Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 259



102 IV 259

60. Urteil des Kassationshofes vom 9. September 1976 i.S. X. gegen
Polizeirichteramt der Stadt Zürich Regeste

    Art. 14 Abs. 1 VRV.

    Der Vortritt steht dem Berechtigten - unter Vorbehalt einer
abweichenden Signalisation oder Markierung - auf der ganzen Schnittfläche
der zusammentreffenden Strassen zu. Das gilt auch für mehrspurige
Fahrbahnen.

Sachverhalt

    A.- X. führte am 19. April 1975, um 18.00 Uhr einen Personenwagen in
Zürich auf der Gutstrasse in Richtung Birmensdorferstrasse. Als er sich
der rechtsseitigen Einmündung der Fellenbergstrasse näherte, schickte sich
Y. an, aus dieser nach rechts in die dort 10,5 m breite Fahrbahnhälfte
der Gutstrasse einzubiegen. X. setzte dessen ungeachtet seine Fahrt auf
dem linken Drittel der rechten Strassenhälfte in der Einmündungszone
fort. Dabei kam es ca. 15 m nach Beginn einer Verkehrsinsel, deren
vorderster Teil in jener Zone liegt, zur Kollision, indem das Fahrzeug
des Y. mit dem Heck nach links ausbrach und gegen die rechte Seite des
von X. gesteuerten Wagens stiess.

    B.- Am 16. März 1976 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Zürich X. wegen Übertretung von Art. 14 Abs. 1 VRV
mit Fr. 40.--.

    Eine von X. gegen dieses Urteil eingereichte kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am 4. Juni
1976 ab.

    C.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz stellt fest, dass der Beschwerdeführer
und Y. ungefähr im gleichen Zeitpunkt die Verzweigung
Gutstrasse/Fellenbergstrasse erreichten. Der Verkehr auf der letzteren
Strasse ist gegenüber demjenigen auf der Gutstrasse vortrittsberechtigt. In
Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtes nahm die Vorinstanz
an, es habe sich das Vortrittsrecht des Y. auf die ganze Schnittfläche
der beiden Strassen und damit auch auf den linken Drittel der rechten
Fahrbahnhälfte der Gutstrasse bezogen; der Beschwerdeführer habe daher
diesen Raum mangels einer entsprechenden Signalisation und Markierung
wegen des gleichzeitig eintreffenden Y. nicht in Anspruch nehmen dürfen.

    Diese Auffassung wird vom Beschwerdeführer wegen der
"ausserordentlichen Breite" der rechten Fahrbahnhälfte von 10,5 m
angefochten. Er hält dafür, dass eine Ausnahme vom genannten Grundsatz
zu machen sei, wenn die fragliche Fahrbahnhälfte eine Breite von
drei Fahrspuren aufweise. Unter solchen Umständen dürfe das linke
Drittel vom Wartepflichtigen in Anspruch genommen werden. Dem von
rechts kommenden Vortrittsberechtigten verblieben hier immer noch 7
m der rechten Strassenhälfte. Dieser könne sein Vortrittsrecht nicht
schrankenlos beanspruchen und die ganze Fahrbahnhälfte von 10,5 m in
Beschlag nehmen. Im übrigen anerkenne die Vorinstanz selber, dass die
Auffassung des Beschwerdeführers der Verflüssigung des Verkehrs dienlich
wäre. Wenn sie dennoch aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtes eine
Verletzung des Vortrittsrechtes angenommen habe, so verkenne sie dabei,
dass am Unfallort besondere Verhältnisse gegeben seien, denen auch das
Bundesgericht in BGE 93 IV 104 ff. Rechnung getragen habe.

Erwägung 2

    2.- Die Berufung des Beschwerdeführers auf BGE 93 IV 104 ff.
geht fehl. Dieser Entscheid weist ausdrücklich darauf hin, dass bei den
damals zu beurteilenden Verhältnissen nicht ein Fall der Art. 36 Abs. 2
SVG und 14 Abs. 1 VRV, also eine Verletzung des Vortrittsrechtes, in
Frage stand, sondern ein Kreuzen zweier Fahrzeuge, von denen ein jedes an
einem zu seiner Rechten befindlichen Hindernis vorbeifuhr (Erw. 1 S. 107
oben). Eine solche Verkehrslage ist im vorliegenden Fall nicht gegeben.

