Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 120



102 IV 120

30. Urteil des Kassationshofes vom 17. September 1976 i.S. R. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt. Regeste

    BRB über die Feststellung der Angetrunkenheit von Strassenbenützern.

    1. Art. 4 Abs. 3. Die Begutachtung des Ergebnisses der Blutanalyse
ist alternativ "in Zweifelsfällen" und "auf Verlangen des Verdächtigten"
vorgesehen (Erw. 1b).

    2. Art. 4 Abs. 4. Der Sachverständige hat seine Schlussfolgerungen
zu begründen (Erw. 1c).

    3. Art. 3 Abs. 1. Der Arzt hat nur die im Formular gemäss Anhang II
zum BRB verlangten medizinischen Feststellungen zu treffen (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- R. fuhr am 10. Juni 1975 um 19 Uhr zur Behandlung eines
Ischias-Syndroms von seinem Wohnort Bottmingen nach Bad Bellingen (BRD),
wo er sich bis 20.30 oder 21 Uhr im Thermalbad aufhielt. Anschliessend
kehrte er im ausserhalb von Bellingen gelegenen Restaurant "Schwanen" ein
und blieb dort bis 00.15 Uhr. Zwischen 22 und 22.30 Uhr trank er auf den
nüchternen Magen ein kleines Bier und ein Viertel Weissherbst. Darauf ass
er Spargeln mit Mayonnaise und als Dessert eine Omelette. Dazu trank er
zwei Viertel Weisswein und nach dem Dessert, um 23.40 Uhr, einen Kaffee
mit einem grossen Weinbrand. Um 00.15 Uhr verliess er das Restaurant
und diskutierte bis 00.40 Uhr vor diesem mit Kurgästen. Darauf setzte
er sich ans Steuer seines Wagens und fuhr nach Basel. Nachdem er dort
mit hoher Geschwindigkeit durch die Klybeckstrasse und von dieser mit
laut quietschenden Pneus rechts in die Dreirosenstrasse gefahren war,
seine Fahrt in Richtung Gross-Basel fortgesetzt hatte und dort auf
dem Luzernerring zwischen Flughafen- und Burgfelderstrasse abwechselnd
auf beiden Fahrspuren gefahren war, wurde er von der Polizei um 01.20
Uhr angehalten. Er roch nach Alkohol. Der um 01.35 Uhr durchgeführte
Atemlufttest ergab eine Blutalkohol-Konzentration von 0,8%o und die
Analyse der um 02.20 Uhr erhobenen Blutprobe durch den Gerichtschemiker
eine solche von 0,9%o. Der Gerichtsarzt errechnete für den Zeitpunkt
der inkriminierten Fahrt bei Annahme vollständiger Resorption des
genossenen Alkohols einen Blutalkoholwert von schätzungsweise 1,05%o,
entsprechend einer mittelgradigen Angetrunkenheit mit individuell je nach
Alkoholtoleranz verschieden starken Störungen.

    B.- Der Polizeigerichtspräsident von Basel-Stadt verurteilte R. wegen
Fahrens in angetrunkenem Zustand und vorschriftswidrigen Motorfahrens zu
10 Tagen Gefängnis.

    Das Appellationsgericht bestätigte am 12. Mai 1976 dieses Urteil,
wobei es den Antrag des R. auf Durchführung einer Oberexpertise über den
Grad der Angetrunkenheit ablehnte.

    C.- R. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Appellationsgerichts sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt hat sich innert Frist
nicht zur Beschwerde vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 4 Abs.  3 des
BRB vom 14. Februar 1968 über die Feststellung der Angetrunkenheit von
Strassenbenützern. Die Vorinstanz habe trotz seines Begehrens zum Ergebnis
der Blutanalyse kein Gutachten eingeholt. Der Bericht des Gerichtsarztes
sei nicht ein Gutachten.

    a) Im Anschluss an die Vorschriften, dass die Blutanalyse von einem
Institut vorgenommen werden muss, das die erforderlichen Einrichtungen
besitzt und für eine zuverlässige Untersuchung Gewähr bietet (Abs. 1), und
dass die Analyse nach zwei grundlegend verschiedenen Methoden zu erfolgen
hat und bei wesentlichem Abweichen der Resultate voneinander zu wiederholen
ist (Abs. 2), schreibt Art. 4 BRB in Absatz 3 vor, dass zum Ergebnis der
Blutanalyse auf Verlangen des Verdächtigten und in Zweifelsfällen das
Gutachten eines gerichtlich-medizinischen Sachverständigen einzuholen
sei. Da für den Richter einzig der Blutalkoholgehalt des Beschuldigten im
Zeitpunkt der Fahrt von Belang ist, ist "Ergebnis der Blutanalyse" nicht
allein das Resultat des chemischen oder physikalischen Trennungsverfahrens,
sondern auch dessen sachverständige Auswertung im Hinblick auf jenen
Zeitpunkt, d.h. eine allfällige Rückrechnung, denn sie gehört jenem
gerichtlich-medizinischen Wissensbereich an, für welchen das Gesetz den
Richter an den Fachmann verweist.

