Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 228



102 V 228

56. Urteil vom 3. Dezember 1976 i.S. Bundesamt für Industrie, Gewerbe
und Arbeit gegen Gächter und Obergericht des Kantons Aargau Regeste

    Versicherungsfähigkeit von Lehrlingen.

    - Die Sonderregelung gemäss Art. 3 Abs. 1 AlVV kann nicht Anwendung
finden auf Personen, die sich erst nach Abschluss der Lehre bei einer
Arbeitslosenversicherungskasse anmelden. Die Tage der Lehrzeit gelten
nicht als Arbeitstage im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AlVV (Erw. 2a).

    - Die unterschiedliche Regelung der Versicherungsfähigkeit von
Lehrlingen einerseits und von Fachschulabsolventen andererseits verletzt
den Grundsatz der Rechtsgleichheit nicht (Erw. 2b).

Sachverhalt

    A.- Fredy Gächter, gelernter Damencoiffeur, beendigte am 30.  Oktober
1975 eine im April 1974 angetretene Zusatzlehre als Herrencoiffeur. Vom
1. November 1975 bis 11. Januar 1976 war er auf Vermittlung der Pro
Juventute als Praktikantenhilfe tätig. Am 24. Dezember 1975 meldete er
sich zur Aufnahme in die Öffentliche Arbeitslosenversicherungskasse des
Kantons Aargau an.

    Die Kasse wies das Gesuch am 31. Januar 1976 ab mit der Begründung,
Lehrlinge könnten sich innerhalb der letzten sechs Monate der Lehre
jederzeit anmelden; nach diesem Zeitpunkt könnten sie sich nur noch
versichern, sofern sie mindestens 150 Arbeitstage als Arbeitnehmer
nachweisen könnten.

    B.- Das Obergericht des Kantons Aargau hiess eine hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 14. Mai 1976 gut und verhielt die Kasse,
den Beschwerdeführer mit Wirkung ab 1. Januar 1976 als Mitglied
aufzunehmen. Die Auffassung, wonach sich Lehrlinge nach Abschluss der
Lehre nur noch versichern könnten, sofern sie während mindestens 150
Tagen nach Abschluss der Lehre als Arbeitnehmer tätig gewesen seien,
finde im Wortlaut der Verordnung keine Stütze. Die Verordnungsbestimmung
(Art. 3 Abs. 2 AlVV) sei bisher auch nicht in diesem Sinne verstanden
worden. Seit Inkrafttreten der Verordnungsnovelle vom 19. November
1975 lasse sich der gleichlautende Art. 3 Abs. 1 AlVV in Verbindung mit
andern auf den 1. Dezember 1975 geänderten Verordnungsbestimmungen zwar
in dem von der Kasse und dem Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit
vertretenen Sinne auslegen. Die Bestimmung könne jedoch nicht rückwirkend
Anwendung finden auf Lehrlinge, die ihre Lehre vor dem 1. Dezember 1975
abgeschlossen hätten. Der Beschwerdeführer sei daher ungeachtet der neuen
Bedeutung von Art. 3 Abs. 1 AlVV mit Rücksicht auf seine Erwerbstätigkeit
während der Lehre als versicherungsfähig zu betrachten.

    C.- Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides und Wiederherstellung der
Kassenverfügung. Unter Hinweis auf seine Vernehmlassung vom 12. Mai
1976 i.S. Mathys bestreitet das Amt, dass der Verordnungsbestimmung
mit der Novelle vom 19. November 1975 eine andere Bedeutung zugekommen
sei. Abgesehen vom unveränderten Wortlaut der Bestimmung werde die
Weiterführung der bisherigen Regelung in den Verwaltungsweisungen
ausdrücklich bestätigt. Auch das frühere Recht gehe davon aus, dass die
erleichterten Aufnahmebedingungen nur für Lehrlinge Geltung haben sollten,
nicht dagegen für Jugendliche, die ihre Lehrzeit bereits abgeschlossen
hätten.

