Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 162



102 IV 162

38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Juni 1976
i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 110 Ziff. 3 StGB. Ob ein vorübergehender Spitalaufenthalt die
Hausgemeinschaft aufhebt, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

Sachverhalt

    A.- X. wurde am 27. November 1974 geschieden und verliess am
10. Dezember 1974 seine Stelle als Werkzeugschleifer bei der Firma M. in
Zürich. Seit Januar 1975 will er im Hause seiner Mutter in P. wohnen.

    Vermutlich im Mai 1975 nahm X. im Estrich des Hauses seiner Mutter
zwei dieser gehörende Kupferkessi an sich und verkaufte sie ohne Wissen der
Eigentümerin für den Betrag von Fr. 200.-- dem Antiquitätenhändler R. Die
Mutter lehnte es indessen ab, gegen ihren Sohn Strafantrag zu stellen.

    B.- Y. ist als Pflegesohn bei den Eltern des X. aufgewachsen und wohnte
ebenfalls im Hause der Mutter des X., bis er am 10. Juli 1975 wegen eines
Unfalles in das Kantonsspital in Chur verbracht wurde. Y. bevollmächtigte
X. schriftlich, ihn "während der Dauer seines Unfalles in allen Belangen
zu vertreten". Mit dieser Vollmacht sprach X. bei der Arbeitgeberin des
Y. vor und bezog dort von dessen Lohnguthaben am 18. August 1975 Fr. 930.15
und am 27. August 1975 weitere Fr. 1'826.95. Das Geld verwendete X. teils
zur Zahlung wirklicher, bzw. angeblicher eigener Schulden, teils verwendete
er es für persönliche Bedürfnisse. Fr. 415.-- konnten anlässlich seiner
Verhaftung sichergestellt werden.

    Y. hat gegen X. rechtzeitig Strafantrag wegen Veruntreuung gestellt,
diesen aber später wieder zurückgezogen.

    C.- Mit Urteil vom 20. November 1975 sprach der Kreisgerichtsausschuss
Chur X. der fortgesetzten Veruntreuung gemäss Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2
und des Betruges gemäss Art. 148 Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte ihn
als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 2. September
1975 zu sechs Monaten Gefängnis. Die erstandene Untersuchungshaft von 14
Tagen wurde auf die Strafe angerechnet.

    Eine hiegegen eingereichte Berufung hat der Kantonsgerichtsausschuss
von Graubünden mit Urteil vom 29. März 1976 abgewiesen.

    D.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe, eventuell Einstellung des Verfahrens
im Anklagepunkt der Veruntreuung.

    E.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verurteilung wegen Betruges zum Nachteil von R. ist nicht
angefochten und in Rechtskraft erwachsen.

    Hinsichtlich des Urteils der Vorinstanz macht der Beschwerdeführer
geltend, er sei Familiengenosse des Geschädigten Y. Dieser habe aber
den Strafantrag vor der erstinstanzlichen Verurteilung zurückgezogen,
so dass die Verurteilung wegen Veruntreuung zu Unrecht erfolgt sei.

Erwägung 2

    2.- Der von der Vorinstanz festgestellte Sachverhalt erfüllt
zweifelsfrei den Tatbestand der Veruntreuung. Zu prüfen ist deshalb
lediglich, ob der Beschwerdeführer und Y. Familiengenossen im Sinne von
Art. 110 Ziff. 3 StGB waren, so dass die Veruntreuung des Beschwerdeführers
zum Nachteil des Y. nur auf Antrag verfolgt werden könnte (Art. 140
Ziff. 3 StGB).

    a) Familiengenossen sind Personen, die im gemeinsamen Haushalte
leben (Art. 110 Ziff. 3 StGB). Grund der Privilegierung ist nach der
Rechtsprechung der Hausfrieden (BGE 72 IV 6, 86 IV 159). Das Gesetz will
durch das Antragserfordernis den Hausfrieden unter Personen begünstigen,
die durch gemeinsames Haushalten eine Hausgemeinschaft bilden, die
derjenigen unter den Gliedern ein und derselben Familie nahe kommt. Dazu
gehört, dass zwei oder mehr Personen gemeinsam essen und wohnen und unter
einem gemeinsamen Dache schlafen (BGE 72 IV 6, 86 IV 158 ff.).

    b) Der Beschwerdeführer behauptet, er habe seit Januar 1975 und
jedenfalls im Zeitpunkt der Tat mit dem Geschädigten Y. im Hause
seiner Mutter gelebt und sei in dieser Zeit Familiengenosse des Y.
gewesen. Der Kreisgerichtsausschuss hat diese Behauptung jedoch mit der
Begründung verneint, der Beschwerdeführer habe bis Ende August 1975 seine
Schriften in Zürich eingelegt gehabt und er sei bis zu diesem Zeitpunkt
nur unregelmässig nach P. gekommen.

