Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 45



102 V 45

12. Urteil vom 6. Februar 1976 i.S. Renggli gegen Ausgleichskasse des
Kantons Aargau und Obergericht des Kantons Aargau Regeste

    Medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen: Umfang (Art. 13 und
14 IVG).

    - Zu den im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GgV notwendigen Vorkehren gehören
auch lebenserhaltende Massnahmen, welche auf das Geburtsgebrechen oder
dessen Folgen einzuwirken vermögen.

    - Benötigt der Versicherte gleichzeitig Pflege und ärztliche
Behandlung, so genügt zur Gewährung der vollen Spitalleistungen, dass
eine einzige der ärztlichen Vorkehren den Spitalaufenthalt erfordert.

Sachverhalt

    A.- Die Versicherte leidet an einer angeborenen Stoffwechselstörung
(Mucopolysaccharidose, Typ Sanfilippo; Ziff. 454 GgV). In deren Folge
traten eine schwere Gehirnschädigung mit zunehmender Verblödung auf
sowie eine zunehmende Spastizität der gesamten Muskulatur, welche zu
Gehunfähigkeit, schweren Gelenkkontrakturen, Schluckstörungen und zu
Unfähigkeit des Aushustens von Speichel und Lungenschleim führte. Das
Kind muss durch eine Magensonde ernährt werden; die Störung in der
Lungenschleimabsonderung bedingt wegen Erstickungsgefahr das mehrfache
tägliche Absaugen; ferner sind Massage und heilgymnastische Übungen
notwendig. Seit dem 4. November 1974 befindet sich die Versicherte
in einem Pflegeheim. Dieses Heim besitzt keine Spitalabteilung,
arbeitet mit diplomierten Krankenschwestern und ist Aussenstation einer
Pflegerinnenschule; die Krankenabteilung wird als Belegarztspital geführt.

    Mit Verfügung vom 12. November 1974 wies die Ausgleichskasse das
Gesuch um Übernahme der Kosten des Aufenthaltes in diesem Heim ab mit
der Begründung, es würden überwiegend pflegerische und nicht medizinische
Massnahmen durchgeführt. Ausgerichtet wurden lediglich der Beitrag für
dauernde Hilflosigkeit schweren Grades sowie der Kostgeldzuschlag bei
Anstaltsaufenthalt. Ferner wurden die Kosten für ärztliche Behandlung
und Medikamente übernommen, soweit damit das Geburtsgebrechen Ziff. 454
GgV angegangen wird.

    B.- Der Vater der Versicherten liess gegen diese Verfügung
Beschwerde erheben mit dem Antrag, die Invalidenversicherung habe
auch die Aufenthaltskosten zu übernehmen. Es wurden ein von der
Invalidenversicherungs-Kommission nach erfolgter Beschlussfassung
eingeholter Bericht des Pflegeheims sowie eine Stellungnahme des
Dr. G., Chefarzt am Städtischen Krankenhaus X., vom 4. Dezember 1974
aufgelegt. Daraus geht hervor, dass das Mädchen mittels Nährsonde ernährt
werden muss; wegen starker Verschleimung komme es mehrmals täglich
zu mechanischen Atemstörungen, die nur durch sofortige Aspiration des
Schleimes behoben werden könnten; die Erstickungsanfälle machten auch
täglich zeitlich beschränkte Zufuhr von Sauerstoff nötig; zusammen mit
dem Arzt sorge die zuständige Krankenschwester für korrekte Dosierung
und Applikation der zur Behandlung der Epilepsie sowie wegen der
Infektanfälligkeit notwendigen Medikamente; schliesslich werde regelmässig
eine Bewegungs- und Massagetherapie durchgeführt; Behandlung und Pflege
stellten hohe Anforderungen sowohl an den Arzt wie an die Schwesternschaft.

