Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 175



102 V 175

42. Urteil vom 8. Oktober 1976 i.S. Hürlimann gegen Ausgleichskasse des
Basler Volkswirtschaftsbundes und Kantonale Rekurskommission Basel für
die Ausgleichskassen Regeste

    Art. 11 IVG und 2 Abs. 5 IVV. Haftung für Gesundheitsschäden, die
durch eine von einer Sozialversicherung angeordnete medizinische Vorkehr
verursacht worden sind.

Sachverhalt

    A.- Der 1924 geborene Hürlimann musste sich im Oktober 1972
in der Neurochirurgischen Poliklinik Basel einer Diskektomie Th 10
bis Th 12 unterziehen. Postoperativ kam es zu einer Nachblutung mit
konsekutiver progressiver Paraparese der untern Extremitäten. Daher
wurde er zur weitern Rehabilitation ins Paraplegikerzentrum verlegt. Die
physiotherapeutische Nachbehandlung erfolgte in verschiedenen Heil- und
Rehabilitationsanstalten. Die Invalidenversicherung gewährte ihm erstmals
mit Verfügung der Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes
vom 28. März 1973 diverse Leistungen, u.a. Kostengutsprache für den
Aufenthalt im Paraplegikerzentrum Basel für die Zeit vom 28. November 1972
bis 31. Januar 1973 und für die Nachbehandlung bis 31. Mai 1973. Später
wurde die Kostengutsprache wiederholt verlängert.

    Am 17. Juli 1974 verfügte die Ausgleichskasse die Übernahme der
Kosten eines Aufenthaltes im Paraplegikerzentrum zum Blasentraining
für den Zeitraum 29. April bis 9. Mai 1974. Mit Schreiben vom 11. Juni
1975 schilderte der Versicherte der Invalidenversicherungs-Kommission
den Verlauf der seines Erachtens als Folge einer Blasendruckmessung im
Dezember 1974 aufgetretenen Harnweginfektion. Dem Sinne nach ersuchte
er um medizinische Massnahmen zu deren Behandlung. Die Ausgleichskasse
verfügte indessen am 6. August 1975, dass das Blasentraining und die
Medikamente der Behandlung des Leidens an sich dienten und daher nicht
der Invalidenversicherung belastet werden könnten.

    B.- Der Versicherte zog diese Verfügung beschwerdeweise an die
kantonale Rekurskommission Basel für die Ausgleichskassen weiter, indem er
geltend machte, die Blasendruckmessung, die zur Infektion geführt habe,
sei im Zusammenhang mit der von der Invalidenversicherungs-Kommission
bewilligten medizinischen Eingliederungsmassnahme durchgeführt worden.

    Die Vorinstanz hat die Beschwerde am 30. Oktober 1975 abgewiesen
mit der Begründung: Vom Mai bis Mitte Dezember 1974 sei der Versicherte
beschwerdefrei gewesen. Die Infektion, für die er Leistungen verlange, sei
im besten Fall die Folge einer im Dezember 1974 erfolgten Nachuntersuchung,
die nicht von der Invalidenversicherung angeordnet worden sei. Art. 11
Abs. 1 IVG sei somit nicht anwendbar.

    C.- Der Versicherte führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Begehren um Ersatz der Heilungskosten gemäss Art. 11 Abs. 1 IVG.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die Harnweginfektion, für
deren Behandlung er Kostengutsprache verlangt, auf eine Blasendruckmessung
zurückzuführen sei. Diese Untersuchung habe "in ursächlichem und
notwendigem Zusammenhang" mit der ihm am 17. Juli 1974 als medizinische
Massnahme verfügungsweise gewährten Kostengutsprache für den Aufenthalt im
Paraplegikerzentrum zum Blasentraining gestanden. Die Invalidenversicherung
sei daher gemäss Art. 11 Abs. 1 IVG leistungspflichtig. Demgegenüber meint
das Bundesamt, das Blasentraining sei bisher nur im Rahmen von Art. 2
Abs. 5 IVV übernommen worden; die in Art. 11 Abs. 1 IVG statuierte Haftung
für das Eingliederungsrisiko erstrecke sich nicht auf Behandlungsvorkehren
im Sinne der zitierten Verordnungsvorschrift.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 11 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch
auf Ersatz der Heilungskosten für Krankheiten und Unfälle,
die durch Eingliederungsmassnahmen verursacht werden. Zu diesen
Eingliederungsmassnahmen gehören u.a. jene medizinischen Vorkehren, die
nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die
berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit
dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung
zu bewahren (Art. 12 Abs. 1 IVG). Art. 2 Abs. 5 IVV enthält eine
Ausnahme zu diesem Grundsatz in dem Sinne, dass bei Anstaltspflege die
Versicherung für die Zeit, während welcher der Aufenthalt vorwiegend der
Durchführung von Eingliederungsmassnahmen dient, auch Vorkehren übernehmen
muss, die der Behandlung des Leidens an sich dienen, selber also keine
Eingliederungsmassnahmen sind. Diese ausnahmsweise Übernahme eigentlicher
Leidensbehandlung wurde in der Verordnung offensichtlich aus Gründen
der Praktikabilität und der Billigkeit im Sinne eines Entgegenkommens
gegenüber den Versicherten statuiert. Es läge daher nahe, die in Art. 11
Abs. 1 IVG vorgesehene Haftung nicht über den Wortlaut dieser Bestimmung
hinaus auszudehnen auf Heilungskosten für Krankheiten oder Unfälle,
welche durch die nur im Ausnahmefall von Art. 2 Abs. 5 IVV zu gewährende
Leidensbehandlung verursacht werden.

    b) Anderseits ist zu beachten, dass die Invalidenversicherung nach
Art. 11 Abs. 1 IVG selbst dann für die durch Eingliederungsmassnahmen
verursachten Krankheiten und Unfälle haftet, wenn jene Vorkehren zu
Unrecht als Eingliederungsmassnahmen qualifiziert und zugesprochen
worden sind (BGE 102 V 172, 99 V 212, EVGE 1968 S. 199, 1965 S. 77, 1962
S. 48; ZAK 1972 S. 674, 1971 S. 369, 1968 S. 688; unveröffentlichtes
Urteil vom 28. Juli 1975 i.S. Genilloud). Würde jedoch eine Vorkehr
richtigerweise als Behandlung des Leidens an sich qualifiziert und
gestützt auf Art. 2 Abs. 5 IVV zu Recht gewährt, so wäre die Haftung der
Invalidenversicherung bei wörtlicher Anwendung von Art. 11 Abs. 1 IVG -
nach den Darlegungen im vorliegenden Absatz - für eine durch jene Vorkehr
verursachte Gesundheitsschädigung nicht gegeben. Diese Betrachtungsweise
lässt sich mit der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 11 Abs. 1 IVG aber
nicht vereinbaren, dies vor allem auch aus den folgenden Überlegungen.

    Unter Umständen wünscht ein Versicherter medizinische Massnahmen
gemäss Art. 12 IVG gar nicht und unterzieht er sich ihnen nur im
Hinblick auf die versicherungsmässigen Sanktionen, die das Gesetz
jenem Invaliden androht, welcher die Eingliederung erschwert oder gar
verunmöglicht (vgl. Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 1 IVG). Ferner
ist zu beachten, dass der Verursachung von Krankheiten und Unfällen
durch Eingliederungsmassnahmen nicht nur objektive Gegebenheiten,
sondern zusätzlich ein Verschulden von Invalidenversicherungs-Organen
bzw. Invalidenversicherungs-Durchführungsstellen zugrunde
liegen kann. Würde die oben dargelegte Praxis zu Art. 11 Abs. 1
IVG aufgegeben, so entständen in den Fällen der Beteiligung
eines Verschuldens von Invalidenversicherungs-Organen
bzw. Invalidenversicherungs-Durchführungsstellen bei zu
Unrecht angeordneten und fehlerhaft durchgeführten medizinischen
Eingliederungsmassnahmen kaum befriedigend lösbare Haftungsfragen. Die
gleiche Situation ergäbe sich aber auch bei grundsätzlicher Verneinung
der Haftung, wenn eine Leidensbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 5
IVV aus schuldhaftem Verhalten von Invalidenversicherungs-Organen bzw.
Invalidenversicherungs-Durchführungsstellen zu Krankheiten oder Unfällen
und entsprechenden Heilungskosten führen würde.

    Diese Überlegungen rechtfertigen es, die in Art. 11 Abs. 1 IVG
statuierte Haftung der Invalidenversicherung auch auf den Ersatz von
Heilungskosten für Krankheiten und Unfälle auszudehnen, welche durch eine
gemäss Art. 2 Abs. 5 IVV von der Invalidenversicherung zu übernehmende
Behandlung des Leidens an sich verursacht werden.

Erwägung 3

    3.- Das bedeutet, dass die Invalidenversicherung für die Behandlung
der Harnweginfektion des Beschwerdeführers aufzukommen hat, sofern der
Infekt mit Wahrscheinlichkeit auf eine von der Invalidenversicherung
angeordnete medizinische Eingliederungsmassnahme zurückzuführen ist. Dazu
enthalten die Akten keine hinreichend zuverlässigen Anhaltspunkte. Es wird
Sache der Invalidenversicherungs-Kommission sein, dies durch Einholung
zusätzlicher Arztberichte näher abzuklären und alsdann über den Anspruch
des Beschwerdeführers neu verfügen zu lassen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der Entscheid der Rekurskommission Basel für die Ausgleichskassen
vom 30. Oktober 1975 und die Kassenverfügung vom 6. August 1975
aufgehoben werden und die Sache an die Ausgleichskasse des Basler
Volkswirtschaftsbundes zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgter
Aktenergänzung gemäss den Erwägungen, über den Anspruch des Versicherten
neu verfüge.