Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 250



102 IV 250

57. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. November 1976 i.S. X.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau Regeste

    Art. 193 Abs. 2 StGB. Für die Anwendung dieser Bestimmung genügt,
dass ein Spitalpatient unter der Aufsicht eines Krankenpflegers steht oder
von diesem abhängig ist, wobei sich das Opfer der Einwirkungsmöglichkeit
des Pflegepersonals nicht ohne weiteres entziehen kann.

Sachverhalt

    A.- X. war im Jahre 1974 u.a. im Spital Rheinfelden als Krankenpfleger
tätig. Am 25. August 1974, wenige Stunden vor Mitternacht, verabreichte
er der Patientin Z., geb. 1957, eine Schlaftablette. Einige Minuten später
trat er neben die im Bett liegende Patientin, fuhr dieser mit seiner Hand
über das Gesicht und sagte ihr gleichzeitig, sie schwitze. Obschon Z. den
X. aufforderte, wegzugehen, öffnete dieser das Hemd der Patientin und griff
diese zwischen den Brüsten aus. Er verliess das Zimmer, nachdem er von Z.
ein zweites Mal geheissen worden war, wegzugehen.

    B.- Das Bezirksgericht Laufenburg sprach X. am 18. Dezember 1975 wegen
dieses Vorfalls sowie weiterer, hier nicht interessierender Verfehlungen
u.a. der Unzucht mit einem Anstaltspflegling im Sinne von Art. 193 Abs. 2
StGB schuldig und verurteilte ihn zu 4 Wochen Gefängnis, abzüglich 9 Tage
Untersuchungshaft; es gewährte dem Verurteilten den bedingten Strafvollzug
und setzte die Probezeit auf 2 Jahre an.

    Das Obergericht des Kantons Aargau hob diesen Entscheid am 13. Juli
1976 auf und sprach X. nur der Unzucht mit einem Anstaltspflegling
schuldig; es verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe
von 2 Wochen, abzüglich 9 Tage Untersuchungshaft.

    C.- X. führt eidg. Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung
von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Der Beschwerdeführer macht geltend, Frl. Z. sei weder unter seiner
Aufsicht gestanden noch von ihm abhängig gewesen, wie das Art. 193 StGB
voraussetze. Die Vorinstanz habe in dieser Hinsicht keine tatsächlichen
Feststellungen getroffen.

    Das angefochtene Urteil führt in der Tat nicht aus, ob und inwiefern
allenfalls Frl. Z. als Patientin des Spitals Rheinfelden zur Zeit der
Tat unter Aufsicht des dort als Pfleger beschäftigten Beschwerdeführers
gestanden oder von diesem abhängig gewesen sei. Zwar erklärte der
Beschwerdeführer selber, er habe während einer gewissen Zeit Schwester
C., die zur Mithilfe im Operationssaal weggerufen worden sei, in der
betreffenden Patientenabteilung vertreten müssen. Nach den Aussagen der
Oberschwester ist es indessen als "sehr unwahrscheinlich" zu bezeichnen,
dass die im fraglichen Zeitpunkt allein tätige Krankenschwester
in den Operationssaal gerufen worden sei. Auf das Zugeständnis des
Beschwerdeführers abzustellen und anzunehmen, es sei ihm während einer
gewissen Zeit die Überwachung, Betreuung und Versorgung der in der
fraglichen Abteilung untergebrachten Patientinnen und Patienten, zu denen
auch Frl. Z. gehörte, obgelegen, und der Vorfall habe sich gerade in
dieser Zeitspanne ereignet, verbietet sich unter solchen Umständen. Die
Vorinstanz wird vielmehr abzuklären und festzustellen haben, ob dem
so sei. Mangels tatsächlicher Feststellungen zur Frage der Aufsicht
bzw. Abhängigkeit ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache
an die Vorinstanz zur nötigen Abklärung zurückzuweisen.

