Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 165



102 V 165

39. Auszug aus dem Urteil vom 11. Oktober 1976 i.S. Fabbri gegen
Ausgleichskasse der Schweizerischen Maschinen- und Metall-Industrie und
Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 4 Abs. 1 IVG. Begriff der Invalidität, insbesondere des geistigen
Gesundheitsschadens.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität die durch einen
körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich
bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.

    Gemäss dieser gesetzlichen Begriffsbestimmung ist Gegenstand der
Versicherung nicht der körperliche oder geistige Gesundheitsschaden an
sich, sondern seine wirtschaftliche Auswirkung, d.h. die voraussichtlich
bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit. In diesem
Sinne ist der - nach der Praxis für das ganze Sozialversicherungsrecht
einheitliche (EVGE 1960 S. 251, 1967 S. 23; BGE 98 V 169) -
Invaliditätsbegriff ein juristischer und kein medizinischer Begriff.

    Eine Erwerbsunfähigkeit ist längere Zeit dauernd, wenn der sie
auslösende Gesundheitsschaden eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 360
Tagen bewirkt und nach dieser Zeit weiterhin eine die Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigende Behinderung zurücklässt. Gesundheitsschäden, welche
nicht mindestens diese Auswirkungen haben (also auch nicht eine
bleibende Erwerbsunfähigkeit bewirken), führen somit nicht zu einer
Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG und gehören allenfalls in den
Aufgabenbereich der Unfall- oder Krankenversicherung oder aber in den
Rahmen des Risikos, dessen Tragung dem einzelnen zugemutet wird (in ZAK
1973 S. 648 veröffentlichte Erw. 2a des Urteils Sch. vom 21. März 1973 =
BGE 99 V 28; vgl. auch ZAK 1973 S. 294 sowie das nicht veröffentlichte
Urteil Bötschi vom 19. November 1975).

    Zu den geistigen Gesundheitsschäden, welche in gleicher Weise wie
die körperlichen eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu
bewirken vermögen, gehören neben den eigentlichen Geisteskrankheiten auch
seelische Abwegigkeiten mit Krankheitswert. Nicht als Auswirkungen einer
krankhaften seelischen Verfassung und damit als IV-rechtlich nicht relevant
gelten Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit, welche der Versicherte
bei Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in ausreichendem Masse zu
verrichten, zu vermeiden vermöchte, wobei namentlich bei Psychopathen
das Mass des Erforderlichen weitgehend objektiv bestimmt werden muss. Es
ist somit festzustellen, ob und in welchem Masse ein Versicherter infolge
seines geistigen Gesundheitsschadens auf dem ihm nach seinen Fähigkeiten
offenstehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein kann. Dabei
kommt es darauf an, welche Tätigkeit ihm zugemutet werden darf. Zur
Annahme einer durch einen geistigen Gesundheitsschaden verursachten
Erwerbsunfähigkeit genügt es also nicht, dass der Versicherte nicht
hinreichend erwerbstätig ist; entscheidend ist vielmehr, ob anzunehmen
sei, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit sei ihm sozial-praktisch nicht
mehr zumutbar oder - als alternative Voraussetzung - sogar für die
Gesellschaft untragbar.

    Diese Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung für Psychopathien
(EVGE 1961 S. 164 Erw. 3, 1963 S. 36 Erw. 3), psychische Fehlentwicklungen
(EVGE 1961 S. 326 Erw. 3), Trunksucht (EVGE 1968 S. 278 Erw. 3a),
suchtbedingten Missbrauch von Medikamenten (ZAK 1964 S. 122 Erw. 3),
Rauschgiftsucht (BGE 99 V 28 Erw. 2) und für Neurosen (EVGE 1962 S. 34
Erw. 2, 1964 S. 157 Erw. 3 und 4). Hinsichtlich der Neurosen ist zu
beachten, dass deren Auswirkungen unter Umständen dadurch behoben werden
können, dass die Versicherungsleistungen abgelehnt oder - wo gesetzlich
vorgesehen - durch eine Abfindung abgegolten werden, was zur Lösung der
neurotischen Fixierung führt. Ist deshalb von der Verweigerung einer
Invalidenrente wahrscheinlich zu erwarten, dass der Versicherte von den
Folgen der Neurose befreit und wieder arbeitsfähig werde, so ist keine
bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit vorhanden.