    Der Beschwerdegegner hat sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 13 Abs. 1 AlVG dürfen die
Arbeitslosenversicherungskassen als Versicherte nur versicherungsfähige
Arbeitnehmer aufnehmen; als versicherungsfähig gilt, wer unter anderem
regelmässig als Arbeitnehmer eine Erwerbstätigkeit ausübt, die genügend
überprüfbar ist. Gemäss Art. 1 Abs. 1 AlVV gelten als regelmässig
erwerbstätige Arbeitnehmer Personen, die in den 365 Tagen, welche dem
Gesuch um Aufnahme in die Kasse vorausgehen, während mindestens 150 vollen
Tagen im Dienste eines Arbeitgebers tätig gewesen sind.

    Art. 13 Abs. 2 AlVG sieht Sonderregelungen der Versicherungsfähigkeit
für Personen vor, bei denen besondere Verhältnisse bestehen. So sind
Lehrlinge, die in einem Lehrverhältnis im Sinne der Bundesgesetzgebung über
die berufliche Ausbildung stehen, frühestens sechs Monate vor Beendigung
der Lehrzeit versicherungsfähig (Art. 3 Abs. 1 AlVV, entsprechend Art. 3
Abs. 2 des vor dem 1. Dezember 1975 gültigen Wortlautes der Verordnung).

    b) Nach dieser Regelung sind Lehrlinge während der Dauer des
Lehrverhältnisses versicherungsfähig, obgleich sie mangels Erwerbs-
und Vermittlungsfähigkeit die allgemeinen Voraussetzungen gemäss
Art. 13 Abs. 1 AlVG und Art. 1 Abs. 1 AlVV nicht erfüllen. Damit sie
die ordentliche Wartefrist von bisher sechs Monaten gemäss Art. 25
Abs. 1 AlVG bei Lehrabschluss bereits bestanden haben, räumt ihnen
Art. 3 AlVV das Recht ein, sich frühestens sechs Monate vor Beendigung
der Lehrzeit zu versichern. Es soll ihnen damit der sofortige Bezug
von Arbeitslosenentschädigung ermöglicht werden, falls sie nach dem
Lehrabschluss keinen Arbeitsplatz finden (vgl. HOLZER, Kommentar zum
Bundesgesetz über die Arbeitslosenversicherung, S. 70).

Erwägung 2

    2.- a) Art. 3 Abs. 1 bzw. 2 AlVV geht als Spezialnorm den Art. 13
Abs. 1 AlVG und 1 Abs. 1 AlVV vor (ARV 1956 Nr. 18 S. 27). Die
Sonderregelung der Versicherungsfähigkeit von Lehrlingen beschränkt
sich auf die Dauer der Lehrzeit und kann nicht Anwendung finden
auf Personen, die sich erst nach Abschluss der Lehre bei einer
Arbeitslosenversicherungskasse anmelden. Solche Personen haben sich
daher gemäss Art. 1 Abs. 1 AlVV in den dem Aufnahmegesuch vorangehenden
365 Tagen über mindestens 150 Tage als Arbeitnehmer im Dienste eines
Arbeitgebers auszuweisen. Dabei können ihnen die Tage, während welcher
sie als Lehrling tätig gewesen sind, nicht als Arbeitstage angerechnet
werden. Auch wenn der Lehrvertrag obligationenrechtlich als besonderer
Einzelarbeitsvertrag gilt (Art. 344 ff. OR), unterscheidet er sich vom
ordentlichen Arbeitsvertrag insbesondere dadurch, dass die Ausbildung und
nicht die entgeltliche Arbeitsleistung den massgebenden Vertragsinhalt
bildet. Die Versicherungsfähigkeit des Lehrlings beruht denn auch nicht auf
der Arbeitsleistung während der Lehrzeit, sondern auf der Sonderregelung
in Art. 3 AlVV, welche es ihm erlaubt, sich ohne den Nachweis der 150
Arbeitstage zu versichern, solange das Lehrverhältnis noch nicht beendet
ist. Mangels einer anderslautenden Bestimmung können für die Dauer der
Lehrzeit daher keine Arbeitstage angerechnet werden. Hieran vermag nichts
zu ändern, dass der Lehrling auch Pflichten zu erfüllen hat, wie sie einem
Arbeitnehmer auferlegt sind (Art. 18 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die
Berufsbildung vom 20. September 1963), und dass er als Arbeitnehmer im
Sinne des Arbeitsgesetzes gilt (Art. 1 Abs. 2 der Vo I vom 14. Januar
1966 zum Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel
vom 13. März 1964). Die obligationen- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen
gehen der besondern sozialversicherungsrechtlichen Stellung des Lehrlings
in der Arbeitslosenversicherung nicht vor.

