Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 113



102 IV 113

28. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1976 i.S. H. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 35 Abs. 2 SVG.

    Wer hinter einem Fahrzeug nach links ausschert, um vorerst zu
prüfen, ob überholt werden könne, hat dadurch mit dem Überholen noch
nicht begonnen.

Sachverhalt

    A.- Am Nachmittag des 1. April 1975 fuhr H. mit einem Personenwagen
(Ford Capri) in einer Kolonne von Klosters nach Küblis. Zu Beginn der
geraden Strecke vor der ersten Rechtskurve am Gruoben-Stutz begann er
hinter einem langsam fahrenden VW nach links auszuscheren und setzte zum
Überholen dieses Fahrzeugs an, nachdem er festgestellt hatte, dass das vor
ihm liegende Strassenstück bis in die Rechtskurve hinein frei war. Vor
der Rechtsbiegung bog er wieder in die rechte Fahrbahn ein und konnte
das Überholmanöver noch im überblickbaren Bereich der Kurve beenden,
ohne dass ein Fahrzeug aus der Gegenrichtung auftauchte.

    H. wurde von der Polizei, die weiter hinten in der Kolonne den Verkehr
überwachte, in Küblis angehalten, weil er vor einer unübersichtlichen
Rechtskurve überholt habe. Dabei stellte sich heraus, dass er weder einen
Führer- noch Fahrzeugausweis bei sich hatte.

    B.- Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden verurteilte H. am 12.
Dezember 1975 wegen Verletzung der Art. 35 Abs. 2 und 99 Ziff. 3 SVG zu
einer Busse von Fr. 90.--.

    C.- H. erhebt Einspruch gegen dieses Urteil und beantragt Freispruch.

    D.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Entgegen der Auffassung der Vorinstanz übt der Beschwerdeführer
nicht nur Kritik am festgestellten Sachverhalt, auf die nicht eingetreten
werden kann (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Er bestreitet ausserdem
den Vorwurf des unerlaubten Überholens, namentlich die Annahme der
Vorinstanz, er habe vor dem Beginn des Überholens keine freie Sicht auf
die benötigte Überholstrecke gehabt. Damit macht der Beschwerdeführer
geltend, die Vorinstanz habe Art. 35 Abs. 2 SVG unrichtig angewendet, also
Bundesrecht verletzt. Das genügt im vorliegenden Fall zur Begründung der
Nichtigkeitsbeschwerde. Auf die Eingabe, mit der sinngemäss die Aufhebung
und Rückweisung zur Freisprechung im angefochtenen Punkt verlangt wird,
ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz geht davon aus, der Beschwerdeführer habe nur
überholen dürfen, wenn er im Zeitpunkt der Einleitung des Überholmanövers
habe annehmen dürfen, dass die ganze Überholstrecke übersichtlich und
frei sei. Nach seinen Aussagen vor der Polizei habe er aber erst auf der
linken Strassenseite gesehen, dass die Strecke bis in die Rechtskurve
hinein von Gegenverkehr frei sei. Damit habe er zugegeben, dass er
bei Beginn des Überholens, nämlich vor dem Ausschwenken, nicht in der
Lage gewesen sei abzuschätzen, ob er das Überholen rechtzeitig und ohne
Behinderung anderer Fahrzeuge werde beenden können. Somit habe er gegen
die Vorschrift des Art. 35 Abs. 2 SVG verstossen und sich strafbar gemacht.

    Diese Rechtsauffassung der Vorinstanz ist nicht haltbar. Sehr oft
kann der Fahrzeugführer, der hinter einem andern Wagen fährt, von seiner
Stellung aus noch nicht zuverlässig beurteilen, ob der Vorderwagen überholt
werden kann und darf. Nach ständiger Rechtsprechung ist auf Strecken
ohne Überholverbot darum erlaubt, sich dem vorausfahrenden Fahrzeug zu
nähern und sodann auf die linke Strassenseite auszuscheren, um die zum
Überholen benötigte Strecke überblicken und sich entschliessen zu können,
ob mit dem Überholen begonnen oder auf das Unternehmen verzichtet werden
soll. Durch die blosse Abklärung der Sicht- und Verkehrsverhältnisse wird
das eigentliche Überholen erst vorbereitet, aber noch nicht begonnen. Der
Umstand allein, dass der Beschwerdeführer nicht schon auf der rechten
Fahrbahn, sondern erst nach dem Ausschwenken auf die linke Fahrspur
sich vergewissern konnte, dass der Überholweg frei sei, stellt daher
keinen Verstoss gegen Art. 35 Abs. 2 SVG dar, wo vorausgesetzt wird,
dass mit dem Überholen begonnen worden ist. Dass der Beschwerdeführer
beim Überholen eine andere Verkehrsregel verletzt hätte, wird auch von
der Vorinstanz nicht angenommen.

    Das angefochtene Urteil ist somit aufzuheben. Die Vorinstanz hat
den Beschwerdeführer vom Vorwurf der Übertretung des Art. 35 Abs. 2 SVG
freizusprechen und die Busse für die nicht angefochtene Widerhandlung
gegen Art. 99 Ziff. 3 SVG (Nichtmitführen der erforderlichen Ausweise)
neu festzusetzen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 12. Dezember 1975 aufgehoben
und die Sache zum Freispruch vom Vorwurf der Verletzung des Art. 35 SVG
und zur Neufestsetzung der Busse wegen Nichtmitführens von Ausweisen
zurückgewiesen.