    Das Obergericht des Kantons Aargau wies durch Entscheid vom 18. April
1975 die Beschwerde ab. Im Vordergrund stehe nicht die ärztliche Behandlung
des Leidens, sondern die sehr anspruchsvolle und aufwendige Pflege des
vollständig hilflosen Kindes. Die Betreuung setze keinen Aufenthalt in
einem Krankenheim voraus und müsse auch nicht auf ärztliche Anordnung
hin durch eine medizinische Hilfsperson vorgenommen werden. Denn sowohl
die Ernährung mit der Magensonde als auch die tägliche Sauerstoffabgabe
könnten nach entsprechender Anleitung der Pflegeperson im Privathaushalt
durchgeführt werden. Die Spitaleinweisung sei denn auch nach dem
Bericht des Dr. G. wegen der engen häuslichen Verhältnisse und der
ausserordentlichen Belastung der Eltern notwendig geworden, die neben
diesem Mädchen noch einen am gleichen Leiden erkrankten Knaben sowie
zwei weitere gesunde Kinder zu betreuen hätten. Im übrigen stelle nach
der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts die infolge eines
Geburtsgebrechens nötige Pflege eines Kindes auch dann keine medizinische
Massnahme dar, wenn sie in einem Spital erfolge.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der
Vater der Versicherten den vor der kantonalen Instanz gestellten Antrag
erneuern. Es wird im wesentlichen geltend gemacht, die Feststellung des
Obergerichts, dass die erforderliche Betreuung keinen Aufenthalt in
einem Krankenhaus voraussetze und auch nicht auf ärztliche Anordnung
hin durch eine medizinische Hilfsperson vorgenommen werden müsse, sei
aktenwidrig. Auf Grund der Stellungnahme des Dr. G. vom 4. Dezember 1974
könne nicht zweifelhaft sein, dass die medizinischen Massnahmen nicht
zu Hause durchgeführt werden könnten. Es müsse als erstellt betrachtet
werden, dass die Spitalbehandlung wegen des Geburtsgebrechens an sich
notwendig sei.

    Während die Ausgleichskasse auf einen Antrag verzichtet, schliesst das
Bundesamt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Nach Auffassung
des Bundesamtes ist der Heimaufenthalt wegen Pflegebedürftigkeit erfolgt;
die medizinischen Massnahmen träten gegenüber den pflegerischen Vorkehren
deutlich in den Hintergrund.

    D.- Der Instruktionsrichter hat beim Arzt, der die Versicherte im
Pflegeheim behandelt, ergänzende Auskünfte eingeholt, worauf in den
Erwägungen zurückgekommen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 13 Abs. 1 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch
auf die zur Behandlung der in der Geburtsgebrechenliste aufgeführten Leiden
notwendigen medizinischen Massnahmen. Diese umfassen die Behandlung, die
vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen
in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird, sowie die Abgabe der
ärztlich verordneten Medikamente (Art. 14 Abs. 1 IVG). Art. 14 Abs. 2
IVG bestimmt ferner, dass der Versicherte Anspruch auch auf Unterkunft
und Verpflegung in der allgemeinen Abteilung hat, wenn die ärztliche
Behandlung in einer Krankenanstalt erfolgt. Als medizinische Massnahmen,
welche für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten
sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen
Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher
und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 1 Abs. 3 GgV). Dazu gehört nicht
die tägliche Krankenpflege, weil ihr kein therapeutischer Charakter im
eigentlichen Sinn zukommt. Dies bedeutet, dass die Invalidenversicherung
nur so weit für die Spitalpflege eines Kindes aufzukommen hat, als die
eigentliche Behandlung den Aufenthalt in einem Krankenhaus erfordert
(EVGE 1967 S. 105; ZAK 1974 S. 245, 1975 S. 201).

    Zu den Vorkehren, die den therapeutischen Erfolg im Sinne von Art. 1
Abs. 3 GgV anstreben, gehören nach einem Beschluss des Gesamtgerichts vom
6. November 1975 grundsätzlich auch lebenserhaltende Massnahmen, welche
auf das Geburtsgebrechen oder dessen Folgen einzuwirken vermögen. Nicht
darunter fallen Massnahmen zur Lebenserhaltung indessen dann, wenn eine
medizinisch nicht geschulte Person in der Lage ist (oder dazu angeleitet
werden kann), die lebensbedrohende Situation durch geeignete Vorkehren
zu meistern. Soweit das in ZAK 1974 S. 245 publizierte Urteil Billeter
von diesen Grundsätzen abweicht, kann daran nicht mehr festgehalten werden.

