Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 245



102 V 245

60. Auszug aus dem Urteil vom 30. August 1976 i.S. Pfäffli gegen
Ausgleichskasse des Kantons Aargau und Obergericht des Kantons Aargau
Regeste

    Art. 104 und 105 OG. Überprüfungsbefugnis des Eidg.
Versicherungsgerichts im Beschwerdeverfahren betreffend den Erlass von
Rückforderungen (Präzisierung der Praxis).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    a) Gemäss Art. 3 Abs. 6 ELG ist der Bundesrat befugt, u.a. über die
Rückforderung von Leistungen nähere Vorschriften aufzustellen. Der gestützt
hierauf erlassene Art. 27 ELV bestimmt, dass unrechtmässig bezogene
Ergänzungsleistungen vom Bezüger oder seinen Erben zurückzuerstatten
sind, wobei für die Rückerstattung solcher Leistungen und den Erlass der
Rückforderung die Vorschriften des AHVG sinngemäss anwendbar sind.

    Laut Art. 47 Abs. 1 AHVG kann bei gutem Glauben und gleichzeitigem
Vorliegen einer grossen Härte von der Rückforderung abgesehen
werden. Hinsichtlich des guten Glaubens sind die Voraussetzungen nicht
schon mit der Unkenntnis des Rechtsmangels gegeben. Vielmehr darf sich der
Bezüger unrechtmässiger Leistungen nicht nur keiner böswilligen Absicht,
sondern auch keiner groben Nachlässigkeit schuldig gemacht haben. Der
Erlass der Rückforderung ist daher auch zu verweigern, wenn der Versicherte
die nach den Umständen zumutbare Aufmerksamkeit nicht beachtet oder seine
Meldepflicht hinsichtlich Änderungen in den massgebenden Verhältnissen
in grober Weise verletzt hat (ZAK 1973 S. 659, 1970 S. 336, 1965 S. 373).

    b) Nach der bisherigen Rechtsprechung sind die von der Vorinstanz
festgestellten Umstände, auf Grund derer zu beurteilen ist, ob der gute
Glaube gegeben sei, für das Eidg. Versicherungsgericht im Sinne von
Art. 105 Abs. 2 OG verbindlich. Eine vom Gericht frei zu überprüfende
Rechtsfrage ist dagegen, ob sich aus jenen Umständen der gute Glaube
ableiten lasse. Ferner sind Feststellungen des kantonalen Richters,
welche sich nicht auf feste Beweise stützen, sondern aus der allgemeinen
Lebenserfahrung abgeleitet werden, Rechtserwägungen gleichgestellt und
daher vom Eidg. Versicherungsgericht frei überprüfbar (BGE 100 V 152
Erw. 2b, ZAK 1973 S. 661 Erw. 2).

    Wie das Gesamtgericht entschieden hat, ist diese Praxis wie folgt zu
präzisieren: Im Sinne von Art. 3 ZGB ist zu unterscheiden zwischen dem
guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich
jemand unter den gegebenen Umständen auf seinen guten Glauben berufen kann
bzw. ob er bei der Aufmerksamkeit, die von ihm zumutbarerweise verlangt
werden kann, den bestehenden Rechtsmangel hätte kennen sollen (vgl. BGE
99 II 147, 100 II 14 sowie JÄGGI, Berner Kommentar, N. 16 ff. und 104
ff. zu Art. 3 ZGB). Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum
inneren Tatbestand und ist daher Tatfrage, diejenige nach der Anwendung der
gebotenen Aufmerksamkeit dagegen Rechtsfrage, soweit es darum geht, unter
den jeweiligen tatsächlichen Voraussetzungen festzustellen, ob sich jemand
auf den guten Glauben berufen kann. Daraus ergibt sich, dass auch die vom
erstinstanzlichen Richter getroffene Feststellung über das Vorhandensein
oder Fehlen des guten Glaubens für das Eidg. Versicherungsgericht im
Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG verbindlich ist. Für die frei überprüfbare
Rechtsfrage, ob sich die Prozesspartei auf den guten Glauben berufen kann,
bleibt nur soweit Raum, als die Vorinstanz den guten Glauben im Sinne des
fehlenden Unrechtsbewusstseins nicht (auf Grund einer Beweiswürdigung)
verneint hat.