Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 213



102 V 213

52. Urteil vom 30. November 1976 i.S. Ausgleichskasse Basel-Stadt gegen
Bundesamt für Sozialversicherung betreffend Jakubowitsch Regeste

    Kassenzugehörigkeit und Kassenwechsel (Art. 64 AHVG und 121
AHVV). Wesentliches Interesse an der Passivmitgliedschaft bei einem
Gründerverband.

Sachverhalt

    A.- Die Einzelfirma Jakob Jakubowitsch, Korbwarenfabrik, Basel, ist
der Ausgleichskasse Basel-Stadt angeschlossen. Mit Schreiben vom 25.
September 1974 erklärte sie auf den 1. Januar 1975 den Beitritt als
Passivmitglied beim Verband schweizerischer Eisenwarenhändler (VSE)
und äusserte gleichzeitig den Wunsch, von diesem Datum an mit der
"AHV-Ausgleichskasse des Verbandes schweiz. Eisenwarenhändler", deren
Gründerverband der VSE ist, abzurechnen. Die formelle Beitrittserklärung,
in welcher die Firma bestätigte, die Statuten sowie die verbindlichen
Beschlüsse und Vereinbarungen anzuerkennen, soweit sie für Passivmitglieder
gültig sind, erfolgte am 10. Oktober 1974. Auf das gleiche Datum hin
wurde sie in den Verband aufgenommen.

    Die Verbandsausgleichskasse meldete am 27. September 1974 der
Ausgleichskasse Basel-Stadt den Kassenwechsel auf den 1. Januar
1975, jedoch weigerte sich letztere, die Mutation zu bestätigen, und
unterbreitete die Angelegenheit dem Bundesamt für Sozialversicherung
zur Stellungnahme, wobei sie namentlich die Frage aufwarf, ob die
Passivmitgliedschaft bei einem branchenfremden Verband einen zwingenden
Grund für einen Kassenwechsel abgebe. Am 5. November 1975 verfügte
das Bundesamt für Sozialversicherung gestützt auf Art. 127 AHVV den
Anschluss der Firma Jakob Jakubowitsch an die Ausgleichskasse des VSE
ab 1. Januar 1976. Die Passivmitgliedschaft beim VSE sei nicht fiktiv,
sondern stelle eine echte Verbandsmitgliedschaft dar, die sich in genau
umschriebenen Rechten und Pflichten der Passivmitglieder äussere. Die Firma
Jakob Jakubowitsch habe ein wesentliches Interesse daran gehabt, dem VSE
als Passivmitglied beizutreten, zumal kein Verband der Korbwarenindustrie
existiere. Diese Passivmitgliedschaft genüge, um den Anschluss an die
Verbandsausgleichskasse zu rechtfertigen.

    B.- Die Ausgleichskasse Basel-Stadt führt gegen die Verfügung
vom 5. November 1975 Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt,
die Firma Jakob Jakubowitsch habe auch nach dem 1. Januar 1976 bei
ihr zu verbleiben; eventuell sei für den Kassenwechsel eine 5jährige
Sperrfrist von 1976 bis 1980 anzuordnen. Zur Begründung wird folgendes
vorgetragen: Jakob Jakubowitsch habe in seiner Stellungnahme an das
Bundesamt für Sozialversicherung vom 28. August 1975 bestätigt, er
sei seit vielen Jahren Passivmitglied des VSE und habe während dieser
Zeitspanne die Verbandsvergünstigungen erhalten; die Beitrittserklärung
vom 25. September 1974 bzw. 10. Oktober 1974 sei eine reine Formsache
gewesen. Aus diesen Darlegungen sei abzuleiten, die Firma habe auch
ohne formelle Verbandsmitgliedschaft die Vergünstigungen in Anspruch
nehmen können. Wenn somit der formelle Status als Passivmitglied für die
Interessenlage der Firma ohne Belang sei, müsse geschlossen werden,
der Beitritt sei nur zu dem Zwecke erfolgt, den Anschluss an die
Verbandsausgleichskasse zu erwirken.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung, die Firma Jakob
Jakubowitsch und die Ausgleichskasse des VSE beantragen Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    In ihrer Vernehmlassung macht die Verbandsausgleichskasse darauf
aufmerksam, dass die Firma vor dem 10. Oktober 1974 "akkreditierter
Lieferant" des VSE gewesen sei; diese obligationenrechtliche Verbindung
habe ihr eine Reihe von Vorteilen gebracht, jedoch nicht in so bedeutendem
Mass wie einem Verbandsmitglied.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Nach der gesetzlichen Ordnung werden alle Arbeitgeber und
Selbständigerwerbenden, die einem Gründerverband angehören, den
Verbandsausgleichskassen angeschlossen (Art. 64 Abs. 1 AHVG). Das
Personal der Bundesverwaltung und der Bundesanstalten sowie die
freiwillig versicherten Auslandschweizer und die übrigen im Ausland
wohnenden Versicherten gehören den beiden Ausgleichskassen des Bundes an
(Art. 62 AHVG). Alle übrigen Personen sind den kantonalen Ausgleichskassen
angeschlossen (Art. 64 Abs. 2 AHVG), welche insoweit die Funktion von
Auffangkassen versehen.

