Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 4



102 V 4

2. Auszug aus dem Urteil vom 11. März 1976 i.S. Bezirkskrankenkasse
Pfäffikon gegen Salzmann und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 12 Abs. 4 KUVG. Altersrentner, welche
AHV-Hilflosenentschädigungen (Art. 43bis AHVG) beziehen, sind den Bezügern
von IV-Hilflosenentschädigungen (Art. 42 IVG) nicht gleichzustellen. Keine
echte Gesetzeslücke.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Anna Salzmann, geboren 1893, wohnt seit Februar 1969 in einem
Alters- und Pflegeheim. Zu ihrer AHV-Altersrente erhält sie seit dem
1. Januar 1973 eine Hilflosenentschädigung nach Art. 43bis AHVG. Sie ist
bei der Bezirkskrankenkasse Pfäffikon ZH für Krankenpflege und zusätzlich
für Spitalkosten versichert.

    Am 2. Mai 1972 gewährte ihr die Krankenkasse Kostengutsprache für
einen täglichen Krankenpflegebeitrag "ab 1.05.1972 für längstens 720
Tage". Diese Gutsprache wurde am 7. Januar 1974 erneuert und gleichzeitig
ausdrücklich auf den 20. April 1974 befristet. Vom 11. Juni bis 3. August
1974 und wiederum vom 30. September bis 21. Oktober 1974 war Anna Salzmann
im Kantonsspital hospitalisiert. Die Kasse weigerte sich, an diesen
Spitalaufenthalt Leistungen zu erbringen, weil ihre Leistungspflicht am
20. April 1974 erloschen sei.

    B.- Anna Salzmann gelangte am 22. Dezember 1974 mit dem Begehren an
das Versicherungsgericht des Kantons Zürich, die auf den 20. April 1974
erfolgte Aussteuerung sei aufzuheben und es sei die Kasse zu verpflichten,
für die Rechnungen des Kantonsspitals "im Rahmen der ordentlichen
Krankenkassen-Leistungen" und der Spitalkosten-Zusatzversicherung
aufzukommen.

    In ihrem Entscheid vom 29. Mai 1975 vertritt die Vorinstanz die
Auffassung, Anna Salzmann beziehe eine Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung. Somit gelange Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG zur
Anwendung mit der Folge, dass die Versicherte am 20. April 1974 noch nicht
ausgesteuert gewesen sei. Der kantonale Richter verhielt daher die Kasse,
Anna Salzmann die gesetzlichen bzw. vertraglichen Leistungen aus der
Krankenpflege- und Spitalkosten-Zusatzversicherung ab 1. Mai 1972 über
den 20. April 1974 hinaus weiterhin zu erbringen.

    C.- Die Bezirkskrankenkasse lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erheben und dem Eidg. Versicherungsgericht beantragen, unter Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides sei festzustellen, dass sie über den
20. April 1974 hinaus keine Versicherungsleistungen mehr erbringen müsse.

    Die Versicherte lässt die Bestätigung des angefochtenen Entscheides
beantragen mit der Begründung: Die Hilflosenentschädigung sei ihr von
der Invalidenversicherungs-Kommission zugesprochen worden, weshalb es
sich um eine Leistung der Invalidenversicherung handle. Deshalb dürfe
die Genussberechtigung im Sinne von Art. 12 Abs. 4 KUVG nicht beschränkt
werden.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt die Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 12 Abs. 4 KUVG sind die Krankenkassen bei
Aufenthalt des Versicherten in einer Heilanstalt verpflichtet, die
Krankenpflegeleistungen für eine oder mehrere Krankheiten während
wenigstens 720 Tagen innerhalb 900 aufeinanderfolgenden Tagen zu gewähren
(Satz 1). Auf die Bezugsdauer dürfen keine Leistungen angerechnet werden,
solange der Versicherte eine Rente oder Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung bezieht (Satz 2).

    Streitig ist, ob es sich bei der Hilflosenentschädigung, welche die
Beschwerdegegnerin seit dem 1. Januar 1973 erhält, um eine Leistung der
AHV oder der Invalidenversicherung handelt.

