitwirkung
des Verteidigers die Hauptverhandlung verschoben werden müsste. Aus
dem angefochtenen Entscheid vom 6. Dezember 1976 ist zu schliessen,
dass der Beschwerdeführer das Begehren schon im Mai 1976 gestellt hatte,
zu einem Zeitpunkt, da die Appellationsverhandlung vermutlich noch gar
nicht angesetzt war. Selbst wenn der Beschwerdeführer das Begehren erst
relativ kurze Zeit vor dem 6. Dezember gestellt hätte, hätte sich, wie
füglich angenommen werden darf, die Verteidigung noch organisieren lassen,
ohne dass die Verschiebung der Verhandlung vom 2. Februar 1977 vonnöten
gewesen wäre.

    § 10 StPO nennt alternativ die Voraussetzungen, unter denen dem
"unvermögenden", d.h. unbemittelten Angeschuldigten ein Advokat als
Verteidiger beizugeben ist. Das ist einmal der Fall, wenn Verwahrung
nach Art. 42 StGB in Frage kommt, welche Voraussetzung hier klarerweise
nicht erfüllt ist. Ferner ist dem Angeschuldigten ein Offizialverteidiger
zu bestellen, "sofern der gesetzliche Strafrahmen eine Höchststrafe von
fünf Jahren Zuchthaus überschreitet". Der Instruktionsrichter führte in
der Begründung seiner ergänzenden Verfügung vom 9. Dezember 1976 aus, eine
Strafe von mehr als fünf Jahren Zuchthaus sei nie in Frage gekommen. Da die
StPO auf den gesetzlichen Strafrahmen verweist, kommt es indes wohl nicht
darauf an, ob im konkreten Fall voraussichtlich eine Strafe von mehr als
fünf Jahren Zuchthaus ausgesprochen wird. Da die StPO auf den gesetzlichen
Strafrahmen abstellt, wäre zu berücksichtigen, dass die Straftaten,
welche das Strafgericht dem Beschwerdeführer zur Last legte, alle mit
Zuchthaus bis zu fünf Jahren als Höchststrafe bedroht sind (Art. 148, 163,
251 StGB). Man kann sich fragen, ob nicht im Hinblick auf Art. 68 StGB
anzunehmen wäre, der gesetzliche Strafrahmen aller Delikte überschreite die
Grenze von fünf Jahren Zuchthaus. Die Frage kann indessen offen bleiben.

    Nach § 10 Abs. 3 lit. c StPO ist einem unbemittelten Angeschuldigten
"bei verwickelter Sach- oder Rechtslage" ein amtlicher Verteidiger
beizugeben. Es erscheint als sachlich nicht mehr vertretbar, dass der
Instruktionsrichter diese Voraussetzung als nicht erfüllt betrachtete mit
der Begründung, "Sach- und Rechtslage seien im Appellationsverfahren nicht
mehr besonders verwickelt". Es ist zwar einzuräumen, dass manche Sach-
und Rechtsfragen durch das Urteil des Strafgerichts geklärt worden sein
mögen. Die immerhin 278 Seiten umfassende Urteilsbegründung zeigt indessen,
dass es sich nach wie vor um einen verwickelten Sachverhalt handelt. Der
Umstand, dass die Urteilsmotive mit graphischen Darstellungen ergänzt
wurden, drängt den Schluss auf, dass es sich um schwer überblickbare
Verhältnisse handelt, wie das bei Wirtschaftsdelikten der fraglichen Art
meist der Fall ist. Wie die Angeklagten an den Taten, die Gegenstand des
Strafverfahrens bilden, beteiligt waren, ist zum Teil umstritten, und
es stellen sich Rechtsfragen, die keineswegs einfach sind. Unter diesen
Umständen lässt sich die Auffassung, Sach- und Rechtslage seien nicht oder"
nicht mehr besonders" verwickelt, mit sachlichen Gründen nicht vertreten.

Erwägung 2

    2.- Wäre die Beschwerde nicht schon wegen unhaltbarer Auslegung
des kantonalen Rechts gutzuheissen, so würde sich ein Anspruch auf
unentgeltliche Verteidigung unmittelbar aus Art. 4 BV ergeben. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist dem unbemittelten Angeklagten
die unentgeltliche Verteidigung zu gewähren, wenn es sich nicht um
einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen der Angeklagte
(oder sein gesetzlicher Vertreter) nicht gewachsen ist (BGE 100 Ia
187). Diese Auslegung des Art. 4 BV dürfte auch dem Art. 6 Ziff. 3
lit. c der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechen, wonach der
unbemittelte Angeklagte Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung hat, wenn
dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Der Beschwerdeführer
ist mit zwei Jahren Gefängnis bestraft worden, so dass es sich nicht
um einen Bagatellfall handelt. Der Straffall, dessen Untersuchung Jahre
in Anspruch nahm und dessen Sachverhalt nicht leicht überblickbar ist,
bietet zudem in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung Schwierigkeiten,
denen der Beschwerdeführer als juristischer Laie nicht gewachsen ist. Das
Bundesgericht nahm in einem jüngst ergangenen Urteil sogar an, es bestehe -
unbekümmert um die Frage der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten
- im allgemeinen schon dann ein Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung,
wenn der Angeklagte mit einer Strafe zu rechnen hat, für welche wegen
ihrer Höhe die Gewährung des bedingten Vollzugs ausgeschlossen ist,
was im zu beurteilenden Fall zutrifft (BGE 102 Ia 88 ff.). Es kommt
hinzu, dass der Staatsanwalt am Appellationsverfahren beteiligt zu sein
scheint, was ein zusätzlicher Grund für die Beiordnung eines amtlichen
Verteidigers wäre, da der Beschwerdeführer als (juristischer) Laie Mühe
hat, allenfalls den Argumenten des juristisch geschulten Staatsanwalts
entgegenzutreten (vgl. SCHULTZ, ZBJV 107/1971, S. 340). Nach den dem
Bundesgericht zugänglichen Unterlagen suchen der Beschwerdeführer und
die übrigen Angeklagten sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben; der
Beschwerdeführer bedarf wohl auch unter diesem Gesichtspunkt des Beistands
eines Verteidigers, da die übrigen Angeklagten durch Privatverteidiger
verbeiständet zu sein scheinen. Es ergibt sich aus allem, dass der
Instruktionsrichter Art. 4 BV verletzte, indem er das Gesuch um Beiordnung
eines Offizialverteidigers ablehnte.