    Die Kassenzugehörigkeit ergibt sich aus dieser gesetzlichen Regelung
des Kompetenzbereiches der Ausgleichskassen und ist daher der freien
Vereinbarung zwischen den Kassen entzogen; jede Ausgleichskasse hat von
Amtes wegen zu prüfen, welche Personen zu ihrem Mitgliederbestand gehören
(BGE 101 V 30 Erw. 3). Den kantonalen Ausgleichskassen obliegt zudem
die Kontrolle über die Erfassung aller Beitragspflichtigen (Art. 63
Abs. 2 AHVG).

    Der Erwerb der Mitgliedschaft eines Gründerverbandes vermag jedoch
den Anschluss an die betreffende Verbandsausgleichskasse dann nicht zu
begründen, wenn er ausschliesslich zu diesem Zweck erfolgt ist und kein
anderes wesentliches Interesse an der Verbandsmitgliedschaft nachgewiesen
wird (Art. 121 Abs. 2 AHVV).

Erwägung 3

    3.- Beim VSE handelt es sich um einen aus Ehren-, Aktiv- und
Passivmitgliedern bestehenden Verein gemäss Art. 60 f. ZGB (Art. 2
Ziff. 2 und Art. 3 der Statuten). Der Begriff der Passivmitgliedschaft
besagt grundsätzlich nichts über das Interesse, welches das Mitglied an
der Vereinszugehörigkeit hat. Einerseits bestehen Vereine, denen das
Passivmitglied vor allem ideelle, eventuell finanzielle Unterstützung
zukommen lassen will, so dass sein Interesse an der Vereinszugehörigkeit
- im Hinblick auf die vornehmlich einseitige Verpflichtung - nicht als
wesentlich im Sinne von Art. 121 Abs. 2 AHVV zu werten ist; anderseits
kann die Passivmitgliedschaft unter Umständen aus materiellen Motiven
sowohl des Mitglieds als auch des Vereins begründet werden, wie dies
der Fall ist, wenn der Verein seinen Mitgliedern gegen Entrichtung eines
Beitrages bestimmte Leistungen anbietet. Demnach ist die (statutarische)
Bezeichnung der Mitgliedschaft für die Beurteilung der Frage, ob an der
Vereins- bzw. Verbandszugehörigkeit ein wesentliches Interesse gemäss
Art. 121 Abs. 2 AHVV bestehe, nicht massgebend. Vielmehr ist zu prüfen,
welche Vorteile dem Betreffenden aus der Mitgliedschaft erwachsen. Ergibt
sich dabei, dass ein wesentliches Interesse an der Verbandsmitgliedschaft
besteht, so bewirkt diese den Anschluss an die Verbandsausgleichskasse
(Art. 64 Abs. 1 AHVG).

Erwägung 4

    4.- Das Bundesamt für Sozialversicherung hat in der angefochtenen
Verfügung vom 5. November 1975 die Vorteile, welche die Firma Jakob
Jakubowitsch durch die Aufnahme in den VSE erlangte, einlässlich
dargetan. Als Passivmitglied hat sie namentlich Anspruch darauf, bei
Einkäufen der Verbandsmitglieder in erster Linie berücksichtigt zu werden;
ferner stehen ihr eine Reihe von Dienstleistungen des VSE (berufliche
Aus- und Weiterbildung, Unterstützung im Personalwesen, Marketing,
Interessenvertretung nach aussen, Beratung in Fragen der Betriebswirtschaft
und des Versicherungswesens usw.) zur Verfügung; schliesslich wird sie
ebenfalls an der internationalen Fachmesse der Branche bevorzugt behandelt.
Wenn auch die Vorteile der Aktivmitglieder noch umfassender sein dürften,
ergibt sich aus dieser Aufzählung doch, dass das Passivmitglied des VSE
ein wesentliches Interesse an der Verbandszugehörigkeit hat. Demgemäss
muss es dem Verband einen Jahresbeitrag entrichten, der 1975 für die
Firma Jakob Jakubowitsch Fr. 287.-- betrug.