    b) Wie das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil vom 27. Juli 1976
i.S. Mathys (ARV 1976 Nr. 11 S. 78) ausgeführt hat, verstösst die geltende
Ordnung nicht gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit. Hinsichtlich der
Versicherungsfähigkeit von Lehrlingen gilt zwar eine andere Regelung als
für Absolventen von Hochschulen, Lehrerseminarien, höheren technischen
Lehranstalten, Techniken, Fachschulen und ähnlichen Lehranstalten,
die nach einer mindestens einjährigen Ausbildung einen beruflichen
Abschluss vermitteln. Solche Personen sind ohne Nachweis einer
vorgängigen Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Sinne von Art. 1
Abs. 1 AlVV versicherungsfähig, sofern sie sich binnen 3 Monaten nach
Abschluss der Ausbildung bei einer Arbeitslosenversicherungskasse anmelden
und sich der Arbeitsvermittlung uneingeschränkt zur Verfügung stellen
(Art. 3 Abs. 2bis der Verordnungsnovelle vom 27. August 1975 und Art. 3
Abs. 2 der Novelle vom 19. November 1975). Unter sinngemäss gleichen
Voraussetzungen ist versicherungsfähig, wer aus einer Schule austritt,
die keine abgeschlossene berufliche Ausbildung vermittelt, und keine
berufliche Ausbildung beginnt (Art. 3 Abs. 3 AlVV in der Fassung gemäss
Verordnungsänderung vom 19. November 1975). Eine analoge Regelung gilt
schliesslich für Personen, die aus Anstalten entlassen werden (Art. 3ter
der Novelle vom 19. November 1975).

    Die für Lehrlinge einerseits und Fachschulabsolventen
bzw. Schulentlassene anderseits getroffenen Regelungen sind nun nicht
dermassen voneinander abweichend, dass sie im Hinblick auf die bestehenden
tatsächlichen Verschiedenheiten als sachlich ungerechtfertigt erscheinen
würden. Zwar decken sich die Regelungen über die Versicherungsfähigkeit
und Anspruchsberechtigung der in Rede stehenden Personengruppen nicht,
doch sind sie materiell insgesamt gleichwertig. Dem Umstand, dass
die in Art. 3 Abs. 2 und 3 der Verordnung genannten Personen sich im
Gegensatz zu den Lehrlingen auch in einem Zeitpunkt versichern können,
da sie bereits arbeitslos sind - sofern die Anmeldung innerhalb der
vorausgesetzten 3 Monate erfolgt -, steht gegenüber, dass Lehrlinge -
sofern sie sich rechtzeitig versichern - unmittelbar nach Abschluss der
Lehrzeit anspruchsberechtigt sind; zudem werden Fachschulabsolventen und
Schulentlassene frühestens auf den der Anmeldung folgenden Monatsbeginn in
die Versicherung aufgenommen und haben überdies die einmonatige Wartefrist
(gemäss Abschnitt II Ziff. 1 des Bundesbeschlusses über Massnahmen
auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und des Arbeitsmarktes zur
Bekämpfung von Beschäftigungs- und Einkommenseinbrüchen vom 20. Juni 1975)
zu bestehen. Im übrigen gilt bei Lehrlingen als versicherbarer Verdienst
für die Bemessung des Taggeldes der Lohn, den sie üblicherweise nach
Abschluss der Lehre erhalten (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 AlVV), während bei
Fachschulabsolventen und Schulentlassenen ein Tagesverdienst von höchstens
Fr. 80.-- bzw. Fr. 40.-- versicherbar ist (Art. 3 Abs. 2 und 3 AlVV).

