Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 73



102 V 73

18. Auszug aus dem Urteil vom 30. April 1976 i.S. Käser gegen KFW
Krankenfürsorge Winterthur und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 12 Abs. 2 KUVG und Art. 21 Vo III. Die intestinale Shunt-Operation
bei Fettleibigkeit ist keine Pflichtleistung.

    Art. 30 KUVG. Pflicht der Kasse, eine bei ihr eingereichte Beschwerde
an das zuständige Versicherungsgericht weiterzuleiten.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Elsa Käser (geb. 1929) ist Mitglied der Krankenfürsorge Winterthur,
Schweizerische Kranken- und Unfallkasse (KFW). Sie liess sich wegen
krankhafter Fettsucht vom 20. Februar bis 7. März 1974 im Spital behandeln
(intestinale Shunt-Operation). Die Kasse vergütete der Versicherten den
von ihr bezahlten Rechnungsbetrag.

    Bei der nachträglichen Überprüfung des Falles stellte die KFW fest,
dass es sich bei der Operation nicht um eine Pflichtleistung handelte,
weshalb sie von der Versicherten mit Verfügung vom 28. Januar 1975
Fr. 1'360.-- zurückforderte und ihr bei Nichtbezahlung den in den
Statuten vorgesehenen Kassenausschluss androhte. Elsa Käser lehnte mit
Schreiben vom 3. Februar 1975 eine Rückerstattungspflicht ab und fügte
bei: "Ihre Rechtsbelehrung vom 28.1.1975 (Ausschluss und Betreibung)
kommt einer Erpressung gleich." Die Kasse hielt am 18. Februar 1975 an
der Rückforderung fest und verwies auf die Verfügung vom 28. Januar 1975.

    Der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Bülach
wies durch Verfügung vom 9. Mai 1975 das Begehren der KFW um Erteilung der
definitiven Rechtsöffnung für Fr. 1'360.-- ab. Zur Begründung führte er
im wesentlichen aus, das Schreiben der Versicherten vom 3. Februar 1975
erfülle die Gültigkeitserfordernisse einer Beschwerde; die Krankenkasse
wäre verpflichtet gewesen, sie an das Versicherungsgericht weiterzuleiten.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich, dem in der Folge
das Schreiben der Versicherten vom 3. Februar 1975 zugeleitet worden war,
nahm zu der von der KFW aufgeworfenen Frage der Rechtskraft der Verfügung
vom 28. Januar 1975 nicht Stellung, sondern betrachtete die Eingabe vom
3. Februar 1975 stillschweigend als Beschwerde und wies sie ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
Elsa Käser, der kantonale Entscheid und die Rückforderungsverfügung vom
28. Januar 1975 seien aufzuheben.

    Die KFW schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung vertritt die Auffassung,
entgegen der Meinung des Rechtsöffnungsrichters sei die Qualifikation
des Schreibens der Versicherten vom 3. Februar 1975 als Beschwerde kaum
vertretbar, weil die Versicherte die in der Verfügung vom 28. Januar
1975 enthaltene Rechtsmittelbelehrung als Erpressung bezeichnet und nicht
den Willen zum Ausdruck gebracht habe, die Verfügung auf dem Rechtswege
anzufechten. In materieller Hinsicht weist das Amt darauf hin, dass
die intestinale Shunt-Operation keineswegs wissenschaftlich anerkannt
sei. Die Eidgenössische Fachkommission für allgemeine Leistungen der
Krankenversicherung habe diese Meinung des ärztlichen Dienstes des
Bundesamtes zumindest nicht bestritten.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin und des Bundesamtes
für Sozialversicherung ist die Verfügung vom 28. Januar 1975 nicht in
Rechtskraft erwachsen. Das Schreiben der Versicherten vom 3. Februar 1975,
womit sie auf die Rückerstattungsverfügung reagierte, ist nämlich als
rechtsgenügliche Beschwerde zu qualifizieren. Wie der Rechtsöffnungsrichter
zutreffend ausgeführt hat, enthält der Brief einen Antrag sowie eine
Begründung, und es ist ein Beschwerdewille erkennbar. Wenn die Versicherte
die "Rechtsbelehrung", womit sie den angedrohten Kassenausschluss und
nicht etwa die Rechtsmittelbelehrung meinte, als Erpressung bezeichnete, so
verzichtete sie damit nicht auf den Beschwerdeweg. Dass sie entgegen der
Rechtsmittelbelehrung ihren Rekurs innert der 30tägigen Frist an die Kasse
richtete, darf ihr nicht zum Nachteil gereichen. Seit der Gesetzesnovelle
vom 13. März 1964 haben die anerkannten Krankenkassen die für die
öffentliche Verwaltung geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze anzuwenden
(MAURER, Grundriss des Bundessozialversicherungsrechts, S. 10). Dazu
gehört, dass sie eine fälschlicherweise an sie gerichtete Beschwerde
unverzüglich dem zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen haben.

Erwägung 2

    2.- a) Art. 12 Abs. 2 KUVG verpflichtet die Krankenkassen u.a., für
die ärztliche Behandlung ihrer für Krankenpflege versicherten Mitglieder
aufzukommen. Zu dieser Behandlung gehören laut Art. 21 Abs. 1 Vo III
über die Krankenversicherung die vom Arzt vorgenommenen wissenschaftlich
anerkannten diagnostischen und therapeutischen Massnahmen. Ist eine
Massnahme wissenschaftlich umstritten, so entscheidet das Departement
des Innern nach Anhören der Fachkommission für allgemeine Leistungen
der Krankenversicherung, ob sie als Pflichtleistung zu übernehmen ist
(Art. 12 Abs. 5 KUVG in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 und 26 Vo III).

    Nach der Verwaltungspraxis ist die Behandlung der Adipositas als
Pflichtleistung von den Kassen zu übernehmen, wenn das Gewicht der
betreffenden Person 20% des maximalen Idealgewichts (gemäss einer besondern
Tabelle, vgl. RSKV 1974 S. 47) übersteigt oder ein konkommittierendes
Leiden besteht, welches durch die Gewichtsreduktion günstig beeinflusst
werden kann (RSKV 1974 S. 39).

    b) Im vorliegenden Fall fragt es sich, ob die bei der
Beschwerdeführerin vorgenommene intestinale Shunt-Operation zur
Behandlung ihrer Adipositas als Pflichtleistung von der Krankenkasse
zu übernehmen sei. Departement und Fachkommission haben zu dieser
Massnahme nicht ausdrücklich Stellung genommen. Es ergibt sich indessen
aus den von der KFW aufgelegten Arztberichten, dem in RSKV 1974 S. 39
ff. wiedergegebenen Gutachten des Prof. Stauffacher, Bern, sowie aus der
Stellung des ärztlichen Dienstes des Bundesamtes für Sozialversicherung,
dass diese Operation noch der erforderlichen breiten Zustimmung entbehrt,
um als wissenschaftlich anerkannte medizinische Behandlungsmethode der
Adipositas gelten zu können.

    c) Die Beschwerdeführerin muss nach dem Gesagten die unrechtmässig
bezogenen Fr. 1'360.-- grundsätzlich zurückzahlen, obschon die KFW ihr
diesen Betrag vorerst vorbehaltlos vergütet hatte.

Erwägung 3

    3.- Frage des Erlasses der Rückerstattungsschuld.