    Der Ort, wo eine Person ihre Schriften hinterlegt, kann lediglich ein
Indiz dafür sein, dass sie auch an diesem Ort ihren Wohnsitz im Sinne von
Art. 23 ZGB hat. Es schliesst dies nicht aus, dass sie in Wirklichkeit
an einem anderen Ort wohnt. Mit Recht hat daher die Vorinstanz dem
Umstand, dass der Beschwerdeführer die Schriften in Zürich eingelegt hat,
hinsichtlich des Wohnsitzes keine entscheidende Bedeutung beigemessen.

    Die Vorinstanz bemerkt sodann, es möge durchaus der Fall sein, dass
der Beschwerdeführer seit Januar 1975 im Hause seiner Mutter gewohnt
habe. Damit ist die gegenteilige Annahme der ersten Instanz aufgehoben
und die Frage offen gelassen, wo der Beschwerdeführer zur Zeit der Tat
seinen Wohnsitz gehabt hat.

    c) Die Vorinstanz hat den betreffenden Punkt deshalb nicht
abgeklärt, weil sie fand, Y. habe sich seit dem 10. Juli 1975 im
Kantonsspital befunden. Damit sei eine allfällige Hausgemeinschaft mit
dem Beschwerdeführer bereits anderthalb Monate vor der Tat aufgehoben
worden. Es stellt sich somit die Frage, ob ein krankheitsbedingter
Spitalaufenthalt die Familiengemeinschaft im Sinne von Art. 110 Ziff. 3
StGB aufhebt.

    Die Beantwortung der Frage hängt von den Umständen des Einzelfalles
ab. Ein Spitalaufenthalt kann Anlass dafür sein, dass der Erkrankte
die frühere Hausgemeinschaft aufhebt und den Willen bekundet, nicht
mehr an den früheren Ort zurückzukehren. Dass dem im vorliegenden Fall
so war, geht weder aus dem angefochtenen Urteil noch aus den Akten
hervor. Sollte Y. im Gegenteil seine Effekten im Hause der Mutter des
Beschwerdeführers gelassen und die Absicht gehabt haben, nach einer in
absehbarer Zeit zu erwartenden Spitalentlassung wieder in die dortige
Hausgemeinschaft zurückzukehren und wurde auch von den anderen im selben
Haushalt lebenden Personen die Hausgemeinschaft nicht aufgehoben, so
handelt es sich nur um eine vorübergehende Unterbrechung gemeinsamen
Wohnens, welche das Band der Familiengenossenschaft zwar während einer
bestimmten Zeit lockert, ohne es aber aufzuheben. Das ist anzunehmen,
wenn Möbel oder Effekten des kranken Hausgenossen in der Wohnung bleiben
mit der Absicht, die Hausgemeinschaft nach der krankheitsbedingten
Abwesenheit wenigstens vorübergehend fortzusetzen. In solchen Fällen
erscheint es nicht angezeigt, dass eine Strafverfolgung von Amtes wegen
eine Hausgemeinschaft gegen den Willen des Verletzten störe und einer
allenfalls vom Verletzten gewünschten Fortsetzung der Hausgemeinschaft
entgegenwirke. Es verhält sich hier nicht wesentlich anders als mit
Militärdienst, Ferien, Geschäftsreisen, beruflichen Kursen, welche das
unmittelbare Zusammenleben zwar vorübergehend unterbrechen, ohne aber
die Gemeinschaft als solche aufzulösen.

    d) Die Vorinstanz wird daher prüfen müssen, ob der Beschwerdeführer
und Y. während dessen Spitalaufenthalt Familiengenossen im Sinne der
angestellten Erwägungen geblieben sind. Sollte dies zutreffen, wäre die
Verurteilung wegen Veruntreuung mangels Strafantrages aufzuheben und die
Strafe neu zuzumessen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen,
der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückgewiesen.