Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 69



102 V 69

17. Auszug aus dem Urteil vom 30. Mai 1976 i.S. Weber gegen "Die
Eidgenössische" Kranken- und Unfallkasse und Versicherungsgericht des
Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 12 Abs. 2 KUVG. Die chirurgische Korrektur unfall- oder
krankheitsbedingter ästhetischer Mängel, die ein erhebliches Ausmass
erreichen, gehört zu den Pflichtleistungen der Krankenkasse, sofern die
Versicherung für die primären Unfall- oder Krankheitsfolgen haftet.

    Art. 12 Abs. 1 IVG. Sachlicher und zeitlicher Zusammenhang der
kosmetischen Operation mit der primären Unfallbehandlung.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Bei einem am 28. Februar 1974 erlittenen Verkehrsunfall zog sich
der damals 8jährige Brian Weber verschiedene Kopfverletzungen zu. "Die
Eidgenössische" Kranken- und Unfallkasse übernahm ohne Anerkennung einer
Rechtspflicht 20% der gesamten Heilungskosten, während die restlichen 80%
zu Lasten der Haftpflichtversicherung des Schädigers gingen.

    Anscheinend noch vor Ende 1974 wurde ärztlicherseits die Korrektur
einer vom Unfall herrührenden Gesichtsnarbe durch chirurgischen Eingriff
in Erwägung gezogen. Mit Verfügung vom 4. Juni 1975 lehnte es die Kasse
ab, sich an den Kosten dieser Operation zu beteiligen, weil derartige
Behandlungen nicht zu ihren Pflichtleistungen gehörten.

    B.- Die von Romeo Weber, dem Vater des Versicherten, gegen diese
Verfügung eingereichte Beschwerde ist vom Versicherungsgericht des
Kantons Basel-Landschaft am 10. September 1975 abgewiesen worden mit der
Begründung: Die Narbenkorrektur-Operation diene nicht der Beseitigung
eines den Körper beeinträchtigenden krankhaften Prozesses. Daher sei die
Kasse nach den Bestimmungen des KUVG nicht leistungspflichtig.

    C.- Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende
Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Romeo Weber.

    Die Kasse verneint ihre Leistungspflicht, weil es sich um keine
manifeste Störung von Organfunktionen durch pathologische Vorgänge handle.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Die Invalidenversicherung
übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder
Korrektur stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete
Vorkehren, welche den gesetzlich vorgeschriebenen Eingliederungserfolg
voraussehen lassen. Die Behandlung von Unfallfolgen gehört grundsätzlich
ins Gebiet der sozialen Unfallversicherung (BGE 100 V 34). Hingegen
können stabile Defekte, die als Folge von Unfällen entstehen, Anlass zu
Eingliederungsmassnahmen im Sinn von Art. 12 IVG geben, sofern kein enger
sachlicher und zeitlicher Zusammenhang mit der primären Unfallbehandlung
besteht.

    Der enge sachliche Zusammenhang ist gegeben, wenn die medizinische
Vorkehr mit der Unfallbehandlung einen einheitlichen Komplex bildet. Für
die Beurteilung ist dabei ausschliesslich der Zeitpunkt der Entstehung
des Defektes und nicht der Zeitpunkt der Diagnosestellung oder der
Durchführung der Massnahme ausschlaggebend. Eine Massnahme, die schon
während der Unfallbehandlung als voraussichtlich notwendig erkennbar
war, ist keine Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung. Der
zeitliche Zusammenhang mit der Unfallbehandlung ist als unterbrochen zu
betrachten, wenn der Defekt ohne Behandlung während längerer Zeit, in
der Regel während 360 Tagen, stabil war und der Versicherte im Rahmen der
noch vorhandenen Arbeitsfähigkeit tätig sein konnte (BGE 101 V 271). Die
für die Beurteilung des zeitlichen Zusammenhanges massgebende Zeitspanne
beginnt mit dem Eintritt des stabilen Defektzustandes nach Abschluss der
primären Unfallbehandlung und endet mit der erstmaligen Indikation der
neuen Behandlungsvorkehr (BGE 101 V 271).