    Art. 43bis Abs. 1 AHVG räumt Männern, welche das 65., und Frauen,
welche das 62. Altersjahr zurückgelegt haben und in schwerem
Grad hilflos sind, einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung
ein. In der Invalidenversicherung dagegen ist der Anspruch auf
Hilflosenentschädigung in zeitlicher Hinsicht auf das Ende des Monats
beschränkt, in welchem Männer das 65. und Frauen das 62. Altersjahr
zurücklegen (Art. 42 Abs. 1 IVG). Diese Bestimmung behält Art. 43bis
Abs. 4 AHVG ausdrücklich vor. Nach dieser Vorschrift haben jener Mann,
der bis zur Vollendung seines 65. Altersjahres, und jene Frau, die
bis zur Vollendung ihres 62. Altersjahres eine Hilflosenentschädigung
der Invalidenversicherung bezogen haben, Anspruch darauf, dass ihnen
diese Entschädigung mindestens im bisherigen Betrag weiter gewährt
wird, auch wenn sie nicht in schwerem Grad hilflos sind. Bei dieser
Vorschrift handelt es sich um eine Ausnahmebestimmung zu Abs. 1
des Art. 43bis AHVG, mit der im Sinn der Wahrung des Besitzstandes
vermieden werden soll, dass Bezüger von Hilflosenentschädigungen der
Invalidenversicherung infolge Erreichung der ahv-rechtlichen Altersgrenze
eine Leistungseinbusse erleiden. Die Weitergewährung der bisherigen
Hilflosenentschädigung nach Erreichung der Altersgrenze geht aber
seit dem 1. Januar 1969 (Inkrafttreten der 7. AHV-Revision) nicht mehr
zulasten der Invalidenversicherung, sondern zu Lasten der AHV, wie schon
in der bundesrätlichen Botschaft zur 7. AHV-Revision ausgeführt wurde
(BBl 1968 I 661). Bei den Hilflosenentschädigungen gemäss Abs. 4 des
Art. 43bis AHVG handelt es sich also eindeutig um Leistungen der AHV.
Umso eher gilt dies für jene Hilflosenentschädigung, die gestützt auf
Abs. 1 des Art. 43bis AHVG einem AHV-Rentner erstmals nach Erreichen der
Altersgrenze wegen schwerer Hilflosigkeit zugesprochen wird. In dieser
Richtung weist auch die bereits erwähnte bundesrätliche Botschaft,
worin bei den Darlegungen über die Höhe dieser Hilflosenentschädigung
mit der Formulierung "ähnlich wie die gleichartige Leistung der IV"
deutlich zwischen Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung
und Hilflosenentschädigungen der AHV unterschieden wird. Daraus ergibt
sich, dass namentlich jener Versicherte, der erstmals nach Erreichen des
Rentenalters eine Hilflosenentschädigung erhält, nicht den Bezügern von
Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung gemäss Art. 12 Abs. 4
KUVG gleichgestellt werden darf.

Erwägung 2

    2.- Es bleibt zu prüfen, ob darin, dass in Art. 12 Abs. 4 KUVG nur
von Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung und nicht auch
von solchen der AHV die Rede ist, eine echte Gesetzeslücke erblickt
werden kann, die vom Richter ausgefüllt werden müsste (vgl. BGE 99 V
21). Dies wäre insofern nicht zum vornherein ausgeschlossen, als die
Hilflosenentschädigung an Altersrentner erst lange nach Inkrafttreten des
Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG geschaffen wurde. Indessen muss das Vorliegen
einer echten Gesetzeslücke verneint werden, wie sich aus folgendem ergibt:

    Im Zusammenhang mit der Einführung der Hilflosenentschädigung
an hochgradig hilflose Altersrentner hat der Bundesrat im Blick auf
Art. 12 Abs. 4 KUVG die Frage aufgeworfen, "ob auch dieser stark
erweiterte Versichertenkreis in den Genuss zeitlich unbegrenzter
Krankenpflegeleistungen gelangen soll", und sie wie folgt beantwortet:

    "Wir halten dafür, dass das Problem der Krankenversicherung der

    Altersrentner und namentlich dasjenige der Dauer der Pflegeleistungen
an
   alte Versicherte finanziell von grosser Bedeutung ist und daher einer
   einlässlichen Prüfung bedarf. Um dem Ergebnis dieser Prüfung in keiner

    Hinsicht vorzugreifen, möchten wir von einer Ausdehnung der
Leistungsdauer
   der Krankenversicherung bei hilflosen Altersrentnern absehen. Damit
   jedoch

    Personen, die schon bisher im Genuss dieser Begünstigung standen, nicht
   benachteiligt werden, soll für sie mit der vorliegenden Bestimmung der

    Besitzstand gewahrt bleiben" (BBl 1968 I 667).  Demgemäss haben
National- und Ständerat seinerzeit der vom Bundesrat vorgeschlagenen Ziffer
VIII der Gesetzesnovelle vom 4. Oktober 1968 unwidersprochen zugestimmt,
wonach für die Anwendung von Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG nur solche
Hilflosenentschädigungen als Leistungen der Invalidenversicherung zu gelten
haben, die beim Inkrafttreten der Gesetzesnovelle Altersrentnern gewährt
wurden. Das heute streitige Problem ist also bei der 7. AHV-Revision
dem Gesetzgeber nicht entgangen. Doch liess er es absichtlich offen. Es
liegt, mit andern Worten, ein qualifiziertes Schweigen, somit keine
echte Gesetzeslücke vor. Daher darf der Richter auch aus diesen
Überlegungen den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG
nicht auf jene Versicherten ausdehnen, die zu ihrer Altersrente eine
Hilflosenentschädigung der AHV beziehen.

Erwägung 3

    3.- Demzufolge gelangt Anna Salzmann, die seit dem 1. Mai 1972
Krankenpflegeleistungen bezog und der erstmals in ihrem 80. Lebensjahr
eine Hilflosenentschädigung zugesprochen wurde, nicht in den Genuss
unbegrenzter Krankenpflegeleistungen im Sinne von Art. 12 Abs. 4 Satz
2 KUVG. Nach Gesetz und Statuten war die 720tägige Bezugsdauer am
20. April 1974 abgelaufen und der Anspruch auf Krankenpflegeleistungen
zu diesem Zeitpunkt erschöpft.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. Mai 1975
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass Anna Salzmann im Sinn der Erwägung
3 nach dem 20. April 1974 gegenüber der Bezirkskrankenkasse Pfäffikon
keinen Anspruch auf Krankenpflegeleistungen mehr hatte.