Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 65



102 IV 65

17. Urteil des Kassationshofes vom 2. Juli 1976 i.S. Gil y Duarte gegen
Staatsanwaltschaft Bern-Seeland. Regeste

    Art. 111, 33 Abs. 1 StGB. Vorsätzliche Tötung; Putativnotwehr,
Angemessenheit der Abwehr.

Sachverhalt

    A.- Gil y Duarte, der 1952 vom Provinzgericht Ciudad-Real
wegen versuchter und vollendeter Tötung zu 14 Jahren und 8 Monaten
Freiheitsstrafe verurteilt, 1958 aber amnestiert worden war, kam 1965 in
die Schweiz.

    Am 9. November 1973, kurz nach Mitternacht, besuchte Gil in leicht
angetrunkenem Zustand das Restaurant Bären in Biel-Mett. Nachdem er einen
Kaffee getrunken hatte, verliess er das Lokal, wobei er den einzigen auf
der Hutablage befindlichen Hut mitnahm. Draussen stellte er fest, dass
es nicht sein Hut war und ein anderer Gast offenbar den eigenen Hut mit
einem fremden verwechselt hatte. Da eine Nachschau im Restaurant nichts
anderes ergab, machte er sich mit dem fremden Hut auf den Heimweg. Als
etwas später Hans Schindler das Wirtshaus verliess, stellte er fest, dass
sein Hut verschwunden war. Auf dem Heimweg wurde er auf Gil aufmerksam,
der, wie ihm schien, einen zu kleinen Hut trug. Er folgte Gil deshalb
bis zu dessen Wohnung, wo er ihm erklärte, dass er seinen Hut trage. Gil
übergab ihm diesen widerwillig. Die beiden kehrten darauf ins Restaurant
Bären zurück. Gil behauptete gegenüber den Anwesenden, der Hut gehöre
ihm, und liess sich nicht eines anderen belehren. Die Diskussion endete
vorläufig damit, dass die um 01.00 Uhr zur Kontrolle der Schliesszeit
erschienene Polizei Gil hinausführte, um ihn zu beruhigen und aufzufordern,
nach Hause zu gehen. Gil entfernte sich jedoch nicht, sondern strich in
der Nähe umher.

    Als um 02.00 Uhr die Wirtschaft geschlossen wurde und die Ehegatten
Witschi, Marchetti, Gertsch und Hurni sich vor der Türe verabschiedeten,
erschien Gil wieder, schritt auf die Personengruppe zu und ereiferte
sich erneut über den Verlust seines Hutes. Er war etwa 5 m von ihnen
entfernt, als Marchetti vortrat und versuchte ihn auf den kommenden
Tag zu vertrösten. Gil zückte eine Browning-Pistole Kal. 22 mit
eingesetztem vollem Magazin und richtete sie aus 2-3 m Entfernung
gegen Marchetti mit den Worten: "Ferma dove sei o sparo" ("Bleib
stehen oder ich schiesse"). Marchetti hob die Hände und trat zurück.
Darauf benachrichtigte Weber, der die Szene aus einiger Entfernung
verfolgt hatte, die Polizei. Nun näherte sich Gertsch dem Gil mit
der Frage, ob er deutsch oder französisch spreche, in der Hoffnung,
sich mit ihm in einer der Sprachen verständigen zu können. Gil, der
den Sinn dieser Worte nicht verstand, zog ein zweites Mal die Pistole
und richtete sie auf Gertsch, worauf dieser ohne Zögern zurückwich. Gil
zog sich auf das gegenüberliegende Trottoir zurück. Jetzt kam Witschi
über das Trottoir gemächlich auf Gil zu, um ihn bis zum Eintreffen der
Polizei mit einem Gespräch hinzuhalten. Marchetti, Gertsch und Hurni
folgten in 5-6 m Abstand, ohne jedoch aufzuschliessen. Da richtete
Gil die entsicherte Pistole auf Witschi. Dieser wurde von seiner Frau
zurückgerufen, liess sich jedoch nicht warnen. Gil richtete den Lauf der
Pistole auf die Brust Witschis und rief ihm mehrmals zu: "Ferma o sparo"
("Halt oder ich schiesse"). Aus Angst um das Leben ihres Mannes schrie
Frau Witschi dem Gil zu: "E il mio marito! Ho tre bambini a casa!" ("Es
ist mein Mann! Ich habe drei kleine Kinder!"). Witschi näherte sich Gil
auf ungefähr anderthalb Meter und zeigte ihm dabei die offenen Hände,
um darzutun, dass er unbewaffnet sei. Gil schoss jedoch viermal kurz
nacheinander. Der erste Schuss traf Witschi in die linke Brustseite;
er brach sogleich zusammen und starb kurz darauf. Marchetti und Gertsch
erlitten je einen Durchschuss des Oberschenkels. An Hurni vorbei schlug
ein Geschoss auf 138 cm Höhe in die Hausmauer ein.