    Bei Konkurrenz von Pflege und ärztlicher Betreuung ist ferner entgegen
EVGE 1961 S. 308, soweit dieses Urteil auf Geburtsgebrechen Anwendung
fand, nicht mehr darauf abzustellen, welcher Teil des Betreuungskomplexes
überwiegt. Vielmehr genügt zur Gewährung der vollen Spitalleistungen,
dass eine einzige Vorkehr - sei sie kausal oder symptomatisch, auf das
Grundleiden oder dessen Folgeerscheinungen gerichtet -, die vom Arzt oder
auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen wird,
die Behandlung in einer Heilanstalt notwendig macht. Dadurch stehen nicht
nur demjenigen Versicherten die vollen Spitalleistungen zu, welcher der
ärztlichen Behandlung in einer Heilanstalt bedarf, sondern auch demjenigen,
der neben dieser ärztlichen Behandlung in überwiegendem Masse pflegerische
Betreuung benötigt.

Erwägung 2

    2.- Die Leistungen, welche der Versicherten bisher wegen ihrer
Geburtsgebrechen zugesprochen worden sind, stehen ausser Diskussion.
Insbesondere anerkennt die Invalidenversicherung auch, dass ihr ein
Pflegebeitrag und für den Aufenthalt im Pflegeheim ein Kostgeldbeitrag
im Sinne der Art. 20 IVG und 13 IVV zusteht. Es fragt sich, ob
die Versicherung anstelle dieser beiden Beiträge die Kosten des
Heimaufenthaltes zu übernehmen hat.

    Nach dem vom Instruktionsrichter eingeholten Bericht des behandelnden
Arztes Dr. W. vom 14. Dezember 1975 besteht bei diesem Kind folgender
Zustand:

    "Es wiegt ca. 20 kg. (altersmässiges Gewicht wäre normal 45 kg). Es ist
   bewusstlos, reagiert höchstens auf Schmerzreize. Arme und Beine sind
   krampfhaft gebeugt und können nicht mehr gestreckt werden. Karchelnde

    Atmung durch starke Verschleimung im Hals und in den obern
Luftwegen. Es
   kann nicht mehr schlucken und wird daher seit einigen Jahren durch eine

    Sonde ernährt. Zeitweise treten epileptische Anfälle auf. Häufig sind

    Erstickungsanfälle durch Schleim- und Sekretansammlungen in den obern

    Luftwegen. Vereinzelt Kreislaufschwächen.

    Als ernste Herzstörung hat sich eine Aortenklappeninsuffizienz
   eingestellt."

    Zur Betreuung der Versicherten sei eine ärztliche Behandlung
notwendig, welche durch den Arzt und auf seine Anweisung durch medizinische
Hilfspersonen vorgenommen wird. Dazu gehörten insbesondere das Einführen
der Nährsonde, die Sauerstoffzufuhr, das Absaugen von Schleim und
Sekreten zur Verhinderung von Erstickungsanfällen sowie die Dosierung
der Medikamente.

    Obschon diese Ausführungen sich auf den Zustand der Versicherten
im Dezember 1975 beziehen, unterscheiden sie sich im wesentlichen von
den in den Akten liegenden ärztlichen Stellungnahmen hinsichtlich der
therapeutischen und pflegerischen Erfordernisse nicht und sind daher
auch auf den für die Beurteilung massgebenden Zeitraum - nämlich bis
zum Erlass der angefochtenen Verfügung im November 1974 (BGE 96 V 144,
99 V 102) - anwendbar. Anhand der medizinischen Akten steht fest, dass
die Versicherte vollständig hilflos und eine Besserung ihres Zustandes
nicht zu erwarten ist. Sie bedarf wegen ihres Geburtsgebrechens ständiger
Pflege und Überwachung, medikamentöser Behandlung, künstlicher Ernährung
und namentlich lebenserhaltender Massnahmen. Zwar geht durch den Umstand,
dass diese Vorkehren an das Betreuungspersonal hohe Anforderungen stellen,
der Pflegecharakter ebenso wenig verloren wie dadurch, dass die Betreuung
einen Spitalaufenthalt notwendig macht. Indessen können insbesondere
die lebenserhaltenden Massnahmen nur durch medizinische Hilfspersonen
durchgeführt werden und setzen eine stationäre Spitaleinweisung voraus.

    Daraus folgt nach dem in Erwägung 1 Gesagten, dass die
Invalidenversicherung für den Aufenthalt der Versicherten im Pflegeheim
aufzukommen hat.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 18. April 1975 und
die angefochtene Kassenverfügung vom 12. November 1974 aufgehoben. Die
Invalidenversicherung hat die Kosten des Aufenthalts der Versicherten im
Pflegeheim zu übernehmen.