Erwägung 2

    2.- Aus den Akten ist zu schliessen, dass noch vor Ende 1974
die chirurgische Narbenkorrektur indiziert erschien. Daraus ergibt
sich ohne weiteres der enge sachliche Zusammenhang der geplanten
Operation mit der primären Unfallbehandlung, die spätestens im Mai 1974
abgeschlossen war. Und nachdem der Defekt bei der erstmaligen Indikation
der Narbenoperation noch keine 360 Tage stabil gewesen sein konnte, ist
auch der zeitliche Zusammenhang zu bejahen. Demzufolge fällt jegliche
Leistungspflicht der Invalidenversicherung ausser Betracht und muss der
Fall ausschliesslich nach den Bestimmungen über die soziale Kranken-
und Unfallversicherung beurteilt werden.

Erwägung 3

    3.- Zweck der ärztlichen Behandlung als gesetzliche Pflichtleistung im
Sinn von Art. 12 Abs. 2 KUVG ist die möglichst vollständige Beseitigung
der körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung. Wie weit dies
im konkreten Fall möglich ist, beurteilt sich nach dem Stand der
medizinischen Wissenschaft. Demgemäss verpflichtet Art. 21 Abs. 1 Vo III
über die Krankenversicherung die Krankenkassen grundsätzlich, die vom Arzt
verordneten diagnostischen und therapeutischen Massnahmen zu übernehmen,
soweit diese wissenschaftlich anerkannt sind.

    Eine Operation hat daher nicht nur der eigentlichen Heilung einer
Krankheit oder von unmittelbaren Unfallfolgen zu dienen, sondern auch
andere, sekundäre krankheits- oder unfallbedingte Beeinträchtigungen
zu beseitigen. Insbesondere werden mit chirurgischen Eingriffen auch
äusserliche Verunstaltungen vor allem an sichtbaren und in ästhetischer
Beziehung speziell empfindlichen Körperteilen - besonders im Gesicht -
angegangen. Solange ein derartiger krankheits- oder unfallbedingter Mangel
besteht, der ein gewisses Ausmass erreicht und sich durch kosmetische
Operation beheben lässt, ist diese von der Versicherung zu übernehmen
unter der Voraussetzung allerdings, dass sie auch für die Behandlung
der primären Unfall- oder Krankheitsfolgen aufzukommen hatte. Indessen
hat sich die Leistungspflicht der Kassen für kosmetische Operationen in
allgemein üblichen Grenzen und im Rahmen der Wirtschaftlichkeit zu halten.

    Demnach fragt es sich im vorliegenden Fall, ob überhaupt das Gesicht
des Beschwerdeführers durch die angeblich vom Auge bis zum Haaransatz
reichende Narbe grob entstellt ist und ob sich diese Beeinträchtigung
durch eine kosmetische Operation beheben lässt. Die Akten geben
darüber nicht Aufschluss. Insbesondere fehlen jegliche medizinischen
Unterlagen. Sodann stellt sich die weitere Frage, ob die Kasse für die
Folgen des am 28. Februar 1974 erlittenen Unfalles haftet; letzteres hat
sie gestützt auf ihre Statuten stets verneint, weshalb sie ihre bisherigen
Leistungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erbrachte. Es wird Sache
des kantonalen Versicherungsgerichts sein, die erforderlichen Abklärungen
zu treffen und unter Beachtung der oben dargelegten Grundsätze über den
Anspruch des Beschwerdeführers auf Übernahme der Kosten der verlangten
kosmetischen Operation neu zu befinden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
angefochtene Entscheid vom 10. September 1975 aufgehoben und die Sache an
das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft zurückgewiesen, damit
dieses im Sinne der Erwägungen über den Leistungsanspruch neu befinde.