Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 36



102 V 36

9. Auszug aus dem Urteil vom 23. Januar 1976 i.S. Fellmann gegen
Ausgleichskasse des Kantons Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern Regeste

    Gewährleistung zweckmässiger Rentenverwendung (Art. 45 AHVG und
76 AHVV).

    - Es ist Sache der vormundschaftlichen Behörden und nicht der
AHV-Durchführungsorgane, über die zweckmässige Verwendung der dem Vormund
gemäss Art. 76 Abs. 2 AHVV ausbezahlten Renten zu wachen.

    - Wird bloss eine Erziehungs- und Haushaltkontrolle angeordnet, so hat
die Ausgleichskasse frei zu prüfen, wem die Kinderrenten auszuzahlen sind.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 76 AHVV obliegt es im allgemeinen den Ausgleichskassen,
unter bestimmten Voraussetzungen die Anordnungen zu treffen, die
eine zweckmässige Verwendung der Renten gewährleisten. Ist aber
der Rentenberechtigte bevormundet, so ist die Rente gemäss Art. 76
Abs. 2 AHVV einzig dem Vormund oder der von diesem bezeichneten Person
auszuzahlen. Absatz 3 des gleichen Artikels bestimmt weiter, die einer
Drittperson oder Behörde ausbezahlten Renten dürften von diesen nicht mit
Forderungen gegenüber dem Rentenberechtigten verrechnet werden und seien
ausschliesslich zum Lebensunterhalt des Berechtigten und der Personen,
für die er zu sorgen hat, zu verwenden. Diese Bestimmungen gelten gestützt
auf Art. 84 IVV auch auf dem Gebiete der Invalidenversicherung.

    Die dargelegte Ordnung beinhaltet unter anderem eine
Kompetenzabgrenzung zwischen Ausgleichskassen und anderen
Verwaltungsorganen, welche an einer zweckmässigen Rentenverwendung
interessiert sind, insbesondere den Vormundschafts- und
Fürsorgebehörden. Nach Sinn und Zweck dieser Kompetenzabgrenzung kann
es nicht Sache der Durchführungsorgane der AHV sein, zu prüfen, wie der
Vormund die Rente verwendet; dies zu beurteilen fällt vielmehr in die
Zuständigkeit der vormundschaftlichen Behörden. Nach der Rechtsprechung
decken jedenfalls Art. 45 AHVG und dessen Ausführungsbestimmungen keine
Kassenverfügungen, die klaren vormundschaftlichen Anordnungen der hierfür
zuständigen und verantwortlichen Organe widersprechen. Wo Verfügungen
gemäss Art. 76 AHVV mit vormundschaftsrechtlichen Anordnungen kollidieren,
gebührt diesen der Vorrang. Diese Prinzipien gründen nicht zuletzt darauf,
dass die Institutionen des Familienrechts eine Ordnung darstellen,
die von der Sozialversicherung vorausgesetzt wird und dieser daher
grundsätzlich vorgehen muss. Das Gericht verweist auf EVGE 1959 S. 197 ff.,
1951 S. 138 ff., ZAK 1948 S. 24; BINSWANGER, Kommentar zum AHVG S. 198;
ferner sinngemäss auf BGE 97 V 178 (betreffend den prinzipiellen Vorrang
des Familienrechts) sowie auf BGE 99 V 44.

    Anscheinend schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung aus BGE
99 V 44, dass jeglicher Verwaltungsakt eines vormundschaftlichen Organs
im Bereich der AHV für die Ausgleichskassen verbindlich sein müsse. Dies
trifft indessen nicht zu. Wenn schon, wie dargelegt, die zivilrechtliche
Ordnung dem Sozialversicherungsrecht vorgeht, dann bestimmt sich auch nach
der zivilrechtlichen Ordnung, welche Kompetenzen dem vormundschaftlichen
Organ zustehen. Ist eine Vormundschaft angeordnet, dann gehen die damit
verbundenen Befugnisse allerdings sehr weit; sie umfassen namentlich die
finanziellen Belange (vgl. Art. 413 ZGB). Das bedeutet im Bereich der
AHV u.a., dass bei angeordneter Vormundschaft - gestützt auf die klare
zivilrechtliche Regelung - der Vormund zu bestimmen hat, wem die Rente
auszuzahlen ist, und dass die Ausgleichskasse sich dessen Anordnungen
fügen muss.

    Ganz eindeutig ist die Regelung auch dann, wenn die
Vormundschaftsbehörde nur dem einen Elternteil die elterliche Gewalt
entzogen und daneben bloss eine Erziehungs- und Haushaltkontrolle
angeordnet hat. Die finanziellen Kompetenzen jenes Elternteils, der die
elterliche Gewalt nach wie vor innehat, sind alsdann in keiner Weise
beschnitten. Diese zivilrechtliche Regelung der Verhältnisse präjudiziert
somit die Frage nicht, an wen Kinderrenten auszuzahlen sind.