    An diesem Ergebnis vermögen die Einwände der Beschwerdeführerin
nichts zu ändern. Sie macht geltend, die Firma habe seit 1968 an der
internationalen Fachmesse teilgenommen, ohne formell Mitglied des VSE zu
sein; zudem bedürfe es für die Belieferungen anderer Verbandsmitglieder
keiner Mitgliedschaft, sondern es genüge nach dem Wortlaut der Statuten
lediglich die Anerkennung als Verbandslieferant. Sie leitet aus diesen
Umständen ab, dass die Firma die behaupteten wesentlichen Interessen
auch ohne Verbandsmitgliedschaft hätte wahren können. Abgesehen davon,
dass die Verbandsausgleichskasse in ihrer Vernehmlassung vom 24. Februar
1976 geltend macht, die Firma habe sich im Schreiben vom 28. August 1975
fälschlicherweise als langjähriges Passivmitglied des VSE bezeichnet,
ergeben sich aus den Akten keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit
der Auffassung der Beschwerdeführerin. Nichtmitglieder werden als
"akkreditierte Lieferanten" wohl in den Genuss einzelner Privilegien
gelangen, doch werden ihnen nicht sämtliche Verbandsvergünstigungen
zustehen. Eine derartige Ausdehnung der Mitgliederrechte auf verbandsfremde
Firmen würde sowohl den Verbandszwecken als auch den Interessen der
angeschlossenen Mitglieder zuwiderlaufen.

    Die Beschwerdeführerin verweist zudem auf Art. 5 Ziff. 3 der Statuten
des VSE, wonach Passivmitglieder lediglich beratende Stimme haben und
in den Vorstand, in die Verbandsleitung, in die Spezialkommissionen,
in das Sekretariat und in die Kontrollstelle nicht wählbar sind. Diese
Beschränkungen vermögen indessen die dem Passivmitglied gebotenen
Vergünstigungen und Dienstleistungen nicht aufzuwiegen; d.h. das Interesse
an der Verbandszugehörigkeit ist auch unter Berücksichtigung dieser
statutarischen Bestimmungen als wesentlich zu bezeichnen.

    Der vom Bundesamt für Sozialversicherung verfügte Kassenwechsel
verletzt demnach weder Art. 64 Abs. 1 und 2 AHVG noch Art. 121 Abs. 2 AHVV.

Erwägung 5

    5.- Die Beschwerdeführerin stellt den Eventualantrag, der Kassenwechsel
sei mit einer 5jährigen Sperrfrist (1976-1980) zu belegen. In der
gesetzlichen Ordnung fehlt jegliche Grundlage für eine solche Massnahme,
weshalb sich das Begehren schon aus diesem Grunde als unbegründet erweist.

Erwägung 6

    6.- Die Verbandsausgleichskassen haben Arbeitgeber und
Selbständigerwerbende, die ihrem Gründerverband neu beigetreten
sind, jeweils bis zum 30. September den zuständigen kantonalen
Ausgleichskassen schriftlich zu melden (vgl. Kreisschreiben Nr. 36
a vom 31. Juli 1950 betreffend Kassenzugehörigkeit, Kassenwechsel und
Abrechnungsregisterkarten). Im Hinblick auf diese Verwaltungsweisung und
den Umstand, dass die Aufnahme der Firma Jakob Jakubowitsch in den VSE erst
am 10. Oktober 1974 erfolgte, verfügte das Bundesamt für Sozialversicherung
den Kassenwechsel richtigerweise auf den 1. Januar 1976. Dessen Vollzug
wäre an sich möglich gewesen, denn der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
wurde keine aufschiebende Wirkung gemäss Art. 111 Abs. 2 OG verliehen. Ein
rückwirkender Kassenwechsel auf den 1. Januar 1976 gemäss Verfügung vom
5. November 1975 würde indessen erhebliche administrative Umtriebe mit
sich bringen, da die Firma Jakob Jakubowitsch im Jahre 1976 weiterhin mit
der Ausgleichskasse Basel-Stadt abrechnet. Unter Berücksichtigung dieser
Sachlage ist daher der Kassenwechsel auf den 1. Januar 1977 festzusetzen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. Die angefochtene
Verfügung vom 5. November 1975 wird insofern abgeändert, als der Zeitpunkt
des Kassenwechsels auf den 1. Januar 1977 festgelegt wird.