    b) Gemäss Art. 4 Abs. 3 BRB hat der Richter ein Gutachten einzuholen
"auf Verlangen des Verdächtigten und in Zweifelsfällen". Nach
dem Wortlaut der Bestimmung ist das Begehren des Beschuldigten ein
selbständiger Grund zur Einholung einer Expertise, der alternativ zu
den Zweifeln des Gerichtes gegeben sein kann und nicht nur zusammen
mit diesen, ansonst auch der Zweifel des Richters nicht genügen würde,
wenn ein Begehren des Beschuldigten fehlt. Für die dem Wortlaut folgende
Auslegung spricht auch die Entwicklungsgeschichte. Bei der Beratung
des Art. 55 Abs. 3 SVG unterrichtete der Vertreter des Bundesrates
den Nationalrat über die vorgesehenen Vollzugsvorschriften, denen
zufolge "auf Antrag des Beschuldigten... eine Kontrollanalyse,
eventuell in einem Labor nach Wahl des Beschuldigten durchgeführt"
werde (Sten.Bull. NR 1957 S. 219 oben). Nach einer Mitteilung des
Eidg. Justiz- und Polizeidepartements vom 26. August 1976 hatte denn
auch der erste Entwurf der Ausführungsvorschriften folgendes vorgesehen:
"Vom Ergebnis der Analyse ist dem Verdächtigten innert 5 Tagen seit der
Feststellung Kenntnis zu geben. Dieser kann innert 10 Tagen seit Erhalt
der Mitteilung eine Kontrolluntersuchung durch ein anerkanntes Institut
oder ein Laboratorium seiner Wahl verlangen".

    In der weiteren Bearbeitung des Entwurfs wurde auf die Fristen
verzichtet, am Grundsatz einer Begutachtung auf Begehren des Beschuldigten
aber festgehalten und dieses als selbständiger Grund dem Zweifel des
Gerichtes an die Seite gestellt. Der Gesetzgeber hat somit die Begutachtung
des Ergebnisses der Blutanalyse aus zwei alternativen Gründen vorgesehen,
mit der Folge, dass einem Begehren des Beschuldigten zu entsprechen
ist, auch wenn der Richter selber keine Zweifel an der Richtigkeit des
Ergebnisses hegt.

    c) Der Beschwerdeführer hat vor Appellationsgericht ein solches
Begehren gestellt, ohne damit gehört zu werden. Wohl war der sich in einem
Satz erschöpfende Untersuchungsbericht des Gerichtschemikers, der einen
Blutalkoholgehalt von 0,9%o verzeichnete, vom kantonalen Polizeidepartement
dem Gerichtsarzt zur Prüfung überwiesen worden. Dessen Bericht besteht
jedoch seinerseits bloss in drei Sätzen und gelangt zum Schluss, dass
"bei Annahme vollständiger Resorption des genossenen Alkohols" sich ein
Blutalkoholwert von schätzungsweise ungefähr 1,05%o ergebe, "entsprechend
der Annahme eines Zustandes mittelgradiger Angetrunkenheit mit individuell
je nach Alkoholtoleranz verschieden starken Störungen". Dieser Bericht
ist jedoch kein Gutachten im Sinne des Art. 4 BRB. Nach Absatz 4 dieses
Artikels hat nämlich der Sachverständige seine Schlussfolgerungen zu
begründen. Daran fehlt es hier. Wohl erklärt der Gerichtsarzt, dass
nach dem Polizeirapport die Blutentnahme eine Stunde nach dem kritischen
Zeitpunkt erfolgt sei, weshalb sich für die Zeit der Fahrt ein Wert von
1,05%o ergebe. Indessen legt er nicht dar, worauf er seine Annahme einer
vollständigen Resorption des genossenen Alkohols stützt. Da er aber diesem
Moment entscheidende Bedeutung beimisst, hätte er seine Annahme begründen
und überdies die Art der Rückrechnung erläutern müssen.

    Da der vom Gesetzgeber dem Beschuldigten gewährte Anspruch auf
gutachtliche Überprüfung des Ergebnisses der Blutanalyse sich seiner
Natur nach in den Rahmen des rechtlichen Gehörs im weiteren Sinne einfügt,
ist dem Begehren um Aufhebung des angefochtenen Urteils und Rückweisung
der Sache zur Einholung einer Expertise stattzugeben unbekümmert darum,
ob Aussicht besteht, dass die Behebung des Mangels zu einer sachlichen
Änderung des angefochtenen Urteils führen wird. Das Appellationsgericht
wird einen geeigneten Experten oder ein spezialisiertes Institut mit der
Begutachtung gemäss Art. 4 Abs. 3 BRB zu beauftragen haben. Insoweit ist
somit die Beschwerde gutzuheissen.

Erwägung 2

    2.- Dagegen ist sie offensichtlich unbegründet, soweit sie geltend
macht, der ärztliche Untersuchungsbericht enthalte entgegen Art. 3
BRB keine objektiven medizinischen Feststellungen betreffend die
Angetrunkenheit des Beschwerdeführers.

    Gemäss Art. 3 Abs. 1 BRB hat der mit der Blutentnahme beauftragte
Arzt zwar den Verdächtigten zusätzlich auf die medizinisch feststellbaren
Anzeichen von Angetrunkenheit zu untersuchen, die Untersuchung aber anhand
des Formulars gemäss Anhang II vorzunehmen. Er hat somit nicht irgendwelche
medizinischen Feststellungen zu treffen, sondern nur diejenigen, die
im genannten Formular verlangt werden. Das aber ist geschehen; einmal
entspricht das verwendete Formular in allen Teilen dem im Anhang II zum
BRB vorgesehenen (SR 741, 172), und zum andern hat der Arzt alle darin
gestellten Fragen pflichtgemäss beantwortet, was der Verteidiger hätte
erkennen können.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen teilweise
gutgeheissen, das Urteil des Appellationsgerichts-Ausschusses des Kantons
Basel-Stadt vom 12. Mai 1976 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.