Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 51



102 V 51

13. Urteil vom 16. Januar 1976 i.S. Lanz gegen Ausgleichskasse des Kantons
Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Hilfsmittel zur Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt (Art. 21
Abs. 2 IVG). Wer sich trotz lähmungsbedingter Behinderung mit den eigenen
Angehörigen mündlich zu verständigen vermag, kann kein automatisches
Schreibgerät beanspruchen.

Sachverhalt

    A.- Der 1953 geborene Hansjörg Lanz, Bezüger einer ganzen
Invalidenrente sowie einer Entschädigung wegen schwerer Hilflosigkeit,
ist cerebral gelähmt. Er ist in der Lage, sich mit den Angehörigen mündlich
einigermassen zu verständigen.

    Am 17. September 1974 ersuchte die Beratungs- und Fürsorgestelle
Biel-Seeland der Pro Infirmis um Abgabe einer mit besonderen Steuergeräten
versehenen elektrischen Schreibmaschine.

    Auf Anfrage der Invalidenversicherungs-Kommission liess sich das
Bundesamt für Sozialversicherung dahin vernehmen, dass der Versicherte
die Bedingungen zur Abgabe eines automatischen Schreibgerätes zu Lasten
der Invalidenversicherung nicht erfülle.

    Durch Verfügung vom 29. Januar 1975 lehnte die Ausgleichskasse das
Gesuch ab mit der Begründung, es bestehe keine totale Sprechunfähigkeit;
es sei dem Versicherten möglich, mit den Familienangehörigen - wenn auch
unter Schwierigkeiten - sprachlich in Kontakt zu treten.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies durch Entscheid
vom 23. April 1975 eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Vater
des Versicherten durch den Rechtsdienst für Behinderte beantragen, in
Aufhebung der angefochtenen Kassenverfügung und des kantonalen Entscheides
sei seinem Sohne ein Possum-Gerät mit elektrischer Schreibmaschine
abzugeben. Es wird im wesentlichen geltend gemacht, ein Kontakt mit
der Umwelt könne nicht als hergestellt betrachtet werden; der nicht zu
leugnende Kontakt zur Mutter sei nicht ausreichend.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Am 11. November 1975 ersuchte der Vertreter des Versicherten um
Anordnung eines Augenscheins.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf
Abgabe eines automatischen Schreibgerätes auf Grund von Art. 21 Abs. 1 IVG
besitzt. Es fragt sich somit, ob ihm das Hilfsmittel gestützt auf Art. 21
Abs. 2 IVG abgegeben werden kann. Laut dieser Bestimmung in Verbindung
mit Art. 14 Abs. 2 in fine IVV und Art. 4 HV werden ohne Rücksicht auf
die Erwerbsfähigkeit mit besonderen Steuergeräten versehene elektrische
Schreibmaschinen Versicherten abgegeben, die wegen Lähmung sprech-
und schreibunfähig sind und nur mit Hilfe eines solchen Gerätes mit der
Umwelt in Verbindung treten können. Der Zweck von Art. 4 HV besteht darin,
wegen Lähmung sprech- und schreibunfähigen Versicherten die Herstellung
der Verbindung zur Umwelt überhaupt zu ermöglichen, nicht aber, diesen -
bereits bestehenden - Kontakt zu erweitern. Voraussetzung zur Abgabe der
in dieser Bestimmung erwähnten Geräte ist, dass ein solcher Versicherter
nur mit deren Hilfe mit der Umwelt in Verbindung treten kann. Ein
Versicherter, der sich mit jenen Personen mündlich verständigen kann,
mit denen er in täglichem Kontakt steht, hat somit keinen Anspruch auf
Abgabe dieser Geräte durch die Invalidenversicherung.

Erwägung 2

    2.- Im Lichte dieser Grundsätze ist zu prüfen, ob dem wegen seiner
Lähmung schreibunfähigen Hansjörg Lanz die verlangte automatische
Schreibeinheit, die er funktionell bedienen kann, zu Lasten der
Invalidenversicherung abgegeben werden darf. Entscheidend ist dabei, ob
der Beschwerdeführer nur mit Hilfe eines solchen Gerätes mit der Umwelt
in Verbindung treten kann.

    Aus den Akten geht hervor, dass der Versicherte sehr mühsam und
stockend unter zunehmender Verkrampfung und ständigen unwillkürlichen
Bewegungen des Kopfes und der Extremitäten spricht. Er ist in der Lage,
Briefe und Aufsätze zu diktieren (Schulbericht aus dem Jahre 1969; Bericht
der Regionalstelle Bern für berufliche Eingliederung vom 16. Oktober
1969). Den Kontakt zur Umwelt stellt er durch die Sprache her; er ist
fähig, seine Gedanken auf einfache Weise zu formulieren und zu diktieren
(Bericht der Pro Infirmis vom 1. Juni 1971). Eine Verbindungsaufnahme durch
die Sprache ist jedoch lediglich mit den unmittelbaren Bezugspersonen
möglich; die sprachlichen Kommunikationsmöglichkeiten des Versicherten
sind gegenüber Aussenstehenden äusserst gering. Im Kontakt mit Fremden ist
er einerseits gehemmt, anderseits erregt er sich, was sein Sprachvermögen
und somit die Verständigung wesentlich erschwert (Bericht der Pro Infirmis
vom 9. Oktober 1974).

    Diese aktenmässigen Feststellungen decken sich im wesentlichen mit
den tatbeständlichen Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, so
dass sich ein Augenschein erübrigt. Die beim Beschwerdeführer vorhandenen
sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die es ihm ermöglichen, sich mit
jenen Personen zu verständigen, mit denen er in täglichem Kontakt steht,
verbieten die Annahme einer Sprechunfähigkeit im Sinne des Art. 4 HV. Eine
Abgabe des automatischen Schreibgerätes durch die Invalidenversicherung
ist daher ausgeschlossen.

    Die Verwaltung würde ein neues, nach Inkrafttreten einer allfälligen
Revision der HV eingereichtes Gesuch unter den neuen rechtlichen
Gesichtspunkten prüfen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.