    B.- Am 23. September 1975 verurteilte das Geschwornengericht
des IV. Bezirks des Kantons Bern Gil wegen vorsätzlicher Tötung und
fortgesetzten unvollendeten Tötungsversuchs zu sieben Jahren Zuchthaus
und 15 Jahren Landesverweisung. Es nahm Putativnotwehr an, erachtete
jedoch die Reaktion Gils für unangemessen.

    C.- Gil führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung
zum Freispruch.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer bewusst auf jeden
einzelnen der vermeintlichen Angreifer geschossen und dies gegenüber
Witschi mit dem Willen zu töten, gegenüber Marchetti, Gertsch und Hurni
zumindest unter Inkaufnahme tödlicher Verletzungen getan hat. Auch ist nach
dem angefochtenen Urteil erwiesen, dass zur Tatzeit Umstände vorlagen,
die bei Gil den Glauben erweckten, einer unmittelbaren Gefahr für das
eigene Leben ausgesetzt zu sein. Der Beschwerdeführer hatte nämlich,
wie die Vorinstanz annimmt, das Näherrücken der Gruppe Marchetti, Gertsch
und Hurni und die Überschreitung der kritischen Individualdistanz durch
Witschi dahin verstanden, dass ihn die Männer anfallen und umbringen
wollten. Zur Entscheidung steht einzig die Frage nach der Angemessenheit
der von Gil in Putativnotwehr geübten Abwehr.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, diese Frage müsse nach den
Verhältnissen zur Zeit der Tat aus der Tatsituation heraus beurteilt
werden. Nachdem bei den zwei vorausgegangenen Annäherungen seiner
vermeintlichen Angreifer Waffendrohung und Aufrufe erfolgreich gewesen
seien und nunmehr bei Witschi - offensichtlich wegen dessen Alkoholisierung
- versagten, habe er glauben müssen, der Angriff von Witschi und der sich
nähernden Gruppe sei nur mit dem direkten Einsatz der Waffe abzuwehren. Er
habe freilich die Wirkung seiner Waffe gekannt, doch könne er nicht dafür
verantwortlich gemacht werden, dass sein Opfer Witschi die Lage wegen
seiner Alkoholisierung falsch eingeschätzt habe. Da das vermeintlich
angegriffene Rechtsgut das Leben gewesen sei, habe er auf seine Gegner
schiessen dürfen, denn wer dem Opfer nach dem Leben trachte, dem dürfe
der Angegriffene ans Leben gehen (SCHULTZ, Einführung in den allg. Teil
des Strafrechts, 2. Aufl. I S. 172). Indem die Vorinstanz annehme, er
habe die Grenzen der Putativnotwehr in strafbarer Weise überschritten,
wende sie Bundesrecht unrichtig an.

    Das Geschwornengericht hält demgegenüber dafür, der
präventive Gegenangriff sei der eingebildeten Gefahrensituation
nicht angemessen. Die ausführlichen und lebhaften Schilderungen
der vermeintlichen Notwehrlage durch den Beschwerdeführer wiesen
nicht auf bewaffnete und schiessverdächtige Gegner hin, sondern auf
deren Brachialgewalt (Anfallen, Niederschlagen, Zu-Tode-Prügeln oder
-Treten), mittels der freilich ein Mensch auch getötet werden könne.
Indessen sei der Einsatz von Schusswaffen auf menschliche Ziele wegen der
augenblicklichen, vernichtenden Fernwirkung eine allgemein gefürchtete
und verpönte Reaktion. Dessen seien sich der Beschwerdeführer und die
andern Beteiligten auch bewusst gewesen. Es hätte deshalb der Situation
genügt, die vermeintlichen Gegner durch einen oder mehrere Warnschüsse
nachdrücklich auf seine Entschlossenheit zur Verteidigung und die ihnen
für den Fall eines Angriffs drohende Gefahr hinzuweisen, zumal Gil um
ein volles Magazin in der Pistole gewusst und sich deshalb nicht schon
nach dem ersten oder zweiten Schuss hätte wehrlos fühlen müssen.

