Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 162



102 V 162

38. Urteil vom 3. November 1976 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Lüscher und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Zum Begriff "in Ausbildung begriffen" (Art. 25 Abs. 2 AHVG).

    - Erläuterung der bisherigen Praxis.

    - Wer zur Hauptsache einem Erwerb und nur nebenbei einer eigentlichen
Ausbildung nachgeht, gilt nicht als in Ausbildung begriffen.

Sachverhalt

    A.- Lüscher bezieht seit Dezember 1972 eine AHV-Altersrente.  Bis zum
Frühjahr 1973 erhielt er für seinen 1953 geborenen Sohn Daniel, der bis
zu diesem Zeitpunkt in einem Lehrverhältnis stand, auch eine Kinderrente.

    Seit Herbst 1975 besucht der bei seinen Eltern wohnende Daniel neben
seiner Erwerbstätigkeit beim Kantonalverband des Blauen Kreuzes des Kantons
Bern den Grundkurs Animator im Zürcher Institut für angewandte Psychologie.

    Mit Verfügung vom 17. November 1975 wies die Ausgleichskasse AGRAPI
das Gesuch des Daniel Lüscher, die Kinderrente sei seinem Vater erneut
auszurichten, ab, weil er überwiegend erwerbstätig sei.

    B.- Gegen diesen Verwaltungsakt beschwerte sich Daniel Lüscher ...

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern bejahte den Anspruch
auf Kinderrente, weil nach Abzug der eigentlichen Ausbildungskosten von
Fr. 483.-- Daniel Lüscher noch ein Nettolohn verbleibe, der mehr als einen
Viertel unter dem Einkommen eines jungen Berufsarbeiters liege. In diesem
Sinn entschied die Vorinstanz am 4. Februar 1976.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um Wiederherstellung der
Kassenverfügung vom 17. November 1975.

    Daniel Lüscher hat von der ihm gebotenen Möglichkeit, zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde Stellung zu nehmen, keinen Gebrauch gemacht.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Über das 18. Altersjahr hinaus besteht der Anspruch auf
Kinderrente zur AHV-Altersrente nur dann, wenn das Kind noch in
Ausbildung begriffen ist (Art. 22ter Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25
Abs. 2 AHVG). Als in Ausbildung begriffen gelten Kinder, die während
einer bestimmten Zeit Schulen oder Kurse besuchen oder der beruflichen
Ausbildung obliegen. Unter beruflicher Ausbildung ist jede Tätigkeit
zu verstehen, welche die systematische Vorbereitung des Kindes auf
eine künftige Erwerbstätigkeit zum Ziel hat und während welcher das
Kind mit Rücksicht auf den vorherrschenden Ausbildungscharakter ein
wesentlich geringeres Erwerbseinkommen erzielt, als ein Erwerbstätiger
mit abgeschlossener Berufsbildung orts- und branchenüblich erzielen würde.
Das Arbeitsentgelt gilt dann als wesentlich geringer als dasjenige eines
voll Ausgebildeten, wenn es nach Abzug der besondern Ausbildungskosten
um mehr als 25% unter dem ortsüblichen Anfangslohn für vollausgebildete
Erwerbstätige der entsprechenden Branche liegt (ZAK 1975 S. 376 und 1974
S. 485, unveröffentlichtes Urteil vom 30. August 1976 i.S. Götsch).

    Wenn das kantonale Versicherungsgericht im vorliegenden Fall erklärt,
nach Abzug des monatlichen Kursgeldes von Fr. 483.-- vom Monatslohn von
Fr. 1'400.-- verbleibe dem Beschwerdegegner noch ein Nettolohn, der mehr
als einen Viertel unter dem Einkommen eines jungen Berufsarbeiters liege,
so dürfte dies wohl zutreffen. Die Vorinstanz übersieht dabei aber, dass
nach der soeben dargelegten Praxis nicht das Einkommen aus irgendeiner vom
Kind ausgeübten Erwerbstätigkeit mit dem hypothetischen Verdienst eines
voll ausgebildeten Berufsarbeiters verglichen werden darf. Massgebendes
Vergleichseinkommen ist vielmehr jenes effektive Einkommen, welches das
Kind für eine Tätigkeit erzielt, der vorwiegend Ausbildungscharakter
zukommt. Das bedeutet mit andern Worten, dass es unzulässig ist, vom
Verdienst aus einer Tätigkeit ohne überwiegenden Ausbildungscharakter
die besondern Kosten einer gleichzeitig durchgeführten Ausbildung
abzuziehen und das so erhaltene Resultat mit dem Erwerbseinkommen eines
voll ausgebildeten Berufstätigen zu vergleichen.

    Der Beschwerdegegner arbeitet beim Kantonalverband des Blauen
Kreuzes des Kantons Bern. Dabei handelt es sich um eine normale
Erwerbstätigkeit, der kein Ausbildungscharakter zukommt, wie in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unwidersprochen ausgeführt wird. Daniel
Lüscher bezieht dafür einen Monatslohn von Fr. 1'400.--. Berufsbegleitend
besucht er den Grundkurs Animator am Institut für angewandte Psychologie,
für den er ein monatliches Kursgeld von Fr. 483.-- bezahlen muss; dazu
kommen weitere Auslagen, die mit dem Kursbesuch zusammenhängen. Nach
den oben dargelegten Grundsätzen dürfen aber für die Beurteilung,
ob der Beschwerdegegner im Sinn von Art. 25 Abs. 2 AHVG als in
Ausbildung begriffen bezeichnet werden kann, diese Kurskosten nicht vom
normalen Erwerbseinkommen abgezogen werden. Das Vorgehen des kantonalen
Richters mit der stillschweigenden Folgerung, Daniel Lüscher sei gemäss
Praxis in Ausbildung begriffen, war daher nicht richtig. Es steht dem
Beschwerdegegner deshalb keine Kinderrente zu.

Erwägung 2

    2.- Die Überlegungen des Bundesamtes führen zum gleichen Resultat. Nach
der Verwaltungspraxis gelten Kinder, die zeitlich überwiegend durch
eine Erwerbstätigkeit beansprucht sind und nur nebenbei Schulen und
Kurse besuchen, nicht als in Ausbildung begriffen. Dass mit dieser
Erwerbstätigkeit eine Beschäftigung gemeint ist, der selber kein
überwiegender Ausbildungscharakter zukommt, liegt auf der Hand. Das Eidg.
Versicherungsgericht hat keine Veranlassung, in diese Verwaltungspraxis
einzugreifen, zumal sie mit der in Erwägung 1 dargelegten bisherigen
Praxis durchaus im Einklang steht.

    Daniel Lüscher besucht den Kurs am Zürcher Institut vierzehntägig am
Montag und Dienstag; dazu kommen im Semester zweimal je fünf Blocktage. Er
ist also zu 70% durch seine normale Erwerbstätigkeit beim Kantonalverband
des Blauen Kreuzes und nur zu 30% durch den Kursbesuch beansprucht. Somit
kann er auch in dieser Sicht AHV-rechtlich nicht als in Ausbildung
begriffen gelten.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 4. Februar 1976 aufgehoben.