    Sollte sich im Rahmen der Neubeurteilung durch die Vorinstanz
herausstellen, dass die Aussagen des Beschwerdeführers zutreffen oder er im
kritischen Zeitpunkt aus anderen Gründen eine gleichartige Stellung wie die
behauptete innehatte, so wäre entgegen seiner Bestreitung eine Abhängigkeit
von Frl. Z. von ihm im Sinne von Art. 193 StGB anzunehmen. Zwar meint
STRATENWERTH (Schweiz. Strafrecht, Bes. Teil, II, S. 342), auf den sich
der Beschwerdeführer ausdrücklich beruft, eine solche Abhängigkeit liege
nur vor, wenn der Täter "in wesentlichen Beziehungen über den Betroffenen
verfügen" könne, "etwa was die Entlassung, die ärztliche Versorgung,
Vergünstigungen in der Anstalt" betreffe, das "blosse Angewiesensein etwa
auf die Dienstleistungen eines anderen, z.B. eines Pflegers" vermöge diese
Abhängigkeit jedoch noch nicht zu begründen. Eine derart einschränkende
Auslegung findet indessen weder im Gesetzeswortlaut eine Stütze, noch
ist sie aus dem Sinn oder der Entstehungsgeschichte der fraglichen
Bestimmung zu rechtfertigen. Es wird kein graduell besonders geartetes,
etwa besonders intensives Aufsichts- oder Abhängigkeitsverhältnis
zwischen Täter und Opfer verlangt, sondern Art. 193 StGB lässt für seine
Anwendbarkeit die Tatsache genügen, dass das Opfer überhaupt unter der
Aufsicht des Täters steht oder von diesem abhängig ist. Wo ein solches
Aufsichts- oder Abhängigkeitsverhältnis vorliegt, wird es von Gesetzes
wegen als so intensiv betrachtet, dass die abhängige Person einem
geschlechtlichen Angriff nicht angemessen Widerstand entgegenzusetzen
vermag (HAFTER, Bes. Teil, II/1, S. 132). Durch das Erfordernis der
Aufsicht bzw. Abhängigkeit soll lediglich verhindert werden, dass
jede der in einer in Art. 193 StGB genannten Anstalten beschäftigten
Personen nach dieser Bestimmung zu bestrafen ist, selbst wenn sie vom
Betrieb her in keiner direkten Beziehung zu den dort Untergebrachten
steht und daher über keine Einwirkungsmöglichkeit auf diese verfügt
(LOGOZ, N. 3 zu Art. 193 StGB; HOFFMANN, Das Abhängigkeitsverhältnis als
strafbegründendes und strafschärfendes Merkmal der Sittlichkeitsdelikte,
S. 117). Als Beispiel für ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 193
StGB ist denn auch bisher die Behandlung und Betreuung von Kranken in
einem Spital durch Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger genannt worden
(ZÜRCHER und GAUTHIER, Protokoll der 2. Expertenkommission, Bd. 3-4,
S. 186; HAFTER, Bes. Teil, II/1, S. 133, Fussnote 2, wo bezüglich
der Mitglieder von Aufsichtskommissionen, nicht aber hinsichtlich des
Aufsichts- und Wartepersonals Zweifel geäussert werden; LOGOZ, N. 3 zu
Art. 193 StGB; HOFFMANN, aaO, S. 117). Die gesetzliche Umschreibung
ist aus den von GAUTHIER genannten Gründen (aaO, S. 186) absichtlich
ziemlich weitgehend gehalten (THORMANN/OVERBECK, N. 2 zu Art. 193 StGB).
Allerdings trifft zu, dass die Patienten eines Spitals im allgemeinen
nicht wehrlos sind (STRATENWERTH, aaO, S. 342), aber sie können sich der
Einwirkungsmöglichkeit des Pflegepersonals dennoch nicht ohne weiteres
oder jedenfalls nur schwer entziehen (GAUTHIER, aaO, S. 186).