    a) Nach Art. 33 Abs. 1 StGB ist, wer ohne Recht angegriffen
oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht wird, und jeder andere
berechtigt, den Angriff "in einer den Umständen angemessenen Weise"
abzuwehren. Das heisst, dass der Angegriffene nur zu verhältnismässiger
Abwehr berechtigt ist. Ob im gegebenen Fall die Reaktion des Angegriffenen
diesem Erfordernis entspricht, ist vorwiegend eine Frage des Ermessens
(BGE 99 IV 188). Zu ihrer Beantwortung hat der Richter insbesondere der
Schwere des tatsächlichen oder drohenden Angriffs sowie der Wichtigkeit
des gefährdeten Rechtsgutes einerseits und der Bedeutung des Gutes, das
durch die Abwehr verletzt wurde, anderseits Rechnung zu tragen (BGE 79
IV 151). Dass dabei auch die Art des Abwehrmittels und diejenige seiner
tatsächlichen Verwendung von Belang sind, liegt auf der Hand (BGE 101
IV 120).

    b) Das Geschwornengericht hat diese Kriterien bei Beurteilung
der Reaktion Gils in keiner Weise verkannt. Davon ausgehend, dass
der angeblich drohende Angriff nach der Meinung des Beschwerdeführers
seinem Leben galt und er angesichts der Mehrzahl vermeintlicher Gegner
seine blosse Körperkraft für unzureichend erachtete, billigte ihm die
Vorinstanz sinngemäss zu, dass er als Abwehrmittel die Pistole zur Hand
nehmen durfte (s. BGE 79 IV 153). Da jedoch Gil nach der verbindlichen
Feststellung des angefochtenen Urteils (Art. 277bis Abs. 1 BStP) um
die augenblickliche und vernichtende Wirkung einer unmittelbar auf ein
menschliches Ziel abgefeuerten Schusswaffe wusste, war die gezielte
Schussabgabe auf Witschi und die andern angeblichen Angreifer unter den
damaligen Umständen unverhältnismässig. Auch wenn nämlich die Drohung mit
der Waffe und die Halterufe in der letzten Phase des Geschehens gegenüber
Witschi ihre Wirkung verfehlt hatten und dieser sich dem Beschwerdeführer
weiter näherte, so hätte der letztere - wie das Geschwornengericht in
sachlicher Würdigung angenommen hat - zunächst einen oder zwei Warnschüsse
abgeben sollen (BGE 79 IV 154). Die unvermittelte Abgabe gezielter
Schüsse auf Witschi und die drei anderen Personen wäre nach den Umständen
nur angemessen und damit gerechtfertigt gewesen, wenn die Warnschüsse,
sofern sie wirkungslos geblieben wären, faktisch die Möglichkeit noch
rechtzeitiger Abwehrschüsse gegen die vermeintlichen Angreifer aufgehoben
hätten (DUBS, Notwehr, ZStR 1973 S. 348). Davon kann hier jedoch keine
Rede sein. Einmal hatte Gil - was er wusste - ein volles Magazin in der
Pistole, sodass nach ein oder zwei Warnschüssen noch genügend Munition
für eine Abwehr zur Verfügung stand. Zum andern hatte er nach seiner
eigenen, von der Vorinstanz festgehaltenen Darstellung keine bewaffneten
oder schiessverdächtigen Gegner vor sich, sondern rechnete mit deren
Brachialgewalt. Da ein mit solchem Mittel geführter Angriff mehr Zeit
beansprucht als die Abgabe von Schüssen aus einer entsicherten Pistole,
hätte Gil auch bei Wirkungslosigkeit der Warnung noch Zeit gehabt, einem
solchen Angriff durch gezielte Abwehrschüsse zu begegnen.

    c) Die Auffassung der Vorinstanz, wonach es der Situation des
Beschwerdeführers genügt hätte, die vermeintlichen Gegner durch einen
oder mehrere Warnschüsse nachdrücklich auf seine Entschlossenheit zur
Verteidigung und die ihnen drohende Gefahr für den Fall eines tatsächlich
vorgetragenen Angriffs hinzuweisen, stützt sich somit auf rechtlich
zutreffende Überlegungen und sachlich vertretbare Gründe.

Erwägung 3

    3.- ...

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.