    c) Im Kreisschreiben Nr. 22 vom 25. November 1975 betreffend die
Änderung der Verordnung zum Arbeitslosenversicherungsgesetz führt das
Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit in Bestätigung der bisherigen
Praxis aus, Lehrlinge, die sich nicht bis zum letzten Tag der Lehre
bei einer Kasse angemeldet hätten, könnten sich nur noch versichern,
sofern sie während mindestens 150 Tagen nach Abschluss der Lehre als
Arbeitnehmer tätig gewesen seien (Rz. 2.1.1. des Kreisschreibens). Die
Vorinstanz räumt ein, Art. 3 Abs. 1 AlVV könne trotz des gegenüber dem
früheren Art. 3 Abs. 2 AlVV unveränderten Wortlautes seit Inkrafttreten
der neuen Verordnungsbestimmung am 1. Dezember 1975 in diesem Sinne
ausgelegt werden. Sie macht indessen geltend, dies ergebe sich durch
Auslegung im Vergleich mit andern auf den 1. Dezember 1975 geänderten
Verordnungsbestimmungen (insbesondere Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art.
13 Abs. 2 AlVV sowie Abschnitt II Ziff. 1 der Verordnungsänderung
vom 19. November 1975) und es lasse sich eine rückwirkende Anwendung
auf Personen, die ihre Lehre vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen hätten,
nicht rechtfertigen.

    Nach dem Gesagten ergibt sich der Umstand, dass Personen, die sich
erst nach Abschluss der Lehrzeit bei einer Arbeitslosenversicherungskasse
anmelden, den Nachweis von 150 Arbeitstagen zu erbringen haben, unmittelbar
aus dem Gesetzes- bzw. Verordnungsrecht, wie es bereits vor Inkrafttreten
der Verordnungsänderung vom 19. November 1975 Geltung hatte. Danach ist
die Sonderregelung hinsichtlich der Versicherungsfähigkeit von Lehrlingen
auf die Dauer der Lehrzeit beschränkt, und es können die sich aus Art. 3
AlVV ergebenden Rechte nur von denjenigen Personen beansprucht werden,
die sich während der letzten 6 Monate der Lehrzeit gegen Arbeitslosigkeit
versichert haben. Auch das frühere Recht gestattete es dem Lehrling nicht,
sich erst nach Abschluss der Lehre bei der Kasse unter Hinweis auf die Tage
der Lehrzeit zu versichern und sich - nach eingetretener Arbeitslosigkeit
- unmittelbar zum Leistungsbezuge zu melden. Die Verordnungsänderung vom
19. November 1975 hat diesbezüglich keine neue Rechtslage geschaffen,
sondern einen bereits bestehenden Zustand bestätigt. Die Frage nach der
Zulässigkeit einer rückwirkenden Anwendung der neuen Verordnungsbestimmung
stellt sich daher nicht.

Erwägung 3

    3.- Fredy Gächter hat von der Möglichkeit, sich während der Lehrzeit
zu versichern, keinen Gebrauch gemacht und sich erst mehr als einen Monat
nach Lehrabschluss bei der Arbeitslosenversicherungskasse gemeldet. Im
Zeitpunkt der Anmeldung konnte er sich aber nicht über mindestens 150
Tage in den 365 Tagen vor dem Aufnahmegesuch ausweisen.

    Mit der Verordnungsänderung vom 19. November 1975 hat der
Gesetzgeber das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit ermächtigt,
bei andauernder erheblicher Arbeitslosigkeit anzuordnen, dass höchstens
50 Werktage, an denen die um Aufnahme in eine Kasse ersuchende Person
nachweisbar arbeitslos war, Arbeitstagen gleichgesetzt werden (Art. 1
Abs. 7 AlVV). Von dieser Befugnis hat das Bundesamt mit Wirkung auf den
1. Dezember 1975 Gebrauch gemacht (Kreisschreiben Nr. 22 vom 25. November
1975, Ziff. 1.3.2.). Auch unter Berücksichtigung des neuen Rechts erfüllt
der Beschwerdegegner die Voraussetzungen der Versicherungsfähigkeit
jedoch nicht. Es muss daher mit der Kassenverfügung vom 31. Januar 1976
sein Bewenden haben.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
vorinstanzliche Entscheid aufgehoben und die Kassenverfügung vom 31. Januar
1976 wiederhergestellt.