    Den Grundsatz aber, dass dem Berechtigten der Vortritt nicht bloss an
einer bestimmten Stelle der Verzweigung, sondern auf der ganzen Fläche,
auf der sich die zusammentreffenden Strassen überschneiden, zusteht,
und dass er das Vortrittsrecht auch durch pflichtwidriges Verhalten
nicht verliert, hat das Bundesgericht bisher - unter Vorbehalt einer
abweichenden Signalisation oder Markierung - ohne jede Einschränkung
angewendet (BGE 80 IV 199, 84 IV 114, E. 3, 85 IV 87, 91 IV 93, 95 IV
96, E. 4, 99 IV 174/175). Entsprechend hat der Kassationshof es in einem
Fall ausdrücklich abgelehnt, breite Fahrbahnen oder Plätze, in welche
mehrere Strassen einmünden, vom oben genannten Grundsatz auszunehmen
(BGE 95 IV 95). Dabei wurde noch besonders hervorgehoben, dass der
Wartepflichtige auch nicht etwa die linke Fahrbahnhälfte beanspruchen
dürfe, da der Vortrittsberechtigte diesen Teil der Strasse nicht nur wegen
eines Fehlers, sondern auch aus legitimen Gründen befahren könne, z.B. um
an einem Hindernis zu seiner Rechten vorbeizufahren oder um ein anderes
Fahrzeug zu überholen, was unter den Voraussetzungen des Art. 43 Abs. 3
SVG bei Verzweigungen zulässig sei. Je nach der Verkehrssituation darf der
Berechtigte auch auf die linke Spur fahren, um rechtzeitig vor der nächsten
Verzweigung zum Abbiegen nach links einzuspuren (Art. 36 Abs. 1 SVG).

    Auf der gleichen Linie liegen die deutsche Lehre und
Rechtsprechung. Auch sie stehen auf dem Standpunkt, dass ein
verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten seine Vorfahrt nicht
beseitige, er insbesondere sein Recht nicht durch zu weites Linksfahren
verliere. Dabei wird nirgends für breite Fahrbahnen eine Einschränkung
in dem vom Beschwerdeführer beantragten Sinne vorgesehen (JAGUSCH,
Strassenverkehrsrecht, 21. Aufl. N. 30 zu § 8 StVO 1; DAR 1972, S. 147
Ziff. 10 und 1974 S. 297). Vielmehr sind deutsches Schrifttum und Praxis
der Meinung, dass der Wartepflichtige auf der Höhe der Vorfahrtsstrasse
nur weiterfahren darf, wenn jede Möglichkeit eines Zusammenstosses und jede
Beeinträchtigung eines sich nähernden Vorfahrtsberechtigten ausgeschlossen
sind (DAR 1974, S. 238 Ziff. 21a).

    Es ist deshalb, entgegen der Meinung des Beschwerdeführers, auch
auf breiten Fahrbahnen wie der Gutstrasse in Zürich am Grundsatz des
Rechtsvortrittes auf der gesamten Schnittfläche der zusammentreffenden
Strassen festzuhalten. Freilich käme eine Ordnung in dem vom
Beschwerdeführer vorgeschlagenen Sinne dem Postulat einer flüssigen
Verkehrsabwicklung entgegen. Indessen muss die Verkehrssicherheit
den Vorrang haben. Wollte man es der Beurteilung des Wartepflichtigen
überlassen, in jedem Fall abzuschätzen, ob die rechte Fahrbahnhälfte breit
genug sei, um bei Inanspruchnahme der linken Spur die Möglichkeit eines
Zusammenstosses oder einer Beeinträchtigung des Vortrittsberechtigten
auszuschliessen, und ob der Vortrittsberechtigte einen sachlichen Grund
habe, auf die linke Spur oder in deren unmittelbaren Nähe zu fahren,
so würde damit in das Verkehrsgeschehen ein Moment der Unsicherheit
hineingetragen. Gerade das aber muss vor allem dort vermieden werden,
wo elementare Verkehrsregeln wie diejenige des Rechtsvortrittes in Frage
stehen. Das Postulat der Einfachheit und Klarheit solcher Normen, die
in besonderer Weise der Verkehrssicherheit dienen, gebieten Ausnahmen
von der Regel auch aus triftigen Gründen nur dort zuzulassen, wo diese
Sicherheit nicht gefährdet wird. Das trifft jedoch in Fällen wie dem
vorliegenden nicht zu.

    Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass das Ergebnis bei bestimmten
Strassen unter dem Gesichtspunkt der Verkehrsflüssigkeit wenig befriedigt.
Indessen ist eine Korrektur dieses Nachteils nicht über den Weg eines
Einbruchs in die Regel des Rechtsvortrittes zu suchen, sondern von der
zuständigen Behörde durch eine entsprechende Signalisation oder Markierung
herbeizuführen. So wird schon bisher bei Schnellstrassen gelegentlich
die äusserste linke Spur im Bereich von Einmündungen und eine gewisse
Strecke darüber hinaus durch eine Sicherheitslinie von den anderen Spuren
getrennt. In diesem Bereich dürfen Fahrzeuge nicht von der äussersten
linken Fahrspur in eine andere Spur wechseln und umgekehrt. Von rechts
einmündende Fahrzeuglenker dürfen höchstens bis zur Sicherheitslinie
fahren und erst nach deren Ende in die äusserste